Der John/Joan-Fall

Der sogenannte "John/Joan-Fall" ist einer der bekanntesten und gleichzeitig tragischsten Fälle der Sexual- und Geschlechtsforschung des 20. Jahrhunderts. Er wirft fundamentale Fragen zu Geschlechtsidentität, Ethik in der Medizin und der Rolle von Wissenschaftlern im Leben Einzelner auf. Ursprünglich als bahnbrechender Beleg für die soziale Formbarkeit von Geschlecht gefeiert, gilt der Fall heute als mahnendes Beispiel für die Grenzen solcher Hypothesen und als deutliche Warnung vor medizinischen Experimenten mit ideologischer Schlagseite.

John Money: Pionier mit Schattenseiten

John Money (1921-2006) war ein neuseeländisch-amerikanischer Psychologe und selbsternannter "Sexologe", der ab den 1950er-Jahren in den USA wirkte. An der Johns Hopkins University in Baltimore gründete er die sogenannte Gender Identity Clinic, die sich unter anderem der Erforschung und Behandlung von "Intersexualität" sowie geschlechtsangleichenden Maßnahmen widmete [1]. Money war einer der ersten, der das Konzept einer klaren Trennung zwischen "biologischem Geschlecht" (Sex) und "sozialem Geschlecht" (Gender) etablierte (zur Begriffsbestimmung des Gender-Begriffes in der Biologie siehe hier). Er war maßgeblich daran beteiligt, die bis dahin vor allem biologisch verstandene Kategorie "Geschlecht" in mehrere differenzierte Unterkategorien zu gliedern. Neben dem "biologischen" Geschlecht (anthropozentrisch definiert über chromosomale, gonadale und anatomische Merkmale) führte er insbesondere den Begriff der "Gender Identity" (Geschlechtsidentität) ein, also das innere Erleben und die subjektive Identifikation mit einem Geschlecht. Ergänzend definierte Money noch die "Gender Role" (Geschlechterrolle) als das äußere Verhalten und die sozialen Erwartungen, die an eine Person aufgrund ihres angenommenen Geschlechts gestellt werden.

Diese Unterscheidung sollte helfen, Variationen geschlechtlicher Ausprägung und Identität besser zu verstehen und zu behandeln. Anzumerken ist, dass Money im Laufe der Jahre seine Definitionen der Geschlechtsunterkategorien mehrfach änderte und die Begriffe oft in komplexen, verschachtelten Sätzen synonym oder inkonsistent verwendete [2]. Diese uneinheitliche Terminologie lässt sein Konzept weniger als stringentes Modell erscheinen, sondern vielmehr als ein unzureichend ausgearbeitetes und dadurch fragwürdiges Konstrukt. Moneys Modell basierte stark auf der Annahme, dass die "Gender Identity" in den ersten Lebensjahren durch Sozialisation und Erziehung formbar sei – eine Annahme, die er bald in einem einzigartigen Experiment glaubte beweisen zu können.

Der Unfall: Eine fatale Fehlentscheidung

1966 wurden die kanadischen Zwillingsbrüder Bruce und Brian Reimer im Alter von acht Monaten wegen einer Phimose (Vorhautverengung) beschnitten. Dabei kam es bei Bruce zu einem katastrophalen medizinischen Fehler. Die Beschneidung wurde nicht mit dem Skalpell, sondern mit einem Elektrokauter durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass sein Penis vollständig zerstört wurde. Die Eltern waren verzweifelt. Konventionelle Wiederherstellungsmöglichkeiten fehlten und die Zukunft des Jungen schien aussichtslos.

Einige Monate später sahen die Eltern der Reimer-Zwillinge ein Fernsehinterview mit John Money, in dem er seine Erfolge in der Geschlechtsangleichung sogenannter "intersexueller" Kinder beschrieb. Sie nahmen Kontakt zu ihm auf. Money erkannte sofort die Gelegenheit: Zwei eineiige und damit genetisch identische Zwillingsbrüder, aber einer davon ohne Penis. Für Money war das ein "Geschenk der Natur", ein quasi-experimentelles Setting, um seine Hypothese der Geschlechtsprägung zu testen. Er überzeugte die Eltern, Bruce im Alter von 22 Monaten einer operativen Entfernung der Hoden zu unterziehen und ihn fortan als Mädchen namens "Brenda" zu erziehen. Der Zwillingsbruder Brian blieb ein "normaler" Junge und diente als unbewusstes Kontrollsubjekt Moneys.

Eine widerstrebende "Brenda"

Trotz der frühen Umstellung der Geschlechtsrolle zeigte "Brenda" von klein auf ein Verhalten, das sich stark von dem anderer Mädchen unterschied. Das Kind bevorzugte "Jungenspielzeug", weigerte sich, Röcke zu tragen und zeigte großes Unbehagen gegenüber der weiblichen Rolle. In der Schule wurde "sie" gemobbt, als "anders" wahrgenommen und entwickelte ein zunehmend aggressives und depressives Verhalten. Die Versuche der Eltern, "Brenda" zu einem "richtigen Mädchen" zu erziehen, scheiterten wiederholt an ihrem inneren Widerstand.

Sexualisierte Rollenspiele in der Klinik

John Money führte regelmäßige Sitzungen mit den Zwillingen durch, in denen er ihr Verhalten und ihre Geschlechtsidentität dokumentierte. Diese Treffen nahmen jedoch einen zunehmend verstörenden Charakter an. In sogenannten Sexual Rehearsal Play-Übungen forderte er die Kinder auf, Geschlechtsakte nachzustellen, wobei Brian den eindringenden und "Brenda" den empfangenden Part spielen sollte. Dies wurde von Money als "therapeutisch" deklariert, um angeblich die Entwicklung der Geschlechtsidentität zu fördern. Diese pseudowissenschaftlichen Praktiken wurden später als hochgradig traumatisierend beschrieben und gelten heute als ethisch unhaltbar. Trotzdem veröffentlichte Money in Fachzeitschriften und Büchern über Jahre hinweg Berichte über den angeblich erfolgreichen Fall einer geglückten Geschlechtsumwandlung durch frühe Sozialisation [3][4].

Im Lichte dieser Ereignisse wirken Moneys Überlegungen zur kindlichen "Sexualität" (aus biologischer Sicht bereits vom Begriff her falsch, weil Kinder vor der Geschlechtsreife noch keine funktionalen Sexualzellen produzieren und ihnen deshalb definitionsgemäß keine Sexualität innewohnt) noch problematischer. In mehreren seiner späteren Schriften befasste er sich mit sogenannten "paraphilen Mustern", darunter auch mit dem Thema Pädophilie [5][6]. Dabei vertrat er eine Position, die aus heutiger Sicht als ethisch nicht tragbar gilt: Unter bestimmten Umständen (etwa wenn kein Zwang oder "Trauma" vorliege) könnten erotische Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern, so seine Formulierung, nicht notwendigerweise schädlich sein. In vereinzelten Fällen beschrieb er solche Beziehungen sogar als Ausdruck einer "übersteigerten elterlichen Zuneigung".

Diese Positionen wurden schon zu Moneys Lebzeiten von vielen Fachleuten scharf kritisiert, insbesondere von Psychologen, Kriminologen und Kinderschutzorganisationen. Heute gelten seine Äußerungen in diesem Bereich als eklatanter ethischer Fehltritt, der seinem wissenschaftlichen Ansehen massiv geschadet hat. Auch im Rückblick auf den John/Joan-Fall werfen Moneys Aussagen zur Pädophilie zusätzliches Licht auf seine problematische Haltung gegenüber sexualisierter Gewalt und Grenzen im Umgang mit Kindern.

Verzweiflung und Therapieabbruch

Als "Brenda" etwa 13 Jahre alt war, erreichte "ihre" Ablehnung gegenüber den Behandlungen und Moneys Sitzungen einen dramatischen Höhepunkt. Nach eigenen Angaben drohte "sie", sich vom Dach der Klinik zu stürzen, sollte "sie" nochmals dorthin gebracht werden. Die Eltern zogen schließlich die Notbremse. Die Therapie bei John Money wurde abgebrochen und "Brenda" wurde aus seiner Obhut entlassen. Die Reimer-Familie hatte bis dahin jahrelang unter Druck gestanden, Moneys Protokoll zu folgen, aus Angst, das Experiment könnte misslingen.

"Brenda" wird zu David

Mit 14 Jahren offenbarten die Eltern ihrem Kind die Wahrheit seiner Vergangenheit. Die Reaktion war ein Schock, aber auch eine Art Erlösung. "Brenda", die sich nie als Mädchen gefühlt hatte, begann nun, wieder als Junge zu leben und nannte sich fortan David. Er unterzog sich mehreren Operationen, darunter eine Mastektomie und die Rekonstruktion eines Penoids. Es begann ein mühsamer Weg zurück in die männliche Identität, der von psychischen Problemen, aber auch einer gewissen Erleichterung, begleitet war, endlich er selbst sein zu dürfen [7].

David heiratete später und wurde Stiefvater der Kinder seiner Frau. Doch die seelischen Wunden blieben. Sein Zwillingsbruder Brian entwickelte psychotische Symptome und beging 2002 Selbstmord nach einer Medikamentenüberdosis. Wenig später trennte sich auch Davids Ehefrau von ihm. Zwei Tage danach – im Mai 2004 – nahm sich David Reimer im Alter von 38 Jahren mit einer abgesägten Schrotflinte das Leben [8]. Sein Leben endete so tragisch, wie es früh durch eine fehlerhafte medizinische Ideologie deformiert worden war.

Wissenschaftliche Aufarbeitung und Kritik

Der John/Joan-Fall wäre wohl nie öffentlich bekannt geworden, hätte nicht der Biologe und Sexualwissenschaftler Milton Diamond den Fall erneut untersucht und 1997 in Zusammenarbeit mit David Reimers Psychologen H. Keith Sigmundson publik gemacht [9]. Diamond war bereits zuvor ein langjähriger Kritiker von Moneys Thesen und konnte mit dem Fall zeigen, dass angeborene biologische Faktoren bei der Prägung der Geschlechtsidentität eine zentrale Rolle spielen. Davids Geschichte wurde so zum Beweis gegen die Hypothese einer vollständigen sozialen Formbarkeit von "Geschlecht". Der Fall erschütterte das Vertrauen in Moneys Arbeit nachhaltig. Viele seiner Studien gelten heute als wissenschaftlich fragwürdig, wenn nicht gar manipulativ.

Besonders problematisch ist dabei, dass John Money den Fall über Jahre hinweg in Fachpublikationen als Erfolg seiner Behandlungsmethode darstellte. Dabei war ihm bereits bekannt, dass "Brenda" erhebliche psychische Probleme entwickelte und sich zunehmend gegen die weibliche Rolle wehrte. Doch auch nachdem bereits ernsthafte Probleme bekannt waren, hielt Money in Fachkreisen an der Erfolgserzählung fest. Er korrigierte sich nie öffentlich, auch nicht nach Davids Suizid. Seine wissenschaftlichen Berichte blieben bis zuletzt widersprüchlich, geschönt und ohne kritische Reflexion der realen Folgen seines Handelns.

Anhaltende Hypothese trotz widerlegter Praxis

Obwohl die sexualbiologische Forschung (insbesondere durch Milton Diamond und spätere neurobiologische Studien) klar gezeigt hat, dass die Geschlechtsidentität nicht beliebig sozialisierbar ist, wird die entgegengesetzte These bis heute in Teilen der Sozial- und Kulturwissenschaften vertreten. Besonders einflussreich ist hier die Position der sogenannten "Queer-Theorie", deren prominenteste Vertreterin Judith Butler den John/Joan-Fall in ihren Arbeiten mehrfach aufgreift. In Werken wie "Gender Trouble" (1990) oder "Bodies That Matter" (1993) interpretiert Butler die Geschichte von David Reimer jedoch nicht als tragisches Scheitern einer Hypothese, sondern vielmehr als Beleg für die Gewalt, mit der Geschlecht überhaupt erst durch soziale Normen und performative Wiederholung "erzeugt" wird [10][11]. Ein fulminanter Zirkelschluss.

Statt Moneys medizinische Experimente oder die psychischen Folgen für David Reimer kritisch zu reflektieren, bleibt Butlers Analyse weitgehend abstrakt. Sie nutzt den Fall, um ihre These von der sozialen Konstruiertheit von Geschlecht zu untermauern, ohne auf die empirischen Details, die ethischen Bedenken oder die biographische Realität des Betroffenen näher einzugehen. Das existenzielle Leid Davids, seine wiederholte Ablehnung der zugeschriebenen Geschlechterrolle, seine Suizidversuche und letztlich sein Tod bleiben dabei methodisch ausgeblendet.

Diese selektive Lesart hat in den letzten Jahren vermehrt Kritik hervorgerufen. Bioethiker wie Alice Dreger werfen Butler und anderen Vertretern der Queer-Theorie vor, den Fall ideologisch zu instrumentalisieren, statt ihn als ernsthafte Herausforderung an die eigenen Hypothesen zu begreifen [12]. Die reale Lebensgeschichte von David Reimer, mit all ihrem Schmerz, ihrem Widerstand und ihrem Scheitern an einer falschen Prämisse, lässt sich nicht in hypothetische Formeln pressen. Sie fordert vielmehr eine demütige Anerkennung biologischer Grundlagen von Identität sowie eine Rückbesinnung auf wissenschaftliche Verantwortung.

Fazit

Der John/Joan-Fall markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Sexualforschung. Er zeigt die Gefahren auf, wenn ideologisch motivierte Hypothesen über die biologische Realität der betroffenen Menschen gestellt werden. Die Geschichte von David Reimer ist kein Einzelfall, sondern ein drastisches Mahnmal: Wissenschaft braucht ethische Fundamente, besonders, wenn sie tief in die intimsten Bereiche des menschlichen Lebens eingreift.

Quellen

[1] Money, J. W. (1968). Hermaphroditism: An inquiry into the nature of a human paradox -with= part two: Ten case reports. Dissertation Abstracts International, 29(1-B), 375.

[2] Money, J. (1973): Gender role, gender identity, core gender identity: Usage and definition of terms. Journal of the American Academy of Psychoanalysis, 1, 397–403.

[3] Money, J. (1970). Sexual dimorphism and homosexual gender identity. Psychological Bulletin, 74(6), 425–440. https://doi.org/10.1037/h0033067

[4] Money, J., & Ehrhardt, A. A. (1973). Man & woman, boy & girl: Gender identity from conception to maturity. Jason Aronson.

[5] Money, J. (1986). Lovemaps: Clinical Concepts of Sexual/Erotic Health and Pathology, Paraphilia, and Gender Transposition in Childhood, Adolescence, and Maturity. New York: Prometheus Books.

[6] Money, J. (1990). Pedophilia: A Specific Instance of New Phylism Theory as Applied to Paraphilic Lovemaps. In: Feierman, J.R. (eds) Pedophilia. Springer, New York, NY. https://doi.org/10.1007/978-1-4613-9682-6_18

[7] Colapinto, J. (2000). As nature made him: The boy who was raised as a girl. New York: Harper Collins.

[8] Colapinto, J. (2004). The True Story of John/Joan. Nachrufartikel im Rolling Stone Magazine.

[9] Diamond M, Sigmundson HK. Sex Reassignment at Birth: Long-term Review and Clinical Implications. Arch Pediatr Adolesc Med. 1997;151(3):298–304. doi:10.1001/archpedi.1997.02170400084015

[10] Butler, Judith. Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge, 1990.

[11] Butler, Judith. Bodies That Matter: On the Discursive Limits of “Sex”. New York: Routledge, 1993.

[12] Dreger, Alice. Galileo’s Middle Finger: Heretics, Activists, and One Scholar’s Search for Justice in Science. Penguin Press, 2015.

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