Mittwoch, 12. November 2025

Schweiz: Knast, weil es nur männliche oder weibliche Skelette gibt?

Gestern berichtete das Online-Magazin Apollo News: Schweizer muss zehn Tage in Haft, weil er schrieb, dass Skelette nur männlich oder weiblich seien

Eine Schlagzeile, die Empörung auslöst und den Eindruck erweckt, jemand werde in der Schweiz bestraft, weil er eine biologische Tatsache ausgesprochen habe. Doch dieser Eindruck ist irreführend. Der zugrunde liegende Fall betrifft nicht die Sexualbiologie, sondern eine strafrechtlich relevante Herabsetzung einer gesellschaftlichen Minderheit.

Hintergrund

Im Dezember 2022 kommentierte der Burgdorfer Emanuel Brünisholz auf Facebook einen Beitrag des SVP-Nationalrats Andreas Glarner. Unter dem Post schrieb er "Wenn man die LGBTQI nach 200 Jahren ausgräbt, wird man anhand der Skelette nur Mann und Frau finden" und fügte an, dass "alles andere eine psychische Krankheit sei, die durch den Lehrplan hochgezogen wurde". Mehrere Personen erstatteten daraufhin Anzeige wegen Diskriminierung. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren ein, und nach einer Einvernahme durch die Kantonspolizei Bern erließ sie einen Strafbefehl wegen "Diskriminierung und Aufruf zu Hass".

Brünisholz erhielt eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 50 Franken auf Bewährung sowie eine zusätzliche Buße von 500 Franken. Gegen diesen Strafbefehl erhob er Einspruch, das Regionalgericht Emmental-Oberaargau bestätigte das Urteil jedoch im Dezember 2023. Es sah in der Äußerung eine Diskriminierung und Herabwürdigung aufgrund "sexueller Orientierung" – also einen Verstoß gegen Artikel 261bis des Schweizer Strafgesetzbuches. Da Brünisholz die Buße nicht bezahlte, wurde schließlich eine zehntägige Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet, die er nun antreten soll.

Was die Sexualbiologie tatsächlich sagt

Tatsächlich enthält der Facebook-Kommentar eine biologische Komponente, die zunächst banal klingt: Wenn man nach 200 Jahren Skelette ausgräbt, wird man nur Mann und Frau finden. Diese Aussage wird in der Schlagzeile von Apollo News als der Kern des Konflikts dargestellt, was nicht nur juristisch falsch ist, sondern auch wissenschaftlich irreführend. Denn so eindeutig, wie es klingt, ist die Sache selbst aus sexualbiologischer und anthropologischer Sicht nicht.

In der osteologischen Anthropologie, also der Wissenschaft, die anhand von Skelettmerkmalen das biologische Geschlecht bestimmt, gilt: Es gibt keine dritte Skeletteigenschaft jenseits männlich oder weiblich. Das Geschlecht ist binär ausgeprägt, da es sich aus den zwei Fortpflanzungsrollen ergibt, die darüber definiert sind, welchen Typus von Sexualzellen (Gameten) ein Organismus potenziell produziert. Dieser Fakt ist unstrittig. Allerdings ist der menschliche Sexualdimorphismus – also die körperliche Unterschiedlichkeit zwischen den Geschlechtern – statistisch überlappend.
 
Osteologischer Geschlechtsdimorphismus am Beispiel des menschlichen Beckens.
Quelle: Henry Gray's Anatomy of the Human Body (20th ed.; Lea & Febiger, 1918)

Es gibt Merkmale, die typisch männlich oder typisch weiblich sind (z. B. Beckenform, Schädelstrukturen, Muskelansatzspuren) [1]. Zwischen den beiden Ausprägungen existiert aber ein Überlappungsbereich, in dem eine eindeutige Zuordnung anhand der Knochen schwierig oder unsicher ist. Deshalb arbeiten Forensiker und Anthropologen in der Regel mit fünf Bestimmungskategorien [2]:
  • Weiblich
  • Wahrscheinlich weiblich
  • Unbestimmbar / neutral
  • Wahrscheinlich männlich
  • Männlich 
Moderne Ansätze wie z. B. die FORDISC-Software liefern zudem Wahrscheinlichkeitswerte, die diese Kategorien unterstützen.

Auch wenn jedes Individuum biologisch entweder männlich oder weiblich war, lässt sich dies zwar in den meisten Fällen (anhand intakter Schädel etwa mit 80-90 %iger Sicherheit [3][4]), aber eben nicht immer mit absoluter Gewissheit an den Knochen erkennen – insbesondere nach Jahrhunderten oder bei unvollständigen Skeletten [5]. Und was sich ohnehin nicht aus Skeletten ablesen lässt, sind kulturelle Geschlechterrollen oder soziale Identitäten. Ob jemand in seiner Gesellschaft als Mann, Frau oder anders wahrgenommen wurde, bleibt eine Frage der Kultur, nicht der Knochen. Die Aussage, man werde immer nur männliche oder weibliche Skelette finden, ist also im Grundsatz richtig, aber in der Formulierung zu absolut. Fachlich korrekter wäre: In der Regel können Skelette einem der beiden Geschlechter zugeordnet werden; bei manchen Funden bleibt die Bestimmung unklar.

Solche Differenzierungen sind Alltag in der Anthropologie und selbstverständlich kein Gegenstand strafrechtlicher Auseinandersetzungen.

Biologie ≠ Diskriminierung

Wichtig ist also die Unterscheidung zwischen biologischer Feststellung und gesellschaftlicher Wertung. Die Biologie beschreibt Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern; das Strafrecht sanktioniert, wenn jemand Menschen abwertet. Brünisholz’ Kommentar verband die biologisch korrekte Feststellung (Skelette sind entweder männlich oder weiblich) mit einer abwertenden Bewertung ("alles andere ist eine psychische Krankheit"). Diese zweite Hälfte – die Pathologisierung von LGB(TQI)-Menschen – war der Grund für die Verurteilung. Wer also behauptet, in der Schweiz werde man "für Biologie eingesperrt", verdreht den Sachverhalt und instrumentalisiert Wissenschaft für politische Zwecke.
 
Der Artikel von Apollo News illustriert ein verbreitetes Phänomen: Wissenschaftliche Begriffe werden in der öffentlichen Debatte verkürzt und mit ideologischen Bedeutungen aufgeladen. Eine sachlich richtige, aber unvollständige Information (hier die Aussagen zum osteologischen Geschlechtsdimorphismus) wird aus ihrem Kontext gerissen, um eine kulturpolitische Empörungswelle zu erzeugen. Dabei wäre es gerade in der heutigen Zeit wichtig, zwischen biologischer Realität und ethischer Verantwortung klar zu unterscheiden. Biologische Fakten sind nicht politisch, aber ihre Instrumentalisierung kann es sehr wohl sein. In dieser Hinsicht stehen sich die selbsternannt "Woken" und ihre lautesten Gegner kaum nach – beide nutzen Biologie oft als ideologisches statt als wissenschaftliches Werkzeug.
 

Zur juristischen Problematik des Begriffs "queer"

Sicherlich ist es fragwürdig, wenn Meinungsäußerungen über eine nicht quantifizierbare Personengruppe wie die sogenannte "queere Community" überhaupt zu derartigen Strafprozessen führen. Lesben (L), Schwule (G), "Bisexuelle" (B), Transgender (T) und "Intersexuelle" (I) sind als Gruppen aufgrund typischer Merkmale und Eigenschaften klar definierbar und als Minderheiten erkennbar. Schwieriger wird es beim "Q“, also "queer". Der Begriff ist konzeptionell offener und kein fest umrissenes Merkmal, sondern eine Selbstbeschreibung, die im Grunde jeder für sich wählen kann. Er ist fluid, kontextabhängig und häufig politisch oder identitätstheoretisch aufgeladen, nicht biologisch oder medizinisch definiert. Wenn jedoch eine Gruppe so offen definiert ist, dass sie im Prinzip jede Person einschließen kann, stellt sich die Frage, ob eine pauschale, kritische oder gar abwertende Aussage über "queere Menschen" überhaupt juristisch als Diskriminierung einer konkreten Minderheit gewertet werden kann. Wenn eine Kategorie so weit gefasst ist, dass sie potenziell alle oder niemanden umfasst, wird die Anwendung von Strafnormen wegen Diskriminierung problematisch. 
 
Hinzu kommt, dass das "Q" inzwischen oft auch für "questioning" steht – also für Menschen, die ihre "sexuelle Orientierung" oder Geschlechtsidentität gerade hinterfragen. Auch diese Erweiterung macht den Begriff nicht klarer, sondern noch diffuser: "Questioning" beschreibt keinen stabilen Personenstatus, sondern einen vorübergehenden Prozess, den theoretisch jeder Mensch in irgendeiner Lebensphase durchlaufen kann. Die Umdeutung oder Vermischung von "queer" und "questioning" führt daher dazu, dass "queer" erneut zu einem Maximalbegriff wird, unter dem sich praktisch jede Form von Nicht-Eindeutigkeit oder Selbstsuche einordnen lässt. Damit wird die Gruppe, die angeblich geschützt oder adressiert wird, noch weniger abgrenzbar – was die strafrechtliche Einordnung weiter erschwert. 
 
Das Strafrecht verlangt, dass eine konkrete, bestimmbare Gruppe betroffen ist, deren Schutzbedürfnis erkennbar ist. Eine pauschale Kritik an einer ideologischen oder politischen Strömung (z. B. "die queere Bewegung" oder "die Queer-Theorie" in schulischen Lehrplänen) ist also nicht automatisch eine strafbare Diskriminierung, solange sie nicht auf die Herabwürdigung realer Menschen zielt. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Meinungsäußerung über gesellschaftliche Konzepte und Herabsetzung realer Personen.
 
Entscheidend ist jedoch, dass der verurteilte Brünisholz nicht verurteilt wurde, weil er über biologische Tatsachen schrieb oder ein gesellschaftliches Konzept kritisierte, sondern weil er u. a. LGB-Personen und damit Personen aufgrund ihrer "sexuellen Orientierung" pauschal als "psychisch krank" bezeichnete. Der rechtlich relevante Punkt war somit nicht die Feststellung über männliche und weibliche Skelette oder Kritik an "queeren" Ideologien, sondern die persönliche Abwertung einer klar abgrenzbaren gesellschaftlichen Minderheit. Diese stellt einen Straftatbestand dar, was man aus radikal-liberaler Sicht zwar durchaus kritisch betrachten kann, denn Meinungsdelikte dürfte es in einem freiheitlichen Rechtsstaat eigentlich gar nicht geben. Nur totalitäre Regimes verbieten Worte. Aber solange die Rechtslage nicht vom Totalitarismus befreit wurde, muss man sich diesem beugen. Die Haftstrafe ergibt sich zudem nicht aus einer Meinungsäußerung an sich, sondern aus der Nichtzahlung der rechtskräftig verhängten Buße.

Fazit

Die Sexualbiologie steht nicht vor Gericht – wohl aber die Art, wie mit ihr argumentiert wird. Wäre die bloße Aussage, dass es nur männliche oder weibliche Skelette gibt, tatsächlich der Aufhänger eines Strafverfahrens, wären wir die ersten, die sich mit dem "Täter" solidarisieren. Der Fall Brünisholz zeigt jedoch nicht etwa, dass man in der Schweiz für biologische Tatsachen bestraft wird, sondern dass das Recht dort greift, wo öffentliche Äußerungen die Würde anderer Menschen verletzen. 
 
Gleichzeitig erinnert der Fall daran, dass Biologie differenziert betrachtet werden muss: Ja, es gibt nur zwei biologische Geschlechter, aber deren Bestimmung anhand von Merkmalen abseits der Gameten ist – insbesondere an Skeletten – in der Praxis probabilistisch und sagt nichts über individuelle Lebensentwürfe aus.

Quellen

[1] Henry Gray's Anatomy of the Human Body (20th ed.; Lea & Febiger, 1918)

[2] Beck, L.A. (1995), Standards for data collection from human skeletal remains. Edited by Jane E. Buikstra and Douglas H. Ubelaker. 272 pp. Fayetteville: Arkansas Archeological Survey Research Series No. 44, 1994. $25.00 (paper). Am. J. Hum. Biol., 7: 672-672. https://doi.org/10.1002/ajhb.1310070519

[3] Spradley, M.K. and Jantz, R.L. (2011), Sex Estimation in Forensic Anthropology: Skull Versus Postcranial Elements. Journal of Forensic Sciences, 56: 289-296. https://doi.org/10.1111/j.1556-4029.2010.01635.x

[4] Williams, B.A. and Rogers, T.L. (2006), Evaluating the Accuracy and Precision of Cranial Morphological Traits for Sex Determination. Journal of Forensic Sciences, 51: 729-735. https://doi.org/10.1111/j.1556-4029.2006.00177.x

[5] Spradley MK. Metric Methods for the Biological Profile in Forensic Anthropology: Sex, Ancestry, and Stature. Academic Forensic Pathology. 2016;6(3):391-399. doi:10.23907/2016.040

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