"Leben" ist in der Biologie kein einzelner, scharf begrenzter Gesetzesbegriff, sondern ein funktionales Bündel von Eigenschaften, mit denen sich natürliche Systeme von unbelebter Materie unterscheiden. Üblich ist es, Leben anhand mehrerer, miteinander verbundenen Merkmale zu charakterisieren: Stoffwechsel, Wachstum und Entwicklung, Reizbarkeit, Reproduktion, organisationale Komplexität, Homöostase und die Fähigkeit zur evolutionären Anpassung. Keines dieser Kriterien für sich allein ist absolut ausschlaggebend; vielmehr entsteht die Zuordnung "lebendig" durch das gleichzeitige Vorliegen dieser Eigenschaften als vernetztes Systemverhalten.
Im Kontext der menschlichen Reproduktion richtet sich die Frage danach, inwieweit eine befruchtete Eizelle (Zygote) und die frühen embryonalen Entwicklungsstadien eben jene funktionalen Merkmale bereits aufweisen. Dieser Artikel untersucht deshalb Schritt für Schritt, wie die Zygote in Bezug auf jedes der klassischen Lebenskriterien zu beurteilen ist.
Stoffwechsel
Stoffwechsel (Metabolismus) bezeichnet alle biochemischen Vorgänge, durch die ein lebendes System Energie und Baustoffe aufnimmt, umsetzt und für Aufbau- sowie Erhaltungsprozesse nutzt. Die menschliche Zygote erfüllt dieses Kriterium: Unmittelbar nach der Verschmelzung von Eizelle und Spermium (Syngamie) laufen in der Zygote zahlreiche metabolische Prozesse an. Auf molekularer Ebene werden Energie in Form von Adenosintriphosphat (ATP; die universelle "Energiewährung" der Zelle) produziert, Ionen über Membranpumpen transportiert, Proteine synthetisiert und Nukleinsäuren repliziert — alles Vorgänge, die typisch für lebende Zellen sind [1].
Dabei ist wichtig zu differenzieren, wie die Energieversorgung konkret organisiert ist. Die befruchtete Eizelle verfügt noch über umfangreiche maternale Reserven in Form gespeicherter Proteine, mRNA-Vorräten und mütterlichen Mitochondrien der Eizelle, die die ersten Zellteilungen und Entwicklungsprogramme antreiben [2]. Zugleich beginnt bereits ein stoffwechselphysiologischer Austausch mit der Umgebung. Vor der Implantation (Nidation) in der Gebärmutterschleimhaut (Endometrium) bezieht die sich teilende Blastozyste Nährstoffe und Signale aus dem Eizellplasma und dem tubaren/uterinen Sekret; nach der Nidation etabliert sich ein intensiverer Transfer über das Endometrium. Bei den frühesten Teilungen dominiert die Nutzung mütterlicher Ressourcen; mit dem sogenannten embryonalen Genomaktivierungs-Zeitpunkt (bei Menschen etwa ab dem 4-Zell-Stadium) nimmt die autonome Steuerung der Genexpression und damit auch eine zunehmend eigenständige Stoffwechselregulation zu [3].
Die Tatsache, dass die Zygote auf die mütterliche Umgebung angewiesen ist, ändert nichts am Vorliegen eines aktiven Metabolismus. Abhängigkeit von einer spezifischen Umwelt ist ein Merkmal vieler lebender Organismen (beispielsweise symbiontische oder parasitäre Organismen) und disqualifiziert nicht den Status als "lebendig". Entscheidend ist, dass die Zygote eigenständige biochemische Reaktionen durchführt, die Wachstum und Entwicklung möglich machen und damit das zentrale Kennzeichen lebender Systeme erfüllt.
Wachstum und Entwicklung
Ein weiteres zentrales Merkmal des Lebens ist die Fähigkeit zu Wachstum und kontinuierlicher Entwicklung. Bei der menschlichen Zygote setzt dieser Prozess unmittelbar nach der Befruchtung (Konzeption) ein. Bereits wenige Stunden nach der Kernverschmelzung (Karyogamie) beginnt die erste Zellteilung (Mitose), wodurch aus der einzelnen Zelle zwei Tochterzellen hervorgehen. Diese teilen sich weiter zu vier, acht, sechzehn Zellen, bis sich eine frühe Zellkugel, die sogenannte Morula, bildet. Aus dieser entwickelt sich wiederum die Blastozyste (eine spezielle Form der Blastula bei Plazentatieren), die nach einigen Tagen in die Gebärmutterschleimhaut implantiert [4][5].
Wachstum bedeutet in diesem Zusammenhang also nicht nur eine Zunahme der Zellzahl, sondern auch eine fortlaufende Differenzierung. Schon in den ersten Teilungen werden unterschiedliche Genaktivitäten und Proteinmuster sichtbar, die die Achsenbildung und spätere Spezialisierungen vorbereiten. Diese Dynamik unterscheidet die Zygote fundamental von unbelebter Materie. Steine und Kristalle etwa können zwar wachsen, indem sich Material anlagert, doch sie entwickeln sich nicht in einer programmierten, komplexen Abfolge hin zu einem neuen Organismus. Die Zygote hingegen folgt einem genetisch gesteuerten Entwicklungsplan, der von Anfang an auf die Ausbildung eines vollständigen Menschen ausgerichtet ist.
Reizbarkeit
Zur Lebendigkeit gehört ebenso die Eigenschaft, auf äußere Reize reagieren zu können. Im frühen embryonalen Stadium handelt es sich dabei nicht um sensorische Wahrnehmung, sondern um biochemische und molekulare Interaktionen mit der Umgebung. Schon die Zygote besitzt Rezeptoren und Signalwege, die es ihr ermöglichen, chemische Veränderungen in ihrem Umfeld zu registrieren und darauf zu reagieren [6][7].
So werden beispielsweise bestimmte Oberflächenmoleküle aktiv, wenn die Blastozyste mit dem Endometrium in Kontakt kommt. Dieser "Dialog" mit der Gebärmutterschleimhaut entscheidet maßgeblich über die erfolgreiche Einnistung. Ebenso reagieren die Zellen auf Konzentrationen von Hormonen, Wachstumsfaktoren oder Nährstoffen, die im Uterus vorhanden sind. Auch interne Prozesse, etwa DNA-Schäden oder fehlerhafte Teilungen, lösen Reaktionen wie den programmierten Zelltod (Apoptose) aus.
Diese molekulare Reizbarkeit zeigt, dass die Zygote kein passives Gebilde ist, sondern ein aktiver, regulierter Prozess, der sich an Umweltbedingungen anpasst. Genau diese Fähigkeit zur Reaktion und Anpassung ist ein klassisches Kennzeichen biologischer Lebendigkeit.
Reproduktion
Ein weiteres Kriterium des Lebens ist die Fähigkeit zur Reproduktion, also zur Fortpflanzung. Streng genommen erfüllt die Zygote diese Funktion nicht als eigenständiges Individuum, denn sie kann sich nicht wie ein Einzeller teilen, um neue, eigenständige Organismen hervorzubringen. Doch sie ist selbst das direkte Produkt einer reproduktiven Handlung. Die Verschmelzung von Eizelle und Spermium schafft ein neues, genetisch einzigartiges Lebewesen der Spezies Homo sapiens [8][9].
Darüber hinaus zeigt die Zygote eine Form von "reproduktiver Aktivität" auf zellulärer Ebene. Ihre ersten Teilungen sind zwar keine Fortpflanzung im engeren Sinn, aber sie markieren den Beginn der Weitergabe genetischer Information und der Bildung neuer Zellen, die zusammen den Organismus konstituieren. Die Zygote ist somit zwar nicht reproduktiv im Sinne einer unmittelbaren Weitergabe ihrer Gene an Nachkommen, aber sie ist die notwendige Basis jeder menschlichen Reproduktion. Damit erfüllt sie dieses Kriterium in einer abgewandelten, aber dennoch wesentlichen Form.
Organisation
Lebende Systeme sind hochgradig organisiert und unterscheiden sich dadurch von unbelebten Strukturen. Schon die Zygote als einzelne Zelle ist ein erstaunlich komplex aufgebautes System. Sie enthält Organellen wie Mitochondrien, Ribosomen, das endoplasmatische Retikulum und den Zellkern, die in koordinierter Weise miteinander interagieren [10]. Diese innere Organisation erlaubt es, Energieflüsse zu steuern, genetische Informationen zu speichern und zu verarbeiten sowie Proteine und Strukturen für die weitere Entwicklung zu erzeugen.
Noch beeindruckender wird die organisationale Komplexität im Verlauf der ersten Zellteilungen. Die entstandenen Zellen kommunizieren miteinander, tauschen Signale aus und beginnen, sich funktionell voneinander zu unterscheiden. So entstehen frühe Muster, die die spätere Differenzierung in Gewebe und Organe vorbereiten. Diese Selbstorganisation ist kein äußerlich aufgezwungener Prozess, sondern Ausdruck einer inneren, genetisch und epigenetisch gesteuerten Ordnung [11].
Im Unterschied zu beispielsweise Kristallen oder anderen physikalischen Systemen, die zwar geordnet erscheinen, aber durch äußere Kräfte strukturiert werden, organisiert sich die Zygote von innen heraus. Genau diese Fähigkeit zur Selbstorganisation gilt in der Biologie als Schlüsselkriterium für lebende Systeme.
Homöostase
Ein weiteres grundlegendes Kriterium des Lebens ist die Fähigkeit zur Homöostase – also zur Aufrechterhaltung eines stabilen inneren Milieus trotz wechselnder äußerer Bedingungen [12][13]. Die Zygote erfüllt dieses Prinzip. Sie reguliert aktiv ihre Ionenkonzentrationen, ihren pH-Wert und ihren Energiehaushalt. Spezifische Transportproteine in der Zellmembran sorgen für den Austausch von Kalium-, Natrium- oder Calciumionen, was für Signalprozesse und Zellteilung unerlässlich ist. Ebenso steuern Enzymsysteme innerhalb der Zelle biochemische Gleichgewichte, die das Überleben und die geordnete Entwicklung ermöglichen.
Obwohl die Zygote in hohem Maße auf die mütterliche Umgebung angewiesen ist, ist sie kein passiver Empfänger. Sie verarbeitet die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen aktiv, stabilisiert ihre internen Bedingungen und schützt ihre Strukturen vor Störungen. So gleicht sie Schwankungen in der Nährstoffversorgung oder Belastungen durch DNA-Schäden aus. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation bestätigt ihren Status als lebendiges, dynamisches System.
Evolutionäre Adaptierbarkeit
Schließlich zeichnet sich Leben durch evolutionäre Adaptierbarkeit aus. Dabei handelt es sich um die Fähigkeit, sich über Generationen hinweg zu verändern und an Umweltbedingungen anzupassen [14]. Auch die Zygote trägt dieses Potenzial in sich. Sie enthält das gesamte genetische Material, das nicht nur für die Entwicklung eines individuellen Organismus entscheidend ist, sondern auch für die Weitergabe an künftige Generationen [5].
Die in der Zygote vereinte DNA ist das Ergebnis langer Evolutionsprozesse, die Selektionsdruck und Anpassung an Umweltbedingungen widerspiegeln. Gleichzeitig ist sie Ausgangspunkt neuer Variation. Jede Zygote besitzt eine einzigartige Kombination mütterlicher und väterlicher Gene, in der Mutationen, Rekombinationen und epigenetische Muster eingebettet sind. Diese genetische Vielfalt ist die Grundlage dafür, dass sich die menschliche Spezies an veränderte Umweltbedingungen anpassen und dadurch weiterentwickeln kann.
Damit erfüllt die Zygote auch das letzte klassische Kriterium von Leben. Sie ist nicht nur ein aktuelles, lebendes System, sondern Teil der langen Kette evolutionärer Veränderung, die Leben überhaupt erst möglich macht.
Fazit
Die Frage, ob die menschliche Zygote als "lebendig" gelten kann, lässt sich aus biologischer Perspektive klar beantworten, da sie sämtliche klassischen Kriterien des Lebens erfüllt. Sie betreibt Stoffwechsel, wächst und entwickelt sich, reagiert auf Reize aus ihrer Umwelt, ist das direkte Resultat reproduktiver Prozesse, zeigt eine hochgradige innere Organisation, reguliert ihr inneres Milieu und trägt die genetische Grundlage für evolutionäre Anpassung in sich.
Dass die Zygote auf die mütterliche Umgebung angewiesen ist, schmälert ihren Status nicht. Abhängigkeit von bestimmten Umweltbedingungen ist allen Lebensformen eigen – von Bakterien über Pflanzen bis hin zum erwachsenen Menschen. Entscheidend ist nicht die Unabhängigkeit oder gar die Überlebensfähigkeit in einer für den Organismus untypischen Umwelt, sondern die aktive, selbstorganisierte Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Lebensprozesses.
Damit ist die Zygote nicht bloß ein Zellhaufen oder eine zufällige Ansammlung von Molekülen, sondern der Beginn eines eigenständigen, individuellen Lebens der Spezies Homo sapiens. Biologisch betrachtet gibt es keinen Bruchpunkt, an dem dieses Leben "erst später" beginnt. Es tritt bereits mit der Verschmelzung von Eizell- und Spermienkern ins Dasein.
Quellen
[1] Seok Hee Lee, Paolo F. Rinaudo, Metabolic regulation of preimplantation embryo development in vivo and in vitro: Molecular mechanisms and insights, Biochemical and Biophysical Research Communications, Volume 726, 2024, 150256, ISSN 0006-291X, https://doi.org/10.1016/j.bbrc.2024.150256.
[2] Folmes Clifford D. L., Terzic Andre (2014) Metabolic determinants of embryonic development and stem cell fate. Reproduction, Fertility and Development 27, 82-88. https://doi.org/10.1071/RD14383
[3] Absalón-Medina, V.A., Butler, W.R. & Gilbert, R.O. Preimplantation embryo metabolism and culture systems: experience from domestic animals and clinical implications. J Assist Reprod Genet 31, 393–409 (2014). https://doi.org/10.1007/s10815-014-0179-2
[4] Khan YS, Ackerman KM. Embryology, Week 1. 2023 Apr 17. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; 2025 Jan–. PMID: 32119449.
[5] Marta N. Shahbazi; Mechanisms of human embryo development: from cell fate to tissue shape and back. Development 15 July 2020; 147 (14): dev190629. doi: https://doi.org/10.1242/dev.190629
[6] T. Silva, E.C. Santos, K. Annes, C.A. Soares, R.F. Leite, C.B. Lima, M.P. Milazzotto, Morphokinetic-related response to stress in individually cultured bovine embryos, Theriogenology, Volume 86, Issue 5, 2016, Pages 1308-1317, ISSN 0093-691X, https://doi.org/10.1016/j.theriogenology.2016.04.072.
[7] Singh, A., Ruden, X.L., Tang, W. et al. Novel kinetic and developmental transcriptomic pan-stress responses by embryonic stem cells. Sci Rep 15, 21291 (2025). https://doi.org/10.1038/s41598-025-06628-z
[8] Bastawros, H. (2023). Human Reproduction: A Clinical Approach.
[9] Richard E. Jones, Kristin H. Lopez, Human Reproductive Biology (Fourth Edition), Academic Press, 2014, ISBN 9780123821843
[10] Meng Zhu, Magdalena Zernicka-Goetz, Principles of Self-Organization of the Mammalian Embryo, Cell, Volume 183, Issue 6, 2020, Pages 1467-1478, ISSN 0092-8674, https://doi.org/10.1016/j.cell.2020.11.003.
[11] Marta N. Shahbazi et al., Self-organization of stem cells into embryos: A window on early mammalian development. Science 364, 948-951 (2019). DOI: 10.1126/science.aax0164
[12] Torday JS. Homeostasis as the Mechanism of Evolution. Biology. 2015; 4(3):573-590. https://doi.org/10.3390/biology4030573
[13] Bechtel, W. and Bich, L. (2024), Situating homeostasis in organisms: maintaining organization through time. J Physiol, 602: 6003-6020. https://doi.org/10.1113/JP286883
[14] Hallgrímsson B, Jamniczky HA, Young NM, Rolian C, Schmidt-Ott U, Marcucio RS. 2012. The generation of variation and the developmental basis for evolutionary novelty. J. Exp. Zool. (Mol. Dev. Evol.) 318B: 501–517. https://doi.org/10.1002/jez.b.22448