Mittwoch, 7. August 2024

Olympia: Der Fall Imane Khelif

Mit Bestürzung und wissenschaftlicher Sorge beobachten wir die aktuelle Debatte rund um die algerische Boxerin Imane Khelif, die trotz eines nicht bestandenen Geschlechtertests der International Boxing Association (IBA) bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris im Frauenboxen teilnehmen darf. Medien berichten unter Bezugnahme auf den IBA-Präsidenten Umar Kremlev, dass bei Khelif (wie auch bei ihrer taiwanischen Kollegin Lin Yu-ting) XY-Chromosomen sowie erhöhte Testosteronwerte festgestellt wurden, was nach den Regeln des Box-Weltverbandes als Kriterium für eine biologisch männliche Geschlechtszuordnung gilt: IBA clarifies the facts: the letter to the IOC regarding two ineligible boxers was sent and acknowledged

Der Mediziner und Präsident des europäischen Boxverbandes (EUBC) Dr. Ioannis Filippatos bestätigte im Rahmen einer Pressekonferenz, dass Khelif und Lin aufgrund nicht näher genannter Bluttests dem männlichen Geschlecht zuzuordnen seien: ‘They are men’: Dr Ioannis Filippatos weighs in on Olympic boxing gender row

Für das Internationale Olympische Komitee (IOC) gilt jedoch das Geschlecht im Pass, welches Khelif als weiblich ausweist und ihr die Teilnahme im olympischen Frauenboxen ermöglicht: Joint Paris 2024 Boxing Unit/IOC Statement

Hinter dieser Geschichte steckt ein biologisches wie ethisches Spannungsfeld, das sachlich diskutiert werden muss.

Was ist Androgenresistenz?

Das Androgenresistenzsyndrom (AIS) ist eine Anomalie, bei der aufgrund einer Mutation im Androgenrezeptor-Gen trotz XY-Chromosomensatzes der Körper nicht oder nur unvollständig auf Androgene (männliche Sexualhormone wie Testosteron) reagiert [1]. Es gibt zwei Hauptformen:

Komplette Androgenresistenz (CAIS): Der Körper ist vollständig unempfindlich gegenüber Testosteron. Betroffene entwickeln äußerlich ein weibliches Erscheinungsbild, welches bei der Geburt oberflächlich festgestellt und entsprechend dokumentiert wird, besitzen jedoch keine Gebärmutter oder Eierstöcke, sondern innenliegende, Testosteron freisetzende Hoden.

Partielle Androgenresistenz (PAIS): Eine teilweise Reaktion auf Testosteron führt zu einem uneindeutigen Geschlechtsbild oder einem weiblich erscheinenden Körper mit männlichen inneren Strukturen.

Bei beiden AIS-Formen handelt es sich demnach um Störungen der männlichen Geschlechtsentwicklung, weshalb Betroffene biologisch männlich einzustufen sind. In der Pubertät, die sich bei AIS-Betroffenen oft verzögert, können unterschiedliche Manifestationen auftreten, abhängig von der Schwere der Resistenz.
  • Genotyp: 46,XY SRY+ (genetisch männlich)
  • Hormonspiegel: Testosteron normal oder erhöht, DHT normal – aber Zielzellen reagieren nicht
  • Empfindlichkeit gegenüber Androgenen: Gestört oder vollständig blockiert
  • CAIS: Keine Androgenwirkung → Körper entwickelt sich äußerlich weiblich
  • PAIS: Uneindeutige Genitalien
  • Äußere Merkmale bei Geburt: Weiblich bei CAIS, uneindeutig bei PAIS
  • Pubertät: Keine Menstruation, keine Gebärmutter, aber weibliche Brustentwicklung (weil Testosteron in Östrogen umgewandelt wird)
  • Innere Geschlechtsorgane: Hoden vorhanden, keine Gebärmutter
  • Fruchtbarkeit: Unfruchtbar
Kurz: Die Androgene sind da, aber der Körper kann sie nicht nutzen, weil die Rezeptoren defekt sind.

Was ist ein 5α-Reduktase-2-Mangel?

Hierbei handelt es sich um einen Enzymdefekt (Mutation im SRD5A2-Gen), der die Umwandlung von Testosteron in Dihydrotestosteron (DHT) verhindert [2]. DHT ist eine besonders wirksame Form von Testosteron, notwendig für die Entwicklung der äußeren männlichen Genitalien während der Embryonalentwicklung.
  • Genotyp: 46,XY SRY+ (genetisch männlich)
  • Hormonspiegel: Testosteron normal oder erhöht, DHT stark vermindert
  • Empfindlichkeit gegenüber Androgenen: Normal – der Körper reagiert auf Testosteron, wenn es vorhanden ist
  • Äußere Merkmale bei Geburt: Weiblich oder uneindeutig, da DHT für die Ausbildung eines Penis notwendig ist
  • Pubertät: Durch steigendes Testosteron kann eine Vermännlichung einsetzen (Stimmbruch, Muskelaufbau, Wachstum des Phallus)
  • Innere Geschlechtsorgane: Hoden vorhanden, keine Gebärmutter
  • Fruchtbarkeit: Unfruchtbar
Kurz: Die Androgene wirken, aber das wichtige DHT fehlt – daher mangelhafte Entwicklung der äußeren männlichen Genitalien trotz männlichem Hormonprofil.

Anzumerken ist außerdem, dass viele Patienten mit einem 5α-Reduktase-2-Mangel zwar bei der Geburt als weiblich eingeordnet werden, später jedoch eine männliche Geschlechtsidentität entwickeln. Mendonca et al. (2016) betonen in einem umfangreichen Review-Paper die zentrale Rolle einer pränatalen und pubertären Androgenwirkung auf das Gehirn und die daraus resultierende Ausbildung einer männlichen Geschlechtsidentität [3].

Faszinierend ist in diesem Kontext das Phänomen der sogenannten "Guevedoces". Es tritt hauptsächlich in der Dominikanischen Republik auf und beschreibt männliche Menschen, die bei der Geburt weiblich erscheinen, da ihre äußeren Geschlechtsmerkmale aufgrund eines 5α-Reduktase-2-Mangels noch nicht vollständig entwickelt sind. In der Pubertät, wenn der Testosteronspiegel stark ansteigt, entwickeln sich bei den Betroffenen dann doch männliche Merkmale wie Penis und Hoden, was zu einer sichtbaren Geschlechtsveränderung führt. Der Name "Guevedoces" stammt aus dem Spanischen und bedeutet sinngemäß "Penis mit zwölf" – ein Hinweis auf das Alter, in dem die Veränderung meist auftritt.

Was ist das Swyer-Syndrom?

Der Vollständigkeit halber soll noch das Swyer-Syndrom (auch bekannt als 46,XY-Gonadendysgenesie) erwähnt werden, bei dem ebenfalls eine typisch männliche 46,XY-Chromosomenkombination bei weiblichem Erscheinungsbild vorliegt. Anders als die oben genannten Anomalien wird dieses Syndrom allerdings nicht dem männlichen, sondern dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, weil der Genotyp (46,XY SRY-) aufgrund einer Mutation oder Deletion des SRY-Gens (Sex determining region of Y), dem Masterkontrollgen für die männliche Geschlechtsentwicklung bei Säugetieren, als weiblich definiert wird. Die Geschlechtsdrüsen (Gonaden) sind unterentwickelt und daher nicht funktionsfähig. In der medizinischen Praxis ordnet man solche Fälle dem nächstliegenden funktionalen Geschlecht zu – in diesem Fall ebenfalls dem weiblichen Geschlecht, weil die äußeren und inneren Geschlechtsmerkmale weiblich ausgeprägt sind, da keine funktionellen Hoden und in der Folge keine Testosteron vorhanden sind.
 
Einen Überblick inklusive einer anschaulichen schematischen Darstellung der Entwicklungschritte der drei genannten Anomalien der Geschlechtsentwicklung liefern Reyes et al. (2023) [4].

Testosteron und körperliche Vorteile

Im Fall von Khelif sind ein 46,XY-Karyotyp sowie erhöhte Testosteronwerte bekannt (siehe Exklusivinterview mit Khelifs Trainer Georges Cazorla in 'Le Point'). Ebenso kann aufgrund ihrer phänotypischen Merkmale das Einsetzen einer männlichen Pubertät und demnach ein Vorhandensein des SRY-Gens angenommen werden. Dies deutet auf eine partielle Androgenresistenz, einen Steroid-5α-Reduktase-Mangel Typ 2 oder eine vergleichbare Störung der männlichen Geschlechtsentwicklung hin, bei der die Wirkung von Testosteron in der Fetal- oder Pubertätsphase zumindest teilweise funktionierte. Das Swyer-Syndrom kann demnach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Während der Pubertät bewirkt Testosteron bei XY-Personen eine tiefgreifende Veränderung:
  • Zunahme der Muskelmasse
  • Vergrößerung von Herz und Lunge
  • dichtere Knochenstruktur
  • höhere Hämoglobinwerte (bessere Sauerstoffversorgung)
  • schnellerer Kraftaufbau
Diese Effekte sind irreversibel, auch wenn später hormonelle Eingriffe vorgenommen werden. Studien wie die von Handelsman et al. (2018) bestätigen, dass die körperlichen Vorteile durch Testosteron-Exposition dauerhaft sind und in Kraft-, Ausdauer- und Explosivsportarten eine signifikante Rolle spielen [5]. Im Kontext des Boxens ist eine Arbeit von Morris et al. (2020) interessant, die zeigte, dass die Kraft der Arme bei Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen bei männlichen Studienteilnehmern gegenüber weiblichen Teilnehmerinnen um 162 % (also etwa das Zweieinhalbfache) erhöht ist [6].

Identität vs. Biologie

Die Entscheidung des IOC, sich in Teilen stärker auf die (angebliche) Selbstidentifikation zu stützen als auf biologische Grundlagen, führt zu einem Widerspruch zu Prinzipien sportlicher Fairness. Imane Khelifs Identität ist grundsätzlich zu respektieren und persönliche Diffamierungen lehnen wir entschieden ab. Es ist allerdings unbekannt, welche Geschlechtsidentität Khelif tatsächlich intrinsisch ausgebildet hat und ob diese ihrer nach außen präsentierten sozialen Geschlechterrolle entspricht, die womöglich im privaten Umfeld eine andere sein könnte als im sportlichen Kontext. Der Leistungssport beruht jedoch unabhängig davon auf objektiv messbaren Voraussetzungen wie Gewichtsklassen, Altersgruppen und Geschlechtertrennung, nicht auf subjektiven Empfindungen.

Wenn eine biologisch männliche Person, die von einer maskulinisierenden Pubertät profitiert hat, gegen biologische Frauen antritt, ist das nicht nur unfair, sondern untergräbt das Vertrauen in die Integrität des Sports. Das IOC scheint hier zunehmend ideologischen Druck über wissenschaftliche Erkenntnisse zu stellen.

Hinweise auf ein stillschweigendes Wissen?

Bei Olympia fällt Khelif durch außergewöhnliche Leistungen auf – etwa einem schnellen Sieg während ihres Auftaktkampfes gegen ihre italienische Gegnerin Angela Carini, die nach 46 Sekunden aufgeben musste. Sportliche Dominanz an sich ist zwar kein Beweis für biologische Vorteile, doch kombiniert mit dem XY-Befund ergibt sich ein konsistentes Bild.

Auch kulturelle Beobachtungen geben Anlass für Fragen: In Algerien ist es für Frauen unüblich, von Männern öffentlich umarmt oder gar körperlich gefeiert zu werden. Dennoch zeigen Aufnahmen, wie Khelif von männlichen Trainern und Betreuern emotional und körperlich gefeiert wird, als gäbe es keine Zweifel an ihrem Geschlecht und als wüssten alle Beteiligten stillschweigend um ihre biologische Männlichkeit.

Kritik an Khelifs Verhalten wäre somit zwar berechtigt, verlagert die Debatte jedoch auf den falschen Adressaten. Getreu dem Motto "Blame the game, not the player" sollte sich die Kritik in erster Linie auf das IOC konzentrieren. Verwiesen sei an dieser Stelle auf eine umfangreiche Stellungnahme renommierter Mediziner und Sportwissenschaftler im 'Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports', die betonen, dass die IOC-Statuten zu "Fairness, Inklusion und Nichtdiskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität und geschlechtlichen Variationen" die Fairness gegenüber Athletinnen in keiner Weise schützen [7].

Ein Aufruf zur Rückkehr zur Wissenschaft

Wir als Interessengemeinschaft eines naturalistischen Verständnisses der menschlichen Sexualbiologie empfehlen:
  • Eine klare und faire Einhaltung biologischer Kriterien bei der Geschlechtereinteilung im Sport.
  • Einen respektvollen, aber faktenbasierten Diskurs über DSD-Athleten ohne ideologische Scheuklappen.
  • Schutzräume für den Frauenleistungssport, in dem keine Athletin durch männliche Konkurrenz benachteiligt wird.
Denn Biologie ist keine Meinung. Sie ist Grundlage unserer körperlichen Realität – auch, wenn das manchmal unbequem ist.

Quellen

[1] Hughes IA, Davies JD, Bunch TI, Pasterski V, Mastroyannopoulou K, MacDougall J. Androgen insensitivity syndrome. Lancet. 2012 Oct 20;380(9851):1419-28. doi: 10.1016/S0140-6736(12)60071-3. Epub 2012 Jun 13. PMID: 22698698

[2] Okeigwe I, Kuohung W. 5-Alpha reductase deficiency: a 40-year retrospective review. Curr Opin Endocrinol Diabetes Obes. 2014 Dec;21(6):483-7. doi: 10.1097/MED.0000000000000116. PMID: 25321150.

[3] Berenice B. Mendonca, Rafael Loch Batista, Sorahia Domenice, Elaine M.F. Costa, Ivo J.P. Arnhold, David W. Russell, Jean D. Wilson, Steroid 5α-reductase 2 deficiency, The Journal of Steroid Biochemistry and Molecular Biology, Volume 163, 2016, Pages 206-211, ISSN 0960-0760, https://doi.org/10.1016/j.jsbmb.2016.05.020.

[4] Reyes, A.P., León, N.Y., Frost, E.R. et al. Genetic control of typical and atypical sex development. Nat Rev Urol 20, 434–451 (2023). https://doi.org/10.1038/s41585-023-00754-x

[5] David J Handelsman, Angelica L Hirschberg, Stephane Bermon, Circulating Testosterone as the Hormonal Basis of Sex Differences in Athletic Performance, Endocrine Reviews, Volume 39, Issue 5, October 2018, Pages 803–829, https://doi.org/10.1210/er.2018-00020
 
[6] Jeremy S. Morris, Jenna Link, James C. Martin, David R. Carrier; Sexual dimorphism in human arm power and force: implications for sexual selection on fighting ability. J Exp Biol 15 January 2020; 223 (2): jeb212365. doi: https://doi.org/10.1242/jeb.212365
 
[7] Lundberg, T.R., Tucker, R., McGawley, K., Williams, A.G., Millet, G.P., Sandbakk, Ø., Howatson, G., Brown, G.A., Carlson, L.A., Chantler, S., Chen, M.A., Heffernan, S.M., Heron, N., Kirk, C., Murphy, M.H., Pollock, N., Pringle, J., Richardson, A., Santos-Concejero, J., Stebbings, G.K., Christiansen, A.V., Phillips, S.M., Devine, C., Jones, C., Pike, J. and Hilton, E.N. (2024), The International Olympic Committee framework on fairness, inclusion and nondiscrimination on the basis of gender identity and sex variations does not protect fairness for female athletes. Scand J Med Sci Sports, 34: e14581. https://doi.org/10.1111/sms.14581

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