In den Sozial- und Geisteswissenschaften (Humanities) mehren sich Forschungsansätze, die sich ausdrücklich als "aktivistisch" verstehen. Ein jüngstes Beispiel wurde im Journal 'Big Data & Society' veröffentlicht. Stevens & Doğan (2025) beschreiben darin, wie Transgender-Aktivisten Daten nutzen, um ihre Communities zu unterstützen und politische Veränderungen anzustoßen [1]. Ihre "Big Data" basieren dabei auf Interviews, die sie mit 16 Transgender-Aktivisten aus verschiedenen Bereichen führten – von Gesundheitsversorgung über Medienarbeit bis zu politischer Lobbyarbeit. Zugleich formulieren sie selbst den Anspruch, dass Fürsorge und Nützlichkeit für die Gemeinschaft wichtiger seien als "akkurate" oder "wahre" Daten.
Stevens und Doğan verorten ihre eigene Position dabei ausdrücklich innerhalb der untersuchten Community. Sie betonen mehrfach, selbst transidente Personen zu sein und schreiben, ihr Ziel sei es, "to use data to contribute to correction for epistemic disadvantage" ("Daten zu nutzen, um zur Korrektur epistemischer Benachteiligung beizutragen"). Diese Formulierung verdeutlicht, dass das Projekt nicht nur deskriptiv, sondern kompensatorisch angelegt ist. Forschung soll demnach bestehende Wissensungleichheiten und Machtasymmetrien ausgleichen. Aus erkenntnistheoretischer Sicht wird damit Wissenschaft bewusst als Werkzeug sozialer Gerechtigkeit definiert. Das ist selbst bei Offenlegung des normativen Anspruchs problematisch – insbesondere dort, wo politische Zielsetzung und empirische Überprüfung ineinander übergehen. Wenn Forscher ihr eigenes Erkenntnisinteresse als Teil einer kollektiven Fürsorgepraxis verstehen, verschiebt sich der Fokus von Erkenntnisgewinn hin zu Ermächtigung durch Forschung. Damit wird Wissenschaft selbst Teil der Intervention, nicht mehr Beobachterin des Gegenstands.
Dieser Ansatz wirft eine grundlegende erkenntnistheoretische Frage auf: Wie weit darf Wissenschaft sich in politische oder moralische Zielsetzungen einbinden lassen, ohne ihre methodische Unabhängigkeit zu verlieren?
Sciences: Wissenschaft als Methode
Die naturwissenschaftliche Tradition beruht auf Prinzipien wie Nachprüfbarkeit, Falsifizierbarkeit und intersubjektiver Kontrolle. Sie versucht, subjektive Interessen und moralische Präferenzen so weit wie möglich aus dem Erkenntnisprozess herauszuhalten. Das bedeutet nicht, dass Forscher "neutral" im Sinne einer Gefühllosigkeit wären, sondern dass die Methode so gestaltet sein sollte, dass persönliche oder politische Überzeugungen die Gültigkeit der Ergebnisse nicht bestimmen dürfen.
Aus dieser Perspektive ist Wahrheit keine Frage der Identität oder Zugehörigkeit, sondern der Evidenz. Erkenntnis entsteht dann, wenn Behauptungen so formuliert sind, dass sie überprüfbar und prinzipiell widerlegbar bleiben. Diese Offenheit ist Kern des wissenschaftlichen Fortschritts und sichert, dass Wissen nicht zur Meinung verengt wird.
Humanities: Wissenschaft als Moral
Stevens und Doğan betonen eine andere Herangehensweise. Wissen wird hier als situierte Erfahrung verstanden – also als Ergebnis der spezifischen Perspektive bestimmter sozialer Gruppen. Diese Idee entstammt der postmodernen Standpunkttheorie, nach der marginalisierte Positionen besondere Einsichten in gesellschaftliche Machtverhältnisse ermöglichen.
Durch einen solchen Forschungsansatz verschiebt sich jedoch der Fokus. Nicht mehr der methodische Nachweis steht im Zentrum, sondern das Ziel, Erfahrungen sichtbar zu machen und für politische Veränderungen nutzbar zu machen. Aus erkenntnistheoretischer Sicht entsteht hier ein Spannungsfeld. Wenn Daten primär nach ihrer Nützlichkeit für ein soziales Anliegen bewertet werden, tritt ihr Wahrheitsgehalt in den Hintergrund. Wissenschaft wird so zu einem Instrument der Parteinahme, was ihren Anspruch auf allgemeine Gültigkeit gefährdet.
Eine Forschung, die die Perspektive bestimmter Gruppen in den Mittelpunkt stellt, kann sicherlich wichtige Einsichten liefern, etwa über Diskriminierung, Zugangshürden oder gesellschaftliche Machtstrukturen. Kritisch wird es dort, wo diese Perspektive selbst zum Wahrheitskriterium erklärt wird – also wo nicht mehr empirische Überprüfbarkeit, sondern bloße Zugehörigkeit über epistemische Autorität entscheidet. Wenn "wahr" wird, was einer bestimmten sozialen Gruppe nützt, verschiebt sich die Wissenschaft in Richtung Erkenntnis relativ zum Standpunkt. Ein solches System verliert die Möglichkeit zur Selbstkorrektur, weil Kritik dann als Angriff auf Identität oder Moral interpretiert werden kann. In der Folge droht, dass Wissenschaft ihre Funktion als überindividuelles, rational überprüfbares Verfahren des Erkenntnisgewinns einbüßt.
Dass aktivistische Forscher diese Folgen in Kauf nehmen, ist bereits mehr als fragwürdig. Wenn solche Positionen aber darüber hinaus auch noch das Peer-Review-Verfahren eines führenden Fachjournals bestehen, ohne das einer der Begutachter auch nur leise Bedenken in Hinblick auf eine Veröffentlichung hegt, offenbart dies den besorgniserregenden Zustand, in welchem sich "die Wissenschaft" befindet.
Objektivität als demokratisches Prinzip
Vonseiten der Social-Justice-Bewegung wird Objektivität fälschlich mit Macht oder Dominanz gleichgesetzt – als "Blick von oben" privilegierter, in der Regel weißer, heterosexueller Männer. Doch in der wissenschaftlichen Praxis ist Objektivität kein Herrschaftsinstrument, sondern ein Schutzmechanismus. Sie schützt Forschung vor ideologischer Vereinnahmung und ermöglicht, dass Erkenntnisse auch von Menschen geteilt werden können, die völlig unterschiedliche Werte vertreten.
In diesem Sinne ist Objektivität ein demokratisches Prinzip. Sie sichert, dass wissenschaftliche Aussagen öffentlich überprüfbar und argumentativ zugänglich bleiben. Wenn aktivistische Forschung den Wahrheitsanspruch durch moralische Dringlichkeit ersetzt, läuft sie Gefahr, die gemeinsame Sprache der Wissenschaft zu verlassen.
Öffentliche Förderung für fragwürdige Forschung?
Das hier diskutierte Paper weist eine Förderung durch das National Science Foundation Graduate Research Fellowship Program (NSF-GRFP) aus – ein Programm, das ursprünglich auf den MINT- bzw. STEM-Bereich (Science, Technology, Engineering, Mathematics) ausgerichtet ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass "Trans Data Epistemologies" primär in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu verorten ist und keine empirisch-technische oder naturwissenschaftliche Forschungsarbeit im engeren Sinn darstellt. Die Förderung illustriert damit eine zunehmende Ausweitung des MINT-Begriffs in Richtung sozialwissenschaftlicher oder gar aktivistisch-kritischer Themenfelder, die lediglich einen formalen Bezug zu "Daten" oder "Technologie" aufweisen. Diese Entwicklung wirft Fragen auf, ob wissenschaftliche Förderprogramme wie das NSF-GRFP, deren Mandat ursprünglich der Förderung naturwissenschaftlich-technischer Grundlagenforschung dient, künftig klarer zwischen empirisch-wissenschaftlicher und kultur- bzw. sozialtheoretischer Forschung abgrenzen sollten – nicht um Themenvielfalt oder Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, sondern um Transparenz und Kohärenz in der Verwendung öffentlicher Forschungsmittel zu sichern.
Fazit
"Trans Data Epistemologies" von Stevens & Doğan (2025) steht exemplarisch für eine Bewegung, die Wissenschaft zunehmend als Teil gesellschaftlicher Kämpfe um Deutungshoheit versteht. Diese Perspektive mag politisch nachvollziehbar sein, sie verändert aber den epistemischen Auftrag der Forschung. Aus naturwissenschaftlicher Sicht bleibt entscheidend: Wissenschaft darf Empathie und Verantwortung haben, aber sie darf ihre methodische Distanz nicht aufgeben. Nur wenn Aussagen unabhängig von Überzeugung, Identität oder Zweck überprüfbar bleiben, kann Wissenschaft ihrem Kernauftrag gerecht werden, die Realität so zu beschreiben, wie sie ist – nicht, wie wir sie gern hätten.
Quellen
[1] Stevens, N., & Doğan, A. L. (2025). Trans data epistemologies: Transgender ways of knowing with data. Big Data & Society, 12(4). https://doi.org/10.1177/20539517251381694 (Original work published 2025)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen