Hat der "Blob" wirklich 720 Geschlechter?

Der "Blob", ein Schleimpilz mit verblüffenden Eigenschaften von Tieren und Pilzen, sorgt regelmäßig für Schlagzeilen. Besonders populär ist die oft zitierte Behauptung, dieses Lebewesen hätte 720 Geschlechter.

Was auf den ersten Blick nach einer biologischen Sensation klingt, ist bei genauerem Hinsehen eine vereinfachende und irreführende (um nicht zu sagen falsche) Darstellung. In diesem Artikel wollen wir klären, was wirklich hinter dieser Aussage steckt, und warum es biologisch sinnvoll ist, zwischen "Geschlechtern" und "Kreuzungstypen" zu unterscheiden.

Was ist der "Blob"?

Physarum polycephalum ist ein sogenannter Schleimpilz (genauer: ein Myxomycet), der im feuchten Unterholz wächst. Er wird als Einzeller klassifiziert und war sogar Einzeller des Jahres 2021. Er besteht jedoch aus vielen Zellkernen und kann dadurch eine sehr große Ausdehnung erreichen. Ganz ohne Nervensystem kann P. polycephalum Nahrungsquellen finden und sogar komplexe Labyrinthe lösen. Kein Wunder, dass dieses Wesen – kein echter Pilz, aber auch kein echtes Tier – die Fantasie von Forschern und Medien gleichermaßen beflügelt.

Physarum polycephalum auf der Suche nach Nahrung (Foto: IG Sexualbiologie)

Was sind Geschlechter?

Die Vorstellung, ein Organismus könne 720 Geschlechter haben, widerspricht intuitiv unserem gewohnten binären Verständnis von Geschlecht. In der Biologie wird Geschlecht funktional anhand der Art von Geschlechtszellen (Gameten) definiert, die ein Individuum potenziell produziert: das männliche Geschlecht ist darauf ausgelegt, viele kleine, i. d. R. bewegliche Gameten zu produzieren, während das weibliche Geschlecht große, nährstoffreiche und i. d. R. unbewegliche Gameten bereitstellt. In der Biologie spricht man im Rahmen dieser sogenannten Anisogamie von Geschlechtern, wenn es um funktionelle Unterschiede bei der Gametenbildung geht.

In manchen Organismengruppen, etwa bei bestimmten Algen und Pilzen, existiert keine Unterscheidung in Form unterschiedlich großer oder geformter Gameten – ein Zustand, den man als Isogamie bezeichnet. Bei isogamen Organismen sind die verschmelzenden Zellen äußerlich meist gleichartig, unterscheiden sich aber auf molekularer Ebene – etwa durch spezifische Oberflächenmerkmale oder Signalmoleküle. Dennoch handelt es sich hier ebenfalls um eine Form der sexuellen Fortpflanzung. Diese weicht jedoch deutlich von dem binären Gametentypenmodell ab, das wir von höheren Tieren und Pflanzen kennen.

Myxomyceten (Myxogastria) wie P. polycephalum haben keine klassischen Gameten und auch keine morphologisch unterscheidbaren Geschlechtsorgane. Stattdessen folgt ihre Fortpflanzung anderen Prinzipien.

Achtung: Kreuzungstypen sind keine Geschlechter

In vielen isogamen Pilzen, Algen und Einzellern mit sexueller Fortpflanzung gibt es mehrere Kreuzungstypen (auch Paarungstypen oder engl. "mating types" genannt). Diese fungieren hier als biochemisches Erkennungssystem, um genetisch verschiedene Individuen zu identifizieren und Selbstbefruchtung zu vermeiden. Sie erfüllen also eine vergleichbare Funktion wie Geschlechter, ohne jedoch die strukturellen oder funktionellen Eigenschaften klassischer Geschlechter aufzuweisen. Es handelt sich dabei also um ein biochemisches Erkennungssystem, kein Geschlechtersystem [1].

Der "Blob" vermehrt sich durch Paarung zweier Zellen unterschiedlicher Kreuzungstypen [2]. Dabei handelt es sich um genetisch definierte Typen, die bestimmen, ob zwei Individuen miteinander kompatibel sind. Konkret verfügt P. polycephalum über ein Kreuzungstypensystem, das sich aus drei genetischen Loci zusammensetzt, von denen jeder mehrere Allele aufweist.

Die Loci matA (mat = mating type) mit 16 Allelen und matB mit 15 Allelen sind zwei Kreuzungssysteme, die getrennt die Stadien der Zygotenbildung und Plasmodium-Differenzierung steuern [3][4]. Ein dritter Locus (matC) mit 3 Allelen wurde ebenfalls nachgewiesen [5].

Durch die Multiplikation der Anzahl der Allele pro Locus erhält man rein rechnerisch die Anzahl der möglichen Allelkombinationen, in diesem Fall also 16 x 15 x 3 = 720

Diese rechnerisch ermittelten 720 Kombinationen geben die Zahl der möglichen Kreuzungstypen wieder, also der genetischen Paarungskonfigurationen. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Kombinationen in der Natur gleich häufig auftreten oder automatisch paarungskompatibel sind. Vielmehr stellt diese Vielfalt ein evolutionäres Potenzial dar, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, bei zufälligem Kontakt mit einem genetisch verschiedenen Partner erfolgreich genetisches Material austauschen zu können.

Die Zahl 720 wurde in Medienmeldungen (oft ohne diese wichtigen Details) aufgegriffen, wodurch irreführende Schlagzeilen über die "720 Geschlechter beim Blob" entstanden.

Warum "720 Geschlechter" irreführend ist

Bei den Kreuzungstypen von P. polycephalum handelt es sich nicht um differenzierte Geschlechter im Sinne von männlich und weiblich mit verschiedenen Gameten, sondern um Kreuzungstypen, die bestimmen, ob zwei Individuen sich paaren können. Wenn von 720 Geschlechtern die Rede ist, sind damit eigentlich nur 720 verschiedene DNA-Sequenzen im Kreuzungstyp-Gen gemeint.

Vereinfacht: Es gibt 720 genetische Kombinationen, mit denen sich unterschiedlich ausgestattete "Blobs" (also mit ungleichem Locus-Muster) miteinander paaren können, was zu einem wechselseitigen Paarungsverhalten führt (Kreuzungskompatibilität).

Die Aussage "720 Geschlechter" ist eine populärwissenschaftliche Vereinfachung und, zugegeben, ein medientauglicher Hingucker. Sie veranschaulicht auf spektakuläre Weise die biologische Vielfalt jenseits menschlicher Kategorien. Doch sie führt auch in die Irre, wenn man nicht klarstellt, dass es sich nicht um funktional unterschiedliche Geschlechter, sondern um ein komplexes Paarungssystem handelt.

Gerade in einer Zeit, in der Geschlecht und Sexualität gesellschaftlich diskutiert werden, ist eine präzise Sprache in der Biologie besonders wichtig. Nicht jede Form genetischer Diversität ist gleichbedeutend mit einem Geschlecht.

Fazit

Der "Blob" hat nicht 720 Geschlechter, sondern ein äußerst ausgeklügeltes System von Kreuzungstypen. Diese Vielfalt erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass bei zufälligem Kontakt zweier Individuen ein erfolgreicher Austausch genetischem Materials ohne das Risiko einer Selbstbefruchtung möglich ist – ein klarer evolutionärer Vorteil.

Quellen


[2] Paul N. Adler, Charles E. Holt, Mating type and the differentiated state in Physarum polycephalum, Developmental Biology, Volume 43, Issue 2, 1975, Pages 240-253, ISSN 0012-1606, https://doi.org/10.1016/0012-1606(75)90024-X.

[3] Philip J Youngman, Dominick J Pallotta, Betsy Hosler, Gary Struhl, Charles E Holt, A NEW MATING COMPATIBILITY LOCUS IN PHYSARUM POLYCEPHALUM, Genetics, Volume 91, Issue 4, 1 April 1979, Pages 683–693, https://doi.org/10.1093/genetics/91.4.683

[4] Philip J Youngman, Roger W Anderson, Charles E Holt, TWO MULTIALLELIC MATING COMPATIBILITY LOCI SEPARATELY REGULATE ZYGOTE FORMATION AND ZYGOTE DIFFERENTIATION IN THE MYXOMYCETE PHYSARUM POLYCEPHALUM, Genetics, Volume 97, Issue 3-4, 1 March 1981, Pages 513–530, https://doi.org/10.1093/genetics/97.3-4.513

[5] Moriyama, Y., Kawano, S. Maternal inheritance of mitochondria: multipolarity, multiallelism and hierarchical transmission of mitochondrial DNA in the true slime mold Physarum polycephalum . J Plant Res 123, 139–148 (2010). https://doi.org/10.1007/s10265-009-0298-5

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