Wenn wir über die sogenannte "Intersexualität" bzw. dem von uns hierfür neu geprägten Begriff "Intergender" sprechen, stoßen wir schnell auf eine grundlegende Schwierigkeit. Schon die Frage, was aus humanmedizinischer Sicht genau als "intergeschlechtlich" gilt, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Bedeutet es nur, wenn ein Neugeborenes mit äußerlich uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommt? Oder zählen auch Anomalien der Geschlechtschromosomen dazu, die äußerlich zunächst gar nicht auffallen? Die Medizinhistorikerin Alice Dreger beschreibt diese Unschärfen unter anderem in ihrem Buch "Hermaphrodites and the Medical Invention of Sex" (1998) [1][2]. Dort zeigt sie, wie sehr Klassifikationen vom medizinischen und gesellschaftlichen Blick abhängen.
Zahlen aus der Forschung
Wenn in einer Geburtsklinik ein Spezialist für Geschlechtsentwicklung hinzugezogen wird, weil die Genitalien eines Babys für das medizinische Personal nicht eindeutig erscheinen, dann geschieht das bei ungefähr 1 von 1.500 bis 1 von 2.000 Geburten (0,05–0,07 %). Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Viele sogenannte Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development; DSD) sind viel subtiler und machen sich möglicherweise erst später im Leben bemerkbar – zum Beispiel in der Pubertät oder beim Versuch, Kinder zu bekommen.
Eine bekannte Übersicht stammt von einem Team rund um die "Sexologin" Anne Fausto-Sterling an der Brown University, veröffentlicht unter der Leitautorin Melanie Blackless [3]. Sie werteten zahlreiche medizinische Studien aus den Jahren 1955 bis 1998 aus und schätzten daraus, wie häufig verschiedene Formen von Geschlechtsentwicklungsstörungen vorkommen.
Hier eine Auswahl dieser Häufigkeiten (gerundet):
- Menschen, die weder die typischen Chromosomen-Kombinationen XX noch XY haben: etwa 1 von 1.600 (0,06 %) z. B. Klinefelter-Syndrom (XXY): ca. 1 von 1.000 (0,1 %);
- Androgenresistenz (vollständig): ca. 1 von 13.000 (0,008 %)
- Androgenresistenz (partielle): ca. 1 von 130.000 (0,0008 %)
- Kongenitale Nebennierenhyperplasie (CAH): ca. 1 von 13.000 (0,008 %)
- Späte Form von CAH: ca. 1 von 66 (1,5 %)
- Vaginale Agenesie: ca. 1 von 6.000 (0,017 %)
- Ovotestikuläre Störung: ca. 1 von 83.000 (0,0012 %)
- Unerklärte Varianten (idiopathisch): ca. 1 von 110.000 (0,0009 %)
- Hypospadie: ca. 1 von 770 bis 1 von 2.000 (0,05–0,13 %)
Andere Varianten sind so selten oder schwer zu erfassen, dass keine verlässlichen Zahlen vorliegen.
Rechnet man all diese Diagnosen zusammen, kommt man auf etwa 2 von 100 Menschen (1,7 %), deren Körper nicht den medizinisch definierten Normvorstellungen von "männlich" oder "weiblich" entspricht. Die Autoren schreiben: "We surveyed the medical literature from 1955 to the present for studies of the frequency of deviation from the ideal male or female. We conclude that this frequency may be as high as 2% of live births."
Doch was ist dieses "Ideal"? Wenn in der Literatur von einem "idealen" männlichen oder weiblichen Körper die Rede ist, meint das keine biologische Realität (produziert das Individuum potenziell Spermien oder Eizellen), sondern ein theoretisches Konstrukt – eine Art medizinische Schablone, wie "typisch männlich" oder "typisch weiblich" auszusehen habe. Doch die Biologie funktioniert nicht nach Schablonen. Sie erzeugt Vielfalt an Ausprägungen innerhalb dessen, was als eindeutig gilt. Das angebliche "Ideal" in der Humanmedizin ist also eher ein Vergleichsmaßstab, während die gelebte Realität von Anfang an durch Varianz geprägt ist.
Selbst die Zahl von rund 2 % ist sogar in der Humanmedizin nicht unumstritten. Der Mediziner Leonard Sax hat 2002 in einer Reaktion auf Fausto-Sterling argumentiert, dass ihre Schätzung zu weit gefasst sei [4]. Seine Kritik: Nicht alle aufgeführten Diagnosen führen tatsächlich zu uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen. Besonders die mildere Form der kongenitalen Nebennierenhyperplasie (late-onset CAH), die mit etwa 1,5 % sehr häufig ist, äußert sich meist erst nach der Pubertät und betrifft hormonelle Abläufe, nicht die sichtbare Geschlechtsentwicklung bei Geburt. Ähnlich verhält es sich mit der Hypospadie bei der die Harnröhrenöffnung nicht an der Spitze des Penis liegt. Zwar weicht dabei die genitale Anatomie von der Norm ab, doch handelt es sich um eine Anomalie innerhalb des eindeutig männlichen Geschlechts. Zählt man solche Varianten nicht dazu, kommt man auf einen deutlich kleineren Anteil – etwa 0,018 % (1 von 5.500 Neugeborenen), bei denen die rein visuelle Geschlechtsbestimmung im Kreißsaal tatsächlich schwierig ist. Diese Zahl deckt sich mit den Angaben des deutschsprachigen medizinischen Fachlexikons Pschyrembel, welches eine Intergender-Häufigkeit in Höhe von 1 zu 5.000 (0,02 %) nennt [5].
Fazit
Welche Häufigkeit man für angemessen hält, hängt letztlich davon ab, wie eng oder weit man den Begriff "intergeschlechtlich" fasst. So kann man Intergender als Unterkategorie von Disorders of Sex Development verstehen. In dieser weiten Sichtweise, wie sie Anne Fausto-Sterling vertritt, umfasst DSD nicht nur eindeutig uneindeutige "Intersex-Zustände", sondern auch Chromosomen- und Hormonvarianten, die äußerlich kaum sichtbar sind. Versteht man unter "Intersexualität" bzw. Intergender hingegen nur jene seltenen Fälle, in denen die Geschlechtsausprägung bei Geburt tatsächlich uneindeutig ist, dann liegt der Anteil um den Faktor 100 deutlich niedriger.
Die verbreitete Aussage, Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen kämen in der Bevölkerung etwa so häufig vor wie Rothaarige, findet in der wissenschaftlichen Fachliteratur somit keine Bestätigung.
Quellen
[1] Dreger, Alice Domurat (1998). Hermaphrodites and the Medical Invention of Sex. Cambridge: Harvard University Press. https://doi.org/10.2307/j.ctvjsf700
[2] Dreger, A.D. (1998), “Ambiguous Sex”—or Ambivalent Medicine?: Ethical Issues in the Treatment of Intersexuality. Hastings Center Report, 28: 24-35. https://doi.org/10.2307/3528648
[3] Blackless, M., Charuvastra, A., Derryck, A., Fausto-Sterling, A., Lauzanne, K. and Lee, E. (2000), How sexually dimorphic are we? Review and synthesis. Am. J. Hum. Biol., 12: 151-166. https://doi.org/10.1002/(SICI)1520-6300(200003/04)12:2<151::AID-AJHB1>3.0.CO;2-F
[4] Sax, L. (2002). How common is lntersex? A response to Anne Fausto‐Sterling. The Journal of Sex Research, 39(3), 174–178. https://doi.org/10.1080/00224490209552139
[5] Pschyrembel Online: Intersexualität (abgerufen am 23.03.2024)