In gesellschaftlichen Debatten rund um das Thema "Geschlecht" fällt auf, dass regelmäßig untergeordnete Geschlechtsmerkmale mit der übergeordneten Geschlechtsdefinition auf Basis der Anisogamie verwechselt werden. Das grundlegende Missverständnis beruht auf einer Verwechslung von Ursache und Wirkung.
Zu den primären Geschlechtsorganen zählen im hier diskutierten biologischen Rahmen bezogen auf mehrzellige getrenntgeschlechtliche Organismen mit anisogamer Fortpflanzung sowie innerer Befruchtung sämtliche anatomischen Strukturen, die direkt an der sexuellen Fortpflanzung beteiligt sind. Nehmen wir einfach mal den Modellorganismus Homo sapiens: Beim Weibchen zählen Eierstock, Eileiter, Gebärmutter und Vulva zu den primären Geschlechtsmerkmalen bzw. -organen, während beim Männchen Hoden, Nebenhoden, Samenleiter, Prostata und Penis in diese Kategorie fallen.
Als sekundäre Geschlechtsmerkmale werden diejenigen anatomischen Merkmale gezählt, die nicht direkt oder gar nicht an der Fortpflanzung beteiligt sind. In diese Kategorie fallen beim hier diskutierten Modellorganismus z. B. Körpergröße, Muskelmasse, Knochendichte, Beckenform oder die unterschiedliche stark ausgeprägte Behaarung.
Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen werden manchmal als tertiäre Geschlechtsmerkmale bezeichnet. Darauf soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.
Der Clou ist, dass sich die unterschiedlichen anatomischen Strukturen aus demselben Urzustand heraus entwickeln. Menschliche Embryos sind bis zum Einsetzen der Geschlechtsdifferenzierung in der sechsten Schwangerschaftswoche gewissermaßen geschlechtslose Unisex-Wesen. Dies lässt sich dadurch erklären, dass es Ressourcen spart, wenn sich Embryos beiderlei Geschlechts so lange wie möglich in dieselbe Richtung entwickeln, statt von Anfang an eine komplett unterschiedliche Anatomie herauszubilden.
Die Geschlechtsentwicklung des Menschen ist eine Kaskade an Einzelschritten mit fließenden Übergängen bei der Entwicklung der Geschlechtsmerkmale.
Vereinfacht gesagt läuft bei Vorhandensein eines bestimmten Schlüsselgens eine Kettenreaktion an aufeinander aufbauenden Entwicklungsschritten ab, die zu einer Vermännlichung des Embryos führen. Dieses sogenannte SRY-Gen (Sex determining region of Y) liegt, wie der Name bereits andeutet, im Regelfall auf dem Y-Chromosom und kodiert ein Protein, welches wiederum die Entwicklung von Hoden aus den neutralen Geschlechtsdrüsen (Gonaden) des Unisex-Embryos initiiert. Ohne dieses Gen entwickeln sich die embryonalen Gonaden normalerweise zu Eierstöcken. Die weibliche Geschlechtsentwicklung kann demnach als Default-Programm interpretiert werden.
Nachdem sich die jeweiligen Gonaden ausgebildet haben, setzen sie Wachstumshormone frei, die zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft die jeweilige anatomische Geschlechtsdifferenzierung voranschreiten lassen. Beim männlichen Geschlecht setzen die Hoden Androgene frei, die u.a. dafür sorgen, dass sich die anfangs geschlechtslosen Genitalstrukturen zu Penis und Hodensack entwickeln und zu einem späteren Zeitpunkt die Hirnstruktur ein wenig anders vernetzt wird als beim weiblichen Geschlecht. Dazu an anderer Stelle mehr.
Nun kann man die Geschlechtsentwicklung des Menschen auf zweierlei Art und Weise interpretieren. Manche Biologen vertreten die feministisch geprägte Auffassung, dass die männliche Geschlechtsentwicklung eine Abzweigung vom weiblichen Default-Programm darstellt. Dass sich die geschlechtslosen Embryos also zunächst weiblich entwickeln und gewissermaßen das weibliche Geschlecht eine Vorstufe des männlichen Geschlechts ist – dass Männer also salopp formuliert früher mal Frauen waren. Diese Interpretation steht aber in Konflikt zur biologischen Geschlechtsdefinition. Ein männlicher Mensch kann definitionsgemäß nie weiblich gewesen sein, weil es nicht möglich ist, von der grundsätzlichen Veranlagung einer Eizellenproduktion zur Spermienproduktion zu wechseln oder umgekehrt. Beide Geschlechter entwickeln sich aus einem geschlechtsneutralen Zustand. Sobald die Geschlechtsentwicklung einsetzt, entwickelt sich entweder das eine oder das andere Geschlecht, während das grundsätzlich vorhandene Potenzial einer gegengeschlechtlichen Entwicklung im Hintergrund schlummert. Brustwarzen sind deshalb nicht als weibliches Geschlechtsmerkmal zu deuten, welches bei Männern auf eine weibliche Vergangenheit hinweist, sondern bloß als Unisex-Merkmal des Säugetiers Homo sapiens.
Bei biologischen Prozessen können allerdings immer Fehler geschehen. Diese Störungen der Geschlechtsentwicklung, auf die an anderer Stelle vertieft eingegangen wird, können dazu führen, dass sich Geschlechtsmerkmale nicht immer eindeutig ausbilden, was eine rein visuelle Geschlechtsbestimmung zum Zeitpunkt der Geburt nicht in jedem Einzelfall zweifelsfrei möglich macht. Dieser Umstand führt zu dem grundsätzlichen Missverständnis, dass Menschen mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen gewissermaßen "zwischen den Geschlechtern" stehen. Das stimmt allerdings nicht. Denn nur, weil man indifferent ausgeprägte Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter zuordnen kann, bedeutet das noch lange nicht, dass man das betroffene Individuum nicht geschlechtlich zuordnen kann. Mit einer entsprechenden Diagnostik wie beispielsweise molekulargenetischer Tests, Ultraschall der Geschlechtsdrüsen sowie ggf. Gewebeuntersuchungen lassen sich (theoretisch) nahezu alle Störungen der Geschlechtsentwicklung zweifelsfrei geschlechtlich bestimmen (ob dies allerdings in der Praxis in jedem Einzelfall sinnvoll ist, darf angezweifelt werden).
Es gibt keine weiblichen Menschen mit Penis
Ein grundsätzliches Missverständnis resultiert außerdem aus dem Umstand, dass es (vor allem in Entwicklungsländern) durchaus vorkommen kann, dass aufgrund einer solchen Entwicklungsstörung z. B. ein männliches Individuum mit einem unterentwickelten Mikropenis und einem nicht vollständig verschlossenen Skrotum zu Welt kommt und diese Genitalstruktur dann fälschlich als weibliches Geschlecht gedeutet wird. Zwar dienen die Genitalien der Geschlechtsbestimmung, jedoch definieren Genitalien nicht das Geschlecht, sondern das Geschlecht definiert umgekehrt das typischerweise mit dem jeweiligen Geschlecht assoziierte Genital. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Ob ein Individuum mit einem Penis oder mit einer Klitoris geboren wird, entscheidet sich nicht aufgrund der visuellen Bewertung des jeweiligen Organs, weil die Übergänge der Entwicklung dieses anatomischen Merkmals aus dem geschlechtsneutralen Genitalhöcker fließend sind, sondern ob das jeweilige Merkmal an einem männlichen oder einem weiblichen Organismus zu finden ist. Deshalb gibt es keine männlichen Menschen mit Klitoris und keine weiblichen Menschen mit Penis. Allenfalls gibt es weibliche Menschen mit einer vergrößerten Klitoris bzw. männliche Menschen mit einem Mikropenis.
Die zweigeschlechtliche Fortpflanzung erzeugt Diversität und somit auch Diversität bei der Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen. Es handelt sich dabei aber um keine "geschlechtliche Vielfalt" im Sinne weiterer Geschlechter abseits oder zwischen den Geschlechtern, sondern um Vielfalt innerhalb der scharf abgrenzbaren Kategorien "männlich" oder "weiblich".