Samstag, 25. Januar 2025

BID: Wenn der Körper nicht zum "Ich" passt

Wie fühlt es sich an, wenn ein Körperteil "nicht dazugehört"? Wenn ein Bein, ein Arm oder eine Brust nicht als Teil der eigenen Identität empfunden wird, sondern als etwas Fremdes? Was bizarr klingen mag, beschreibt das Erleben von Menschen mit Körperintegritätsidentitätsstörung (Body Integrity Dysphoria; BID). Die Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Sigrid Lorz von der Universität Greifswald hat sich in einem kürzlich erschienenen Beitrag in der juristischen Fachzeitschrift 'Medizinrecht' mit den medizinrechtlichen Aspekten der Behandlung von BID befasst [1]. Ihre Arbeit bietet Anlass, über die Grenzen zwischen psychischer und körperlicher Identität nachzudenken.

Wenn das Bein nicht zum Körper gehört

Bei der Body Integrity Dysphoria stimmt das eigene Körperbild nicht mit der tatsächlichen körperlichen Realität überein. Betroffene empfinden bestimmte Körperteile – meist Beine oder Arme – als "nicht zugehörig" und verspüren ein anhaltendes Verlangen, sie entfernen oder funktionsunfähig machen zu lassen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt BID seit der ICD-11 als eigenständige psychische Störung (Code 6C21) [2]. Das zentrale Symptom: Ein intensives und persistentes Verlangen, eine erhebliche körperliche Behinderung (z. B. Amputation, Lähmung, Blindheit) zu erlangen, verbunden mit Leidensdruck und sozialer Beeinträchtigung.

Die Ursachen sind bislang nicht abschließend geklärt. Studien deuten auf neurobiologische Besonderheiten in bestimmten Gehirnarealen hin, die möglicherweise mit der Körperwahrnehmung verknüpft sind [3]. Gleichwohl ist BID keine Wahn- oder Zwangsstörung – die Betroffenen wissen in der Regel genau, was sie empfinden, und treffen ihre Entscheidungen reflektiert und autonom.

Therapie und ethische Fragen

Lorz betont in ihrem Beitrag, dass es bisher keine wissenschaftlich anerkannte Standardtherapie für BID gibt. Weder Psychopharmaka noch Psychotherapie zeigen bislang verlässlich eine Linderung des Leidensdrucks. In Einzelfällen kann eine Amputation tatsächlich zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensqualität führen – eine Erkenntnis, die medizinethisch herausfordert. Ist die Entfernung eines gesunden Körperteils jemals vertretbar? Lorz argumentiert: Ja, unter bestimmten Voraussetzungen. Eine Amputation kann als individueller Heilversuch verstanden werden, wenn sie dem Ziel dient, den massiven Leidensdruck zu beseitigen und der Patient voll einwilligungsfähig ist. Sie stellt dann keine "Wunschamputation", sondern einen Heileingriff dar. Entscheidend ist dabei eine offene, interdisziplinäre Entscheidungsfindung zwischen Psychiatrie, Psychotherapie und Chirurgie.

Parallelen und Unterschiede zur Geschlechtsdysphorie

Im Kontext der Sexualbiologie drängen sich Parallelen zur Geschlechtsdysphorie auf. Auch hier erleben Betroffene eine Diskrepanz zwischen körperlicher Realität und innerem Selbstbild. Doch trotz ähnlicher Strukturelemente handelt es sich um unterschiedliche Störungsbilder. Während sich Geschlechtsdysphorie auf das Geschlechtsidentitätserleben bezieht und in der Regel auf einen als stimmig empfundenen Körperzustand im anderen Geschlecht zielt, richtet sich das Erleben bei BID auf den Verlust oder die Inaktivierung eines bestimmten Körperteils. Wichtig ist bei vermeintlichen "Trans-Patienten" daher eine ergebnisoffene Diagnostik, die alle Richtungen berücksichtigt. Nicht jede Abneigung von körperlichen Geschlechtsmerkmalen bedeutet automatisch Transidentität. In einigen Fällen kann stattdessen eine BID vorliegen, die sich auf Geschlechtsmerkmale wie Brüste oder Genitalien bezieht. Eine voreilige Einordnung als transgeschlechtlich kann hier zu Fehldiagnosen führen und den individuellen Leidensweg verlängern.

Fazit

Die Arbeit von Sigrid Lorz macht deutlich, wie komplex die Beziehung zwischen Körper und Identität ist. BID fordert die Medizin heraus, über konventionelle Grenzen zwischen Psyche und Physis, zwischen Heilung und Selbstbestimmung, zwischen sozialer Norm und individuellem Wohl hinauszudenken. Für die Praxis bedeutet das, dass nur eine offene, multidisziplinäre Diagnostik frei von Vorannahmen sicherstellen kann, dass Betroffene mit Körperidentitätskonflikten die richtige Unterstützung erhalten. Und sie erinnert uns daran, dass das Ziel medizinischer Behandlung nie darin besteht, gesellschaftliche Normen zu bestätigen, sondern individuelles Leid zu lindern.

Quellen

[1] Lorz, S. Wenn das Bein nicht zum Körper gehört: medizinrechtliche Überlegungen zur Behandlung von Body Integrity Dysphoria. MedR 43, 13–19 (2025). https://doi.org/10.1007/s00350-024-6930-5


[3] Gianluca Saetta, Jürgen Hänggi, Martina Gandola, Laura Zapparoli, Gerardo Salvato, Manuela Berlingeri, Maurizio Sberna, Eraldo Paulesu, Gabriella Bottini, Peter Brugger, Neural Correlates of Body Integrity Dysphoria, Current Biology, Volume 30, Issue 11, 2020, Pages 2191-2195.e3, ISSN 0960-9822, https://doi.org/10.1016/j.cub.2020.04.001.

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