Sonntag, 2. November 2025

Der wissenschaftliche Exodus von X zu Bluesky

Seit über einem Jahrzehnt galt X (ehemals Twitter) als digitaler Marktplatz der Wissenschaft. Preprints wurden geteilt, Konferenzen angekündigt, Kollaborationen geboren. Doch seit der Übernahme durch Elon Musk im Jahr 2022 hat sich das Bild dramatisch gewandelt. Viele Einzelakteure, Institutionen sowie wissenschaftliche Vereine und Dachverbände haben X verlassen und sind zu Alternativen wie Bluesky oder Mastodon gewechselt.

Eine neue Studie von David S. Shiffman und Josh Wester, veröffentlicht in Integrative and Comparative Biology, dokumentiert nun erstmals empirisch, den wissenschaftlichen Exodus von X zu Bluesky [1]. Die Autoren befragten 813 Forscher auf beiden Plattformen und kommen zu einem vernichtenden Urteil: Für jeden professionellen Nutzen, den Twitter einst bot, erhalten Wissenschaftler diesen heute effektiver auf Bluesky. Doch ist dieser "Massenexodus" wirklich repräsentativ für "die Wissenschaft" oder nur für einen Teil von ihr?

Was sagt die Studie?

Shiffman und Wester (2025) listen systematisch auf, welche professionellen Vorteile Twitter einst bot und wie diese auf X verschwunden sind. Die Vernetzung mit Fachkollegen oder zum Zwecke interdisziplinärer Kooperationen litt etwa unter einem Algorithmus, der Reichweite statt Relevanz belohnt. Auch die Wissenschaftskommunikation wurde von Trollen und Pseudowissenschaft überflutet. Auf Bluesky dagegen berichten die befragten Wissenschaftler von vielen Vorteilen gegenüber X. 92 Prozent fühlen sich dort willkommen, 78 Prozent haben X komplett verlassen oder stark eingeschränkt.

Die Studie ist methodisch solide, doch sie ist nicht repräsentativ. Die Stichprobe erreichte vor allem Wissenschaftler, die bereits ausschließlich oder zusätzlich auf Bluesky aktiv waren, was einen klaren Bias in Richtung Frühanwender und Unzufriedener mit X erzeugt. Es fehlt außerdem eine Kontrollgruppe derer, die ausschließlich bei X geblieben sind, und auch eine Netzwerkanalyse, die zeigt, wie viele Follower tatsächlich mitgekommen sind, oder wie hoch die Zahl derer ist, die auf lange Sicht Bluesky wieder verlassen.

Wer verlässt X wirklich?

Nicht alle Forscher packen ihre Koffer. Der Exodus verläuft selektiv. Klassische Wissenschaftler, die sich auf Daten, Methodik und Publikationen konzentrieren, bleiben häufig oder reduzieren ihre Aktivität nur leicht. Influencer aus der Populärwissenschaft mit hoher Reichweite wandern hingegen ab, betreiben aber oft Cross-Posting oder Shadow-Accounts. Die Studie zeigt somit einen klaren Trend unter politisch engagierten Akteuren innerhalb der Wissenschaft und der Wissenschaftskommunikation (SciComm-Aktivisten). Insbesondere diejenigen, die sich zu gesellschaftsrelevanten Themen wie Klima, Diversität, öffentliche Gesundheit oder – wie in der Sexualbiologie – zu Geschlecht und Reproduktion äußern, verlassen die X in großer Zahl. Viele Wissenschaftler berichten, dass sie aus Angst vor Belästigung nicht mehr posten. Der Exodus ist hier also weniger ein wissenschaftlicher als ein emotionaler und kultureller Rückzug

Bluesky: Rettung oder Echokammer?

Bluesky bietet durchaus technische Vorteile gegenüber X: Ein chronologischer Feed verhindert algorithmische Manipulation, personalisierte Feeds ermöglichen fachspezifische Communities mit eigenen Moderationsregeln und das AT Protocol (Authenticated Transfer Protocol, kurz "atproto") verspricht langfristig echte Dezentralität. Doch kulturell entwickelt sich Bluesky zu einer geschlossenen Blase. Der Großteil der aktiven Wissenschaftler dort sind links-progressiv. Community-Labels wie "Pseudoscience" grenzen kontroverse Stimmen aktiv aus. Wer bleibt, fühlt sich sicher, wird aber selten mit Kritik herausgefordert. Bluesky ist kulturell dadurch zunehmend homogen.

Social Media war nie das Zuhause der Wissenschaft

Die eigentliche wissenschaftliche Kommunikation fand nie auf X oder Bluesky statt. Preprints auf bioRxiv oder PsyArXiv dienen der Entdeckung neuer Arbeiten, Journals und Peer Review sichern Qualität, ORCID und ResearchGate gewährleisten langfristige Sichtbarkeit. Social Media war stets bloß ein Marketing- und Networking-Tool – kein wissenschaftliches Instrument. Der Exodus vieler Kollegen nach Bluesky zeigt, dass X für engagierte Wissenschaftskommunikation unbrauchbar geworden ist – nicht aber für stille fachliche Kommunikation wie Paper-Posts oder Konferenzankündigungen. Bluesky wiederum bietet Schutz, droht aber zur geschlossenen Blase zu werden, in der Widerspruch fehlt.

Was bedeutet das für die Sexualbiologie? Unsere Disziplin ist doppelt betroffen: Unsere Themen sind politisch sensibel und ziehen bei einer differenzierten Kommunikation Hass sowohl von Seiten trans-exkludierender Radikalfeministinnen als auch von Seiten militanter Trans-Aktivisten an. Auf X gehen differenzierte Inhalte in der Masse an emotionalisierenden Informationen unter. Auf Bluesky wird berechtigte Kritik an Narrativen hingegen vorschnell aus dem Diskurs verdrängt. In diesem Spannungsfeld sind weder X noch Bluesky für eine sachliche, faktengestützte und zugleich ergebnisoffene Wissenschaftskommunikation geeignet.

Fazit

Die Shiffman/Wester-Studie ist ein wichtiger Weckruf, aber kein Grabgesang für X in der Wissenschaft. Sie zeigt, dass X für stille, fachliche Kommunikation nützlich bleibt. Bluesky ist die neue Heimat der politisierten Wissenschaftskommunikation – mit allen Risiken einer einseitigen Filterblase. Echte Wissenschaft braucht allerdings kein Social Media, sondern stabile, unabhängige Kanäle. Der Exodus ist also real, doch er betrifft vor allem die laute, politisierte Minderheit innerhalb der Wissenschaftscommunity. Die stille Mehrheit forscht jenseits der Plattformkriege einfach weiter.

Quellen

[1] D S Shiffman, J Wester, Scientists no Longer Find Twitter Professionally Useful, and have Switched to Bluesky, Integrative and Comparative Biology, Volume 65, Issue 3, September 2025, Pages 538–545, https://doi.org/10.1093/icb/icaf127

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts