In sozialen Netzwerken kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen über das "biologische" Geschlecht. Mitglieder unserer Interessengemeinschaft, die sich für wissenschaftlich fundierte Aufklärung einsetzen, werden dabei immer wieder mit einem wiederkehrenden Muster konfrontiert. Eine sachliche Erklärung gerät plötzlich unter moralischen Generalverdacht. Was als biologischer Sachverhalt beginnt, endet im Vorwurf: Wer auf Zweigeschlechtlichkeit verweist, stütze angeblich Ideologien, die historisch Leid verursacht haben oder heute marginalisierte Gruppen unterdrücken.
Jüngst etwa erklärte eines unserer Mitglieder auf X (vormals Twitter) einem anderen Nutzer, dass der menschliche Körper aus diploiden somatischen Zellen besteht, während haploide Gameten (Spermien und Eizellen) ausschließlich der Reproduktion dienen und nicht Teil des somatischen Körperbaus sind. Der Unterschied zwischen somatischen Zellen und Gameten ist sowohl strukturell als auch funktional von grundlegender Bedeutung. Wer von "Geschlecht" spricht, bezieht sich im wissenschaftlichen Sinne auf die Art der Gametenproduktion: Spermien = männlich, Eizellen = weiblich. Diese Fakten sollten eigentlich unstrittig sein, denn sie gehören zum Basiswissen jeder schulischen Biologieausbildung.
Doch schnell entwickelt sich daraus eine Auseinandersetzung, die weniger von Erkenntnisinteresse als von ideologischer Abwehr geprägt ist. Der Gesprächspartner behauptete, dass Gameten selbstverständlich bloß "Teil des Körpers" seien, weil sie vom Körper gebildet würden. Sie wären deshalb nur ein Teil des Geschlechts, nicht dessen Definitionsgrundlage. Dabei wurde ignoriert, dass die grundlegende biologische Unterscheidung zwischen Körperbau und Reproduktion auch zwei verschiedene Zellteilungsmechanismen bedingt: Mitose für somatische Zellen und Meiose für die Bildung von Gameten.
Nachdem die inhaltliche Argumentation ins Stocken geraten war, folgte die nächste Eskalationsstufe: Die biologische Zwei-Geschlechter-Definition wurde mit historischer Unterdrückung, Gewalt und gesellschaftlichem Leid in Verbindung gebracht. Von der Behauptung, diese Sicht sei "esoterisch" über den Vorwurf eines "kulturellen Zwangs zur Binarität" bis hin zu Unterstellungen von "Perversion" im Kontext des Kinderschutzes driftete die Diskussion schließlich in persönliche Diffamierungen ab, die keinen sachlichen Zweck mehr hatten, sondern nur noch der Dämonisierung dienten. Wenn eine Diskussion von der Zytologie zur Zwangserziehung springt, ist man eindeutig im falschen Film.
Diese Diskussion ist kein Einzelfall. Sie ist exemplarisch für viele Debatten unserer Zeit, in denen wissenschaftliche Aussagen als Bedrohung erlebt bzw. markiert werden. Nicht, weil sie aggressiv formuliert sind, sondern weil sie mit bestehenden ideologischen Selbstbildern kollidieren. Was hier geschieht, ist kein Streit über Fakten, sondern über Deutungsmacht. Über die Kontrolle der moralischen Tonspur. Denn wer diese kontrolliert, kontrolliert oft das Gespräch. Wer Fakten moralisiert, erlangt die Deutungshoheit. Und jeder, der dann dagegen argumentiert, ist zwangsläufig unmoralisch.
Gängige Moralisierungen gegen biologische Zweigeschlechtlichkeit
Wer sich öffentlich zur Zweigeschlechtlichkeit äußert – als beschreibbare biologische Tatsache – begegnet in sozialen Debatten häufig drei moralisch aufgeladenen Gegenreaktionen:
1. "Die Nazis haben das auch vertreten."
Diese Argumentation zielt darauf ab, biologische Aussagen durch historische Assoziation zu diskreditieren. Weil das NS-Regime Geschlecht biologisch definierte und daraus Zwangsmaßnahmen ableitete, sei jede biologische Betrachtung verdächtig oder gefährlich.
Einordnung: Der Verweis auf historische Schuld soll abschrecken, er vermischt jedoch Beschreibung und Bewertung. Dass ein Unrechtsregime bestimmte Fakten missbrauchte, macht die Fakten nicht falsch. Auch die Nazis propagierten z. B. Ernährungsrichtlinien oder Hygiene. Niemand würde deshalb Zähneputzen als NS-Ideologie brandmarken. Die Wissenschaft trägt keine Schuld an ihrem Missbrauch.
2. "Zweigeschlechtlichkeit ist koloniales Denken."
Diese Perspektive behauptet, die Vorstellung von nur zwei Geschlechtern sei ein christlich-europäisches Konstrukt, das sogenannten "indigenen" Kulturen mit pluraleren Geschlechtsvorstellungen aufgezwungen wurde.
Einordnung: Zweigeschlechtlichkeit ist kein westliches Konzept, sondern ein evolutionär stabiles Prinzip, das bei der überwiegenden Mehrheit aller sexuell reproduzierenden Arten auftritt und objektiv beobachtbar ist. Sie lässt sich molekular, zellbiologisch, hormonell und funktionell nachweisen und zwar unabhängig von Kultur. Was Kulturen daraus machen (Rollen, Rechte, Normen), ist eine gesellschaftliche Frage, keine biologische. Auch sogenannte "dritte Geschlechter" in bestimmten Kulturen (z. B. Hijra in Indien, Two-Spirit im nordamerikanischen Raum) sind keine Belege für biologische Mehrgeschlechtlichkeit, sondern soziale Rollen (oft mit spirituellen oder religiösen Bedeutungen) außerhalb der biologischen männlich/weiblich-Binarität.
3. "Zweigeschlechtlichkeit diskriminiert Inter- und Transpersonen."
Hier wird unterstellt, dass jede Betonung der Binarität zur Ausgrenzung oder gar Gewalt gegen Menschen mit Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD) oder transidenten Personen beiträgt.
Einordnung: Es ist zweifellos wichtig, über die Vielfalt individueller Lebensrealitäten aufzuklären. Doch diese Anerkennung darf nicht durch die Verleugnung biologischer Fakten erkauft werden. Die Existenz von Anomalien und nicht-konformen Geschlechtsidentitäten widerlegt nicht die Tatsache, dass der Mensch sexuell dimorph rund um seine jeweilige Geschlechtszellenproduktion organisiert ist. Gerade für Menschen mit DSD ist medizinische Aufklärung über ihre Körper realitätsnah und notwendig. Ideologische Nebelkerzen helfen ihnen nicht, sondern erschweren ärztliche Versorgung.
Sciences vs. Humanities
Ein Teil der Verwirrung entsteht aus einer Vermischung zweier grundlegend verschiedener Wissenschaftskulturen:
- Realwissenschaften (Sciences) wie z. B. Biologie, Chemie, Physik sind beschreibend, empirisch und überprüfbar. Sie dienen der Erklärung und Vorhersage.
- Verbalwissenschaften (Humanities) wie z. B. Gender Studies, Soziologie, Literaturwissenschaft sind deutend und mitunter – insbesondere in historischen Kontexten – bewertend. Sie dienen dem Verstehen und der Interpretation.
Beide Perspektiven sind legitim, sie dürfen aber nicht verwechselt werden. Wenn biologische Aussagen nach moralischer Lesart bewertet werden, verlieren wir die Trennschärfe zwischen Fakt und Deutung. Das schadet der Aufklärung und letztlich auch dem gesellschaftlichen Diskurs.
Psychologische Hintergründe der Moralisierung
Wenn sachliche, biologisch überprüfbare Aussagen auf heftige moralische Gegenreaktionen stoßen, liegt das oft nicht an den Fakten selbst, sondern daran, was Menschen aus diesen Fakten für sich ableiten oder zu befürchten glauben.
Ein Schlüssel zum Verständnis ist der Begriff der kognitiven Dissonanz: Menschen geraten in inneren Konflikt, wenn neue Informationen im Widerspruch zu ihren Überzeugungen, Gefühlen oder sozialen Zugehörigkeiten stehen. Wer sich mit einem identitätspolitischen Weltbild identifiziert, das Vielfalt statt Binarität betont, empfindet die biologische Zweigeschlechtlichkeit nicht als Beschreibung eines evolutionären Mechanismus, sondern als Angriff auf das eigene Selbstverständnis oder das einer geschützten Gruppe. Die biologische Aussage selbst löst dann nicht nur intellektuellen Zweifel, sondern emotionale Abwehr vergleichbar mit einer Art Identitätsbedrohung aus. Die Folge ist, dass nicht das Argument geprüft und mit objektiver Evidenz widerlegt, sondern die Quelle moralisch delegitimiert wird. Egal, was gesagt wurde: "Das ist kolonial!", "Das ist rechts!", "Das ist transfeindlich!"…
In der Psychologie nennt man das motivierte Kognition. Dieser psychologische Prozess beschreibt, wie Motivation und Ziele die Art und Weise beeinflussen, wie wir Informationen verarbeiten und zu Schlussfolgerungen gelangen. Dabei werden Informationen, die unsere bestehenden Überzeugungen oder Wünsche bestätigen, oft bevorzugt und verstärkt, während Informationen, die diesen widersprechen, eher ignoriert oder abgewertet werden. Menschen verarbeiten Informationen somit nicht neutral, sondern so, dass sie das Selbstbild und die Gruppenzugehörigkeit schützen. Die Moral fungiert dabei wie ein Schild. Sie verhindert kognitive Dissonanz, schützt das innere Narrativ und stabilisiert das eigene Lager.
Kurz gesagt: Wenn naturalistische Realweltphänomene zur Bedrohung einer Weltanschauung werden, reagiert der Mensch nicht mit Neugier, sondern mit Verteidigung. Und die verläuft oft moralisch statt sachlich. Statt das Weltbild zu hinterfragen, greifen viele das Faktum oder den Überbringer an, um ihre psychische Kohärenz zu retten.
Zwischen Skepsis und Biophobie
In einem Nature-Editorial von 2017, mit dem Titel "Biohackers can boost trust in biology", wurde berichtet, wie Do-it-yourself-Biologen in Deutschland erfolgreich an offenen Experimentierformen arbeiteten und damit das Potenzial hatten, das Vertrauen der Bevölkerung in biologische Forschung zu stärken [1]:
"Such test cases could help Germany to develop a more rational approach to evaluating the promise and perils of biology — and so encourage a German public perception that biology does not always need to be locked up in a lab."
Der Subtext dieses Artikels weist auf ein typisch deutsches Dilemma hin: Übertriebene Vorsicht gegenüber Biotechnologie in Form einer Art "German Angst", die Fortschritt allzu schnell moralisch und rechtlich sanktioniert, aus Sorge vor Risiken oder Missbrauch. Der Nature-Artikel legt nahe, dass in Deutschland, historisch bedingt durch Eugenik und NS-Verbrechen, die Furcht vor Biowissenschaft oft in Biophobie ausartet – ein reflexhaftes Zurückweichen vor allem, was nach Genmanipulation riecht. Doch wenn wir aus Angst Fakten beschränken, blockieren wir Aufklärung.
Warum Social Media kein Debattenraum ist
Ein weiterer Grund, warum biologische Aufklärung in sozialen Medien so oft scheitert, liegt in der Kommunikationsdynamik dieser Plattformen. Was dort stattfindet, ist selten ein ehrlicher Austausch zwischen zwei Menschen, die an Erkenntnis interessiert sind, sondern oft eine Selbstdarstellung vor Publikum. In solchen Debatten sprechen viele nicht mit dem jeweiligen Gegenüber, sondern darüber hinweg zum eigenen Netzwerk. Wer am lautesten moralisiert, wird durch Likes, Retweets und weiterem Empörungskapital belohnt. Statt redlicher Auseinandersetzung findet ein soziales Schauspiel statt. Die Debatte wird so zur Bühne, das Argument zur Pose und der Diskutant zum Statisten. Aussagen werden nicht auf richtig oder falsch geprüft, sondern für das Publikum verdreht oder skandalisiert. Die Folge ist eine Vergiftung des Diskurses, bei der Wissenschaft nicht mehr erklären darf, was ist, weil bereits feststeht, was sein darf. Für biologische Aufklärung ist dieses Klima tödlich, denn es setzt nicht auf Verstehen, sondern auf Zuschreibung und Gesinnungstest.
Fazit: Warum wir nicht mitspielen
Zweigeschlechtlichkeit ist keine Meinung. Sie ist eine biologische Tatsache mit empirischer Grundlage. Ihre Benennung ist keine Diskriminierung, sondern eine Voraussetzung für medizinisches, pädagogisches und gesellschaftliches Verständnis. Moralische Argumente gegen biologische Aussagen entziehen sich der Diskussion, weil sie emotional aufgeladen sind. Wer sie kontrolliert, kontrolliert das Gespräch und verdrängt sachliche Aufklärung zugunsten von identitätspolitischer Deutungshoheit.
Wissenschaft braucht jedoch Luft zum Denken, nicht Applaus fürs Moralisieren. Wir brauchen mehr Unterscheidung zwischen Beschreibung und Bewertung, mehr Diskursräume ohne Tribalisierung und manchmal auch mehr Mut zum Ausstieg. Die IG Sexualbiologie hat sich deshalb entschieden, keine aktiven Social-Media-Kanäle zu betreiben. Wir setzen auf Wissen statt Aufmerksamkeit und auf Verständnis statt Klicklogik. Wir stehen für Aufklärung, nicht für Reichweite. Unsere Inhalte richten sich an Menschen, die Fragen stellen, nicht an jene, die Debatten inszenieren.
Natürlich beobachten wir auch weiterhin öffentliche Diskussionen und analysieren Kommunikationsmuster. Aber wir wissen auch: Wer sich mit Wissenschaft in die Arena der moralischen Empörung begibt, verliert… selbst wenn er recht hat.
Quellen
[1] Biohackers can boost trust in biology. Nature 552, 291 (2017). doi: https://doi.org/10.1038/d41586-017-08807-z
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