Sonntag, 11. August 2024

Kritische Einordnung multivariater Geschlechtsmodelle

Die Biologie hat eine lange Tradition, komplexe Naturphänomene so genau wie möglich zu beschreiben, ohne mehr hineinzulesen, als empirisch haltbar ist. Gleichzeitig rückt in wissenschaftlichen Publikationen immer häufiger die Forderung nach neuen Begriffen, erweiterten Modellen und einer stärkeren Sensibilität für Terminologie in den Mittelpunkt. Ein häufig in Debatten zum Thema "Geschlecht" vorgebrachter Artikel mit dem Titel "Multivariate Models of Animal Sex: Breaking Binaries Leads to a Better Understanding of Ecology and Evolution" von McLaughlin et al. (2023) knüpft an dieses Ziel an – zumindest vordergründig [1].

Er argumentiert, Tiergeschlecht sei kein binäres, sondern ein "multivariates" Phänomen und verspricht, die Vielfalt tierischer Sexualmerkmale jenseits einfacher Kategorien auszuleuchten. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die deskriptive Biologie häufig in unmittelbarer Nähe zu normativen, gesellschaftlich motivierten Aussagen steht, und sich manche Argumente gegen Annahmen richten, die in der modernen Biologie längst keine Rolle mehr spielen. Genau hier lohnt es sich genauer hinzusehen.

Sexuelle Vielfalt wird nicht bestritten

Der erste Teil des Papers zeichnet ein Bild, das jedem biologisch gebildeten Leser vertraut vorkommt: Das "biologische" Geschlecht (engl. sex; lat. Sexus) sei kein einheitliches Merkmal, sondern bestehe aus einer Vielzahl von Ebenen – von Chromosomen über Hormone und Anatomie bis hin zu Verhalten. Die Autoren zeigen anhand mehrerer Beispiele, dass diese Merkmale nicht immer miteinander korrelieren. Sie verweisen auf Vögel mit polyandrischen Paarungssystemen, Fische mit genetisch überlagerten Sexbestimmungssystemen, polymorphe Echsen mit mehreren reproduktiven Verhaltensformen innerhalb eines Geschlechts und Supergene, die angeblich "vier Geschlechter" hervorbringen.

Tatsächlich hat die Evolutionsbiologie seit vielen Jahrzehnten detailliert gezeigt, wie flexibel Sexualdimorphismen sein können. Territorialität, Aggressionsverhalten, Brutpflege, Körpergröße, Ornamentik – all diese Eigenschaften variieren artspezifisch und werden durch ein komplexes Zusammenspiel aus genetischen, hormonellen und ökologischen Faktoren geformt. Die Beispiele, die die Autoren anführen, sind spannend, aber keineswegs revolutionär. Es handelt sich um gut dokumentierte Fälle, die die biologische Diversität auf der Ebene der Geschlechtsausprägung und -organisation unterstreichen, jedoch nicht das Gesetz der Zweigeschlechtlichkeit brechen. Die Darstellung der Autoren erweckt jedoch gelegentlich den Eindruck, als hätte die Forschung bislang auch auf der Ebene der mit dem Geschlecht assoziierten Merkmale und Ausprägungen ausschließlich ein streng binäres und starres Modell verwendet, was so nicht zutrifft. Gerade Evolutionsbiologen keinen seit vielen Jahrzehnten Variation, Kontinua und polymorphe Strategien.

Wenn aus Vielfalt "nicht-binär" wird

Besonders deutlich wird der rhetorische Anspruch des Artikels beim Versuch, "binäre Modelle" generell als unzureichend darzustellen. Hier lohnt es sich, sauber zu trennen, was gemeint ist:

Der Gametentyp, also die Unterscheidung zwischen Eizellen und Spermien, ist in der Tierwelt tatsächlich universell binär. Die darauf basierende Definition des Geschlechts ist ebenfalls begrifflich klar und funktional stabil. Nichts in den von McLaughlin et al. (2023) angeführten Beispielen ändert etwas daran. Was hingegen vielfältig ist, sind die Merkmale unterhalb dieser übergeordneten Ebene: hormonelle Schwankungen, Temperaturanpassungen, sekundäre Sexualmerkmale oder alternative Lebensstrategien. Doch aus der berechtigten Beobachtung solcher Variation folgt nicht, dass die Kategorie "Geschlecht" als biologische Grundstruktur selbst "non-binar" wird. Der Artikel vermischt hier mehrere Ebenen und spricht gleichzeitig über Gameten, Chromosomen, Hormone und Verhalten, als wären sie konzeptionell gleichwertige Indikatoren für "sex". Das führt zur semantischen Auflösung des Begriffs, statt zu seiner Präzisierung.

Ein besonders prägnantes Beispiel ist die Weißkehlammer (Zonotrichia albicollis), die aufgrund eines chromosomalen Supergens zwei Morphe pro Geschlecht hervorbringt. Die Autoren formulieren zugespitzt, es gebe "vier operative Geschlechter". Biologisch gesehen ist diese Interpretation aber irreführend. Gametenproduktion bleibt auch hier eindeutig zweigeteilt: Männchen produzieren Spermien, Weibchen Eier. Was sich ändert, sind Verhalten, Hormonprofile und Paarungspräferenzen – aber diese Variation erzeugt keine vier Geschlechter, sondern vier reproduktive Phänotypen, von denen zwei auf jeweils einem Geschlecht basieren. Dass diese sich disassortativ paaren, ist evolutionsbiologisch hochinteressant. Aber es bricht nicht die binäre Struktur von Gameten auf, die das grundlegende Merkmal biologischer Geschlechterdefinition bleibt.

Strohmänner und rhetorische Konstruktionen

Ein zentraler Schwachpunkt des Papers liegt in den wiederkehrenden Behauptungen über eine angeblich weit verbreitete "simplistische binäre Sichtweise" in der Biologie. Evolutionsbiologen wissen seit Jahrzehnten, dass Sexualdimorphismen vielfältig sein können. Es gibt kaum jemanden, der ernsthaft meint, alle Merkmale eines Organismus seien strikt an einen idealisierten männlichen oder weiblichen Archetyp gebunden. Dennoch formulieren die Autoren die Argumentation, als müsse man eine dogmatische Lehrmeinung korrigieren. In Wahrheit wird jedoch ein kaum existierender Gegner adressiert, um ein alternatives Modell attraktiver erscheinen zu lassen. Solche Strohmänner tragen im populären Diskurs zwar zur Zuspitzung bei, schwächen aber die wissenschaftliche Argumentation.

Indem der Artikel so tut, als wäre die Biologie noch immer im 19. Jahrhundert verhaftet und müsse überhaupt erst lernen, dass Geschlechtsausprägungen und Verhalten nicht binär sind, wirkt ein erheblicher Teil der Argumentation künstlich. Das Problem wird nicht aus der modernen Wissenschaft selbst geboren, sondern aus der Debatte über gesellschaftliche Missverständnisse. Die Autoren verknüpfen Biologie und Soziopolitik so eng, dass das naturwissenschaftliche Argument zunehmend an Schärfe verliert.

Essenzielle Merkmale vs. akzidentelle Merkmale von Geschlecht

Gerade das Beispiel der "rollenvertauschten" Jacanas (Gelbstirn-Blatthühnchen (Jacana spinosa)) lohnt einen näheren Blick, denn hier zeigt sich besonders deutlich, wie im diskutierten Artikel zwei eigentlich getrennte Ebenen vermischt werden. Die Autoren kritisieren zunächst völlig zu Recht den anthropozentrischen Begriff "sex-role reversal". Ein Jacana-Weibchen verhält sich nicht untypisch, weil es aggressiv ist und Territorien verteidigt – es ist einfach nur ein Jacana-Weibchen, und sein Verhalten ist biologisch typisch für Weibchen dieser Art. Aus der Perspektive der Jacanas ist nichts "vertauscht". Ihre Sozialstruktur ist lediglich eine adaptive Strategie, die sich evolutiv etabliert hat. Insofern ist es richtig und begrüßenswert, wenn der Artikel aufzeigt, dass Begriffe wie "Rollentausch" problematisch sind, weil sie unbewusst eine Norm unterstellen, die biologisch nicht existiert.

Im weiteren Verlauf wird diese berechtigte Kritik an irreführenden Begriffen allerdings subtil dazu verwendet, das binäre Geschlechtskonzept selbst infrage zu stellen, als wären Jacana-Weibchen und die sonstigen Beispiele im Paper ein Beleg dafür, dass "männlich" und "weiblich" als Kategorien biologisch unzureichend seien. Genau hier entsteht der argumentative Fehlschluss: Die beobachtete Variation betrifft nicht das, was in der Biologie das essenzielle Merkmal von Geschlecht ist – nämlich die Art der Gameten, die ein Organismus produziert –, sondern ausschließlich akzidentelle Merkmale, also Begleitmerkmale, die sich über die Evolution hinweg flexibel verändern können. Die Vielfalt der akzidentellen Merkmale sagt nichts über die Struktur des essenziellen Merkmals aus. Dass ein Jacana-Weibchen territorial ist und ein Jacana-Männchen die Brutpflege übernimmt, widerlegt daher nicht die Binarität des Geschlechts, sondern bestätigt lediglich die bekannte Tatsache, dass sexuelle Selektionsdrücke zu unterschiedlichen Verhaltensstrategien führen können.

Wenn der Artikel Variation argumentativ so einsetzt, als spreche sie gegen das binäre Sexkonzept selbst, dann entsteht der Eindruck, als diene die berechtigte Sprachkritik am Anthropozentrismus implizit der Delegitimierung eines robusten biologischen Grundbegriffs. Hier zeigt sich exemplarisch, wie das Paper biologisch korrekte Beobachtungen nimmt, diese jedoch sprachlich in einem Frame präsentiert, der den eigentlichen Mechanismus überzeichnet.

Wenn Biologie und Politik kollidieren

Der letzte Abschnitt des Papers verlässt die strikt biologische Ebene vollständig und thematisiert politische Debatten, insbesondere um Geschlechtsbegriffe in Gesetzestexten und gesellschaftliche Diskurse über Transgender und Menschen mit nicht-binärer Identität. Dass wissenschaftliche Begriffe politisch missbraucht oder überverkürzt werden können, ist unbestritten. Allerdings verwischt der Artikel an mehreren Stellen die Grenze zwischen empirischer Beschreibung und normativer Positionierung. Das Anliegen, Missverständnisse zu vermeiden, ist begrüßenswert. Doch im Versuch, gesellschaftliche Argumentationsmuster zu korrigieren, verliert der Text selbst die analytische Trennschärfe, die Naturwissenschaft auszeichnet. Dadurch entsteht der Eindruck, dass biologische Beispiele selektiv hervorgehoben oder überinterpretiert werden, um gesellschaftliche Ziele zu stützen, statt gesellschaftliche Themen getrennt vom naturwissenschaftlichen Kern abzuhandeln.

Fazit

Der Aufsatz von McLaughlin et al. (2023) bietet interessante Beobachtungen und erinnert daran, wie vielfältig sich Organismen um die geschlechtliche Binarität organisieren. Viele Fallbeispiele sind biologisch faszinierend und die Kritik an nicht reflektierter Terminologie ist absolut berechtigt. Gleichzeitig verdeckt der normative Unterton, dass die meisten der angeblich "binären Dogmen" in der modernen Biologie längst keine Rolle mehr spielen. Die Unterscheidung zwischen Gameten als binärer Kernstruktur und den vielfältigen daraus hervorgehenden Merkmalen wird im Text unscharf behandelt, wodurch ein begriffliches Durcheinander entsteht. Statt ein präziseres Verständnis zu schaffen, droht "sex" hier rhetorisch aufgelöst zu werden.

Empirische Vielfalt sexueller Merkmale und die rhetorische Zuspitzung, von dieser Vielfalt auf eine grundlegende Revision des Sexbegriffs zu schließen, mögen zwar im selben Paper stehen. Doch sie sind nicht dasselbe.

Quellen

[1] J F McLaughlin, Kinsey M Brock, Isabella Gates, Anisha Pethkar, Marcus Piattoni, Alexis Rossi, Sara E Lipshutz, Multivariate Models of Animal Sex: Breaking Binaries Leads to a Better Understanding of Ecology and Evolution, Integrative and Comparative Biology, Volume 63, Issue 4, October 2023, Pages 891–906, https://doi.org/10.1093/icb/icad027

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