Sex Reversal: Wenn Männchen zu Weibchen werden – und umgekehrt

Die Vorstellung, dass das Geschlecht eines Lebewesens festgelegt und unveränderlich ist, greift im Tierreich erstaunlich oft zu kurz. Zahlreiche Arten zeigen, dass Geschlecht nicht immer eine starre Eigenschaft ist, sondern sich im Laufe des Lebens ändern kann – ein Phänomen, das in der Biologie als "Sex Reversal" (Geschlechtsumkehr) bezeichnet wird. Die Gründe reichen von genetischen Mechanismen über hormonelle Steuerungen bis hin zu sozialen und ökologischen Einflüssen. Ein Blick durch die Tierstämme offenbart eine faszinierende Vielfalt.

Wirbellose: Flexibilität als Überlebensstrategie

Bei vielen wirbellosen Tieren ist Geschlechtsumkehr Teil ihrer Fortpflanzungsstrategie. Besonders bei Schnecken und Muscheln findet man Wechsel zwischen männlichen und weiblichen Funktionen. Manche Arten beginnen ihr Leben als Männchen und werden später zu Weibchen (Proterandrie), weil die Produktion von nährstoffreichen Eizellen mehr Ressourcen bedarf und große Weibchen daher mehr Nachkommen hervorbringen können. Beispiele hierfür sind die in Deutschland heimische Gefleckte Schnirkelschnecke (Arianta arbustorum), die in einigen Populationen Proterandrie aufweist. Bei der Spitzschlammschnecke (Lymnaea stagnalis) wurde ebenfalls Proterandrie dokumentiert. Und auch bei der Weinbergschnecke (Helix pomatia) gibt es Hinweise auf proterandrische Entwicklung, obwohl sie gleichzeitig simultan hermaphroditisch ist. Proterandrie ist bei Schnecken generell häufig mit ihrem hermaphroditischen Fortpflanzungssystem verbunden, wobei die männliche Phase in jüngeren Stadien oder bei kleineren Individuen dominiert. 

Bei anderen Wirbellosen, etwa einigen Plattwürmer (Platyhelminthes) und Borstenwürmern (Polychaeta), ist der umgekehrte Fall zu beobachten (Proterogynie). Hier bietet es Vorteile, erst als Weibchen Nachkommen zu produzieren und später – als kräftigeres Tier – als Männchen um Ressourcen oder Weibchen zu konkurrieren.

In diesen Fällen von Sex Reversal liegt somit eine echte Transsexualität im Sinne eines Wandels der jeweiligen Geschlechtszellenproduktion (und somit des Geschlechts) vor.

Fische: Meister der Geschlechtsumkehr

Nirgends ist Sex Reversal so eindrucksvoll verbreitet wie bei Fischen. Ein berühmtes Beispiel ist der aus "Findet Nemo" bekannte Echte Clownfisch (Amphiprion percula). Hier ist das größte Tier im Schwarm das dominante Weibchen. Stirbt es, übernimmt das ranghöchste Männchen die Rolle und wandelt sich zum Weibchen um. Lippfische (Labridae) wie der Gefleckte Lippfisch (Labrus bimaculatus) oder der Kanarien-Lippfisch (Halichoeres chrysus) zeigen hingegen den umgekehrten Weg. Weibchen können hier zu Männchen werden, wenn ein dominantes Männchen fehlt. In beiden Fällen bestimmen soziale Strukturen, welches Geschlecht "benötigt" wird, sodass die Population ihre Fortpflanzungschancen maximiert.

Auch in diesen Beispielen liegt eine echte Transsexualität im Sinne der Sexualbiologie vor.

Amphibien: Hormonelle Steuerung und Umweltfaktoren

Geschlechtsumkehr (im weitesten Sinne) bei Amphibien ist selten, aber dokumentiert und tritt vor allem durch Umwelteinflüsse auf. Frösche und Salamander reagieren besonders empfindlich auf hormonelle Signale, insbesondere während der larvalen oder frühen Entwicklungsstadien. Faktoren wie Temperatur, Schadstoffe oder endokrine Disruptoren (beispielsweise Pestizide oder Chemikalien wie Bisphenol A), können die Geschlechtsdifferenzierung verändern. So können genetisch männliche Individuen funktionelle weibliche Gonaden oder umgekehrt entwickeln, was oft durch die Beeinflussung von Genen wie DMRT1 (männlich) oder FOXL2 (weiblich) geschieht. Nach der Festlegung der Gonaden in der frühen Entwicklung ist die Expression dieser Gene allerdings stabil, was eine Umkehr des Geschlechts (also eine echte Transsexualität im biologischen Sinne) im Adultstadium erschwert.

Ein bekanntes Beispiel ist der Krallenfrosch (Xenopus laevis), bei dem Östrogenexposition genetisch männliche Larven zu funktionellen Weibchen umwandeln kann [1]. In Deutschland vorkommende Arten wie der Teichfrosch (Pelophylax kl. esculentus) oder der Feuersalamander (Salamandra salamandra) könnten ebenfalls betroffen sein.

An dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Sex Reversal im Sinne eines sequentiellen Hermaphroditismus und im Sinne einer Entwicklungs-Umkehr deutlich: Bei Amphibien findet die Geschlechtsumkehr meist während der larvalen oder frühen post-larvalen Phase statt, wenn die Gonaden noch plastisch sind. Hier wird das Geschlecht, das genetisch "vorgegeben" ist, durch Umweltfaktoren oder hormonelle Manipulation verändert, sodass die Gonaden ein anderes Geschlecht entwickeln. Dies ist kein Wechsel von einem funktionalen Geschlecht zu einem anderen, sondern eine Umleitung der Geschlechtsdifferenzierung vor der endgültigen Festlegung. Bei Konsekutivzwittern (wie die o. g. Fischen) wechselt ein adultes Tier mit funktionalen Gonaden zu einem anderen funktionalen Geschlecht.

Reptilien: Temperatur als Geschlechtsdeterminant

Viele Reptilienarten, darunter Schildkröten, Krokodile und manche Echsen, zeigen eine temperaturabhängige Geschlechtsdetermination (TSD). Bei diesen Tieren entscheidet nicht die Genetik allein, sondern die Bruttemperatur im Ei darüber, ob ein Männchen oder Weibchen schlüpft. Bei der Europäischen Sumpfschildkröte (Emys orbicularis), die auch in Deutschland vorkommt, führt eine höhere Inkubationstemperatur (ca. 30 °C und höher) zur Entwicklung von Weibchen, während niedrigere Temperaturen (unter 28 °C) Männchen hervorbringen. Bei Alligatoren wie dem Mississippi-Alligator (Alligator mississippiensis) fördern hohe Temperaturen (über 33 °C) hingegen die männliche Entwicklung, niedrige (unter 30 °C) die weibliche. Studien zeigen, dass steigende Temperaturen und starke Temperaturschwankungen aufgrund des Klimawandels bei TSD-Arten zu geschlechtsspezifischen Ungleichgewichten führen könnte, z. B. mehr Weibchen bei Schildkröten [2]. 

Zwar handelt es sich bei der temperaturabhängigen Geschlechtsdetermination um keinen "Geschlechtswechsel" im klassischen Sinne, doch sie wird gelegentlich dennoch als "Sex Reversal" bezeichnet. Anders als bei sequentiellen Hermaphroditen gibt es bei Reptilien jedoch ähnlich wie bei Amphibien keine gut dokumentierten natürlichen Fälle, in denen ein Individuum im adulten Stadium von einem funktionellen Geschlecht zu einem anderen wechselt. Die Gonadenentwicklung ist nach der Embryonalentwicklung bei Reptilien in der Regel irreversibel, weshalb es bei Reptilien keine natürliche "Transsexualität" gibt.

In experimentellen Kontexten wurde Geschlechtsumkehr bei Reptilien allerdings durch externe Manipulationen beobachtet, jedoch meist in frühen Entwicklungsstadien: Durch hormonelle Manipulation bei Schildkröten wie der Rotwangen-Schmuckschildkröte (Trachemys scripta elegans) konnte durch die Verabreichung von Östrogen oder Testosteron während der Embryonalentwicklung eine Geschlechtsumkehr ausgelöst werden. Bei niedrigen (männlich bestimmenden) Temperaturen entwickelten sich durch Östrogenexposition z. B. funktionale Weibchen [3]. Chemikalien wie Bisphenol A oder andere endokrine Disruptoren können die Geschlechtsdifferenzierung in frühen Stadien ebenfalls stören. Solche Manipulationen sind jedoch nicht auf adulte Tiere übertragbar. Bei adulten Reptilien gibt es somit keine Belege, dass externe Einflüsse einen vollständigen Geschlechtswechsel (inklusive funktionaler Gonaden) und somit eine echte Transsexualität im biologischen Sinne bewirken können.

Vögel: Eine seltene Ausnahme

Bei Vögeln ist Sex Reversal sehr ungewöhnlich, da ihre Geschlechtsdetermination streng genetisch (ZW-System) geregelt ist. Dennoch gibt es dokumentierte Fälle, in denen Hennen nach dem Verlust ihres funktionalen Eierstocks (Vögel haben meist nur einen als Anpassung an die Flugfähigkeit) hormonelle Veränderungen durchlaufen und männliches Verhalten sowie äußerliche Merkmale entwickeln. Dieses Phänomen ist vor allem beim Haushuhn (Gallus gallus var. domesticus) experimentell sehr gut erforscht [4]. Der französische Arzt, Biologe und Neuroendokrinologe Jacques Benoit führte in den 1920er-Jahren Pionierarbeiten durch, bei denen er die Eierstöcke von Haushühnern entfernte (Ovariektomie). Ohne weibliche Geschlechtshormone entwickelten einige Hühner sekundäre männliche Geschlechtsmerkmale wie Hahnenfedern oder Kammwachstum. In späteren Experimenten zeigte Benoit, dass die Verabreichung von Testosteron bei ovariotomisierten Hennen die Maskulinisierung verstärkte, während Östrogen die femininen Merkmale wiederherstellte. L.V. Domm untersuchte in den "Goldenen Zwanzigern" ebenfalls die Auswirkungen der Ovariektomie bei Hennen der Zuchtform "Brown Leghorn". Er beobachtete, dass nach der Entfernung der Eierstöcke in einigen Fällen Hoden-ähnliche Strukturen in den Gonaden entstanden, die jedoch meist nicht funktional waren. Der Tiergenetiker Francis Albert Eley Crew dokumentierte 1923 Fälle von spontaner Geschlechtsumkehr bei Hennen, die auf "natürliche" Weise männliche Merkmale entwickelten, oft aufgrund von Tumoren oder anderen pathologischen Veränderungen der Eierstöcke. Solche Hennen zeigten Hahnenfedern, Kammwachstum und manchmal Verhalten wie Krähen, konnten aber keine funktionalen Spermien produzieren. 

Diese Beobachtungen deuteten darauf hin, dass hormonelle Dysregulation (z. B. durch Tumoren) eine partielle Geschlechtsumkehr auslösen kann und dass die Geschlechtsdifferenzierung durch hormonelle Signale beeinflusst werden kann, aber die genetische Grundlage eine vollständige Umkehr einschränkt.

Moderne Forschungen heben hervor, dass Geschlechtsumkehr bei Vögeln unvollständig bleibt, da die sogenannte "Cell Autonomous Sex Identity" (CASI) durch die ZZ- bzw. ZW-Chromosomen bestimmt wird. Experimentelle Manipulationen, wie die Veränderung von Hormonspiegeln oder die genetische Modifikation von Geschlechtsgenen (z. B. DMRT1 für männliche Entwicklung oder FOXL2 für weibliche Entwicklung), können lediglich phänotypische Veränderungen hervorrufen, aber keine vollständige Umkehr mit funktionalen Gameten [5]. CRISPR/Cas9-Ansätze zur Bearbeitung von Geschlechtsgenen werden derzeit erforscht, befinden sich jedoch noch in der Entwicklung. Diese Forschung hat nicht nur biologische, sondern auch praktische Bedeutung, z. B. für die Entwicklung von Geschlechtskontrollmethoden in der Geflügelproduktion.

Säugetiere: Strenge Grenzen – mit seltenen Ausnahmen

Säugetiere sind durch ihr genetisches System (XX/XY) sehr stark auf ein Geschlecht festgelegt. Sex Reversal im Sinne eine Entwicklungs-Umkehr tritt hier ebenfalls nur auf, wenn genetische oder hormonelle Störungen während der Entwicklung wirken, z. B. durch Mutationen, die den Testosteron-Haushalt betreffen. Bei Mäusen (Mus musculus) – insbesondere einer Laborlinie mit geschwächtem SRY-Gen – und anderen Modellorganismen sind solche Fälle erforscht, sie zeigen jedoch eher die Grenzen biologischer Plastizität auf als einen regulären Mechanismus [6][7]. Die Balance zwischen männlichen (SRY, SOX9) und weiblichen (FOXL2, WNT4) Genen ist entscheidend für die Geschlechtsdifferenzierung. Ein Ungleichgewicht kann die Gonadenentwicklung umleiten. 

Anders als bei Fischen oder wirbellosen Tieren hat Sex Reversal bei Säugetieren keinen evolutiven Vorteil und bleibt deshalb eine Ausnahme im Sinne einer Anomalie oder Störung.

Der Mensch: Sex-Reversal-Syndrom (SRS) als medizinisches Phänomen

Während Geschlechtsumkehr bei vielen Tieren eine evolutionsbiologische Strategie ist, tritt sie beim Menschen nur in Form seltener medizinischer Störung auf. Unter dem (medizinisch veralteten) Begriff "Sex-Reversal-Syndrom" (SRS) fassen Humanmediziner Fälle zusammen, in denen die geschlechtstypische Chromosomenkonstellation nicht mit dem entwickelten Geschlecht übereinstimmt. Ein bekanntes Beispiel sind Menschen mit einem XY-Chromosomensatz (46,XY), die aufgrund von Mutationen im SRY-Gen oder in anderen Geschlechtsbestimmungsgenen das weibliche Geschlecht ausbilden – mitunter sogar mit funktionaler Eizellenproduktion [8]. Umgekehrt können auch XX-Individuen durch genetische Veränderungen das männliche Geschlecht entwickeln [9]. 

Das SRS beim Menschen ist ebenfalls keine adaptive Strategie, sondern eine seltene Störung der Geschlechtsentwicklung (Disorder of Sex Development; DSD), die medizinisch und psychosozial begleitet werden muss. Sie stellt keine Transsexualität im biologischen Sinne dar, sondern wird von Humanmedizinern dem Phänomen der sogenannten "Intersexualität" zugeordnet.

Fazit

Sex Reversal ist ein faszinierendes Beispiel für die Flexibilität des Lebens. Die Tierwelt zeigt, wie sehr biologische Systeme auf Anpassung ausgelegt sind. Ob durch soziale Strukturen, Umweltfaktoren oder genetische Programme – die Fähigkeit, das funktionale Geschlecht zu wechseln, sichert vielen Arten einen entscheidenden Vorteil im Überlebens- und Fortpflanzungswettbewerb. Insbesondere bei Vögeln und Säugetieren tritt "Geschlechtsumkehr" allerdings nicht als biologische Strategie, sondern lediglich als seltene Entwicklungsstörung auf.

Quellen

[1] Kazuya Mikamo, Emil Witschi, FUNCTIONAL SEX-REVERSAL IN GENETIC FEMALES OF XENOPUS LAEVIS, INDUCED BY IMPLANTED TESTES, Genetics, Volume 48, Issue 10, 1 October 1963, Pages 1411–1421, https://doi.org/10.1093/genetics/48.10.1411

[2] Valenzuela, N., Literman, R., Neuwald, J.L. et al. Extreme thermal fluctuations from climate change unexpectedly accelerate demographic collapse of vertebrates with temperature-dependent sex determination. Sci Rep 9, 4254 (2019). https://doi.org/10.1038/s41598-019-40597-4

[3] David Crews, James J. Bull, Thane Wibbels, Estrogen and sex reversal in turtles: A dose-dependent phenomenon, General and Comparative Endocrinology, Volume 81, Issue 3, 1991, Pages 357-364, ISSN 0016-6480, https://doi.org/10.1016/0016-6480(91)90162-Y.

[4] Schwarz, E. Geschlechtsumkehr beim Haushuhn. Der Zuchter 3, 264–279 (1931). https://doi.org/10.1007/BF01812487

[5] Zhang, Xiuan, Jianbo Li, Sirui Chen, Ning Yang, and Jiangxia Zheng. 2023. "Overview of Avian Sex Reversal" International Journal of Molecular Sciences 24, no. 9: 8284. https://doi.org/10.3390/ijms24098284

[6] Robin Lovell-Badge, Elizabeth Robertson; XY female mice resulting from a heritable mutation in the primary testis determining gene, Tdy. Development 1 July 1990; 109 (3): 635–646. doi: https://doi.org/10.1242/dev.109.3.635

[7] Correa SM, Washburn LL, Kahlon RS, Musson MC, Bouma GJ, et al. (2012) Sex Reversal in C57BL/6J XY Mice Caused by Increased Expression of Ovarian Genes and Insufficient Activation of the Testis Determining Pathway. PLOS Genetics 8(4): e1002569. https://doi.org/10.1371/journal.pgen.1002569

[8] Miroslav Dumic, Karen Lin-Su, Natasha I. Leibel, Srecko Ciglar, Giovanna Vinci, Ruzica Lasan, Saroj Nimkarn, Jean D. Wilson, Ken McElreavey, Maria I. New, Report of Fertility in a Woman with a Predominantly 46,XY Karyotype in a Family with Multiple Disorders of Sexual Development, The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism, Volume 93, Issue 1, 1 January 2008, Pages 182–189, https://doi.org/10.1210/jc.2007-2155

[9] Anık A, Çatlı G, Abacı A, Böber E. 46,XX Male Disorder of Sexual Development: A Case Report. J Clin Res Pediatr Endocrinol. 2013 Dec 10;5(4):258-260. doi: 10.4274/Jcrpe.1098.

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