Mittwoch, 10. Dezember 2025

"Inter Time" & "Intersex Joy" – queer-feministische DSD-Konzepte

Eine neue Publikation mit dem Titel "Temporal disobedience: Intersex timescapes, chronopolitics and intersex joy" von Tori Dudys ("she/her"), Celeste E. Orr ("they/them") und Casey Burkholder ("she/her"), erschienen im akademischen Journal 'Feminist Theory', ist ein theoretischer Entwurf, der die Lebensrealität von Menschen mit "Varianten" (bzw. Störungen) der Geschlechtsentwicklung (DSD) als zeitliche Abweichung von gesellschaftlichen Normen beschreibt und daraus ein neues Konzept namens "inter time" entwickelt [1]. Die These lautet, dass Körper und Biografien von DSD-Personen systematisch als störend oder unpassend empfunden würden, weil sie angeblich nicht in das westliche Ideal eines linearen, binären Lebenslaufs passen. Das Paper ist ein typisches Produkt gegenwärtiger queer-feministischer Hypothesenbildung.

Das Konzept der "Inter Time"

Im Zentrum des Artikels steht die Idee einer sogenannten "inter time" – einer nichtlinearen, nichtnormativen Zeitlichkeit, die sowohl von außen zugeschrieben als auch von Menschen mit DSD selbst gestaltet werde. Die Autorinnen beschreiben DSD-Personen als "zeitliche Störungen" einer gesellschaftlich erwarteten Entwicklung, die von Geburt über Kindheit und Jugend zu heterosexueller Partnerschaft, Reproduktion und einem geordneten Alter verläuft. Diese Normalbiografie wird als "weiße, cisheteronormative, endonormative" Struktur beschrieben, in deren Schatten DSD-Körper angeblich permanent als unpassend oder defizitär bewertet würden. Dieser Ansatz gewinnt seine Kraft weniger aus empirischer Forschung als aus dem hypothetischen Baukasten verschiedener kritischer Denkschulen (Critical Studies).

Die Wahrnehmung von Menschen mit anomaler Geschlechtsentwicklung ist tatsächlich oft von Verunsicherung, von Pathologisierung und von einem eingeengten Verständnis dessen geprägt, was als "normaler" Lebensverlauf gilt. In diesem Punkt kann das Konzept durchaus als Anstoß dienen, die eigenen Vorstellungen von Norm und Abweichung zu reflektieren. Wer allerdings gehofft hatte, es ginge um pragmatische Fragen im Sinne von "Wann sollten wir eigentlich mit Eltern über unnötige Operationen sprechen?", findet sich bei Dudys et al. (2025) stattdessen in einer Art Fantasy-Roman wieder.

Zeit als Machtinstrument?

Der Rahmen des Papers weitet sich zunehmend aus, indem die Autorinnen das DSD-Phänomen in ein Geflecht politischer Zeitordnungen einbetten, das sie als "chronopolitics" bezeichnen. Zeit sei nicht neutral, sondern ein Herrschaftsinstrument, über das gesellschaftliche Strukturen aufrechterhalten würden. DSD-Personen würden dabei mit einer paradoxen Mischung aus Unsichtbarkeit und Überpräsenz konfrontiert. Einerseits gelten sie vielen Menschen immer noch als kaum existent, andererseits werden sie dann, wenn sie auftreten, als Störfaktor oder Bedrohung sozialer Ordnung wahrgenommen, weil ihre Körper einer binären Logik widersprechen. Der Text verbindet diese Überlegungen mit historischen und kolonialen Erzählungen, in denen vermeintlich geschlechtlich "uneindeutige" Menschen als Symbol für Gefahr behandelt wurden. Zwar verliert sich der Text sich an dieser Stelle in hypothetischen Bezügen, doch bleibt die Art, wie wir über DSD sprechen, ein durchaus relevanter Gedanke.

Besonders bedeutend für die medizinische Praxis ist die Analyse, wie Erwartungen an einen "gelingenden" Lebensverlauf medizinische Entscheidungen beeinflussen. Das Paper kritisiert, dass Eltern und Ärzte mitunter zu stark von Projektionen auf eine vermeintlich bedrohte Zukunft geleitet werden. In dieser Logik werden operative "Korrekturen" vorgenommen, um das Kind vor einem späteren Leben zu schützen, das angeblich nicht erfüllbar sei, wenn der Körper nicht frühzeitig an einen binären Standard angepasst werde. Die Autorinnen führen zahlreiche Berichte Erwachsener an, die als Kinder chirurgisch verändert wurden, um später einmal "normalen" Geschlechtsverkehr haben zu können oder um sich besser in ein gegengeschlechtliches Beziehungsmodell einzufügen. In dieser Hinsicht berührt das Paper eine real existierende Problematik: Nicht selten basieren elterliche Entscheidungen auf Angst, Unsicherheit und einem kulturbedingten Idealbild, das dem Kind später sogar zum Nachteil gereichen kann.

"Zeitvandalismus" am "weißen cis-Hetronormativ"

Im weiteren Verlauf verbindet das Paper das medizinische Phänomen von DSD jedoch mit einer Vielzahl anderer (angeblich) "marginalisierter" Gruppen. Die Autorinnen entwickeln ein Netzwerk alternativer Zeitlichkeiten, darunter "schwarze Zeit", "indigene Zeit" und "queere Zeit", die allesamt unterschiedliche Erfahrungen von Ausgrenzung und Gewalterfahrung thematisieren und als Gegenentwürfe zu dominanten gesellschaftlichen Normvorstellungen fungieren. Für Leser aus der Humanmedizin oder gar den naturalistischen Lebenswissenschaften ist dieser Abschnitt vermutlich derjenige, der am stärksten nach akademischem Aktivismus klingt, da die Verknüpfungen oft eher symbolisch als analytisch wirken. Zeit wird gewissermaßen als gewaltige Verschwörerin gezeichnet, die Hand in Hand mit Kolonialismus und Heteronormalität durch die Welt spaziert und nicht eher ruht, bis alle Menschen in perfekte Normschablonen hineingepresst sind. Zeit ist hier keine physikalische Größe zur Beschreibung der Abfolge von Ereignissen, sondern eher eine sehr strenge Gesellschaft mit Terminplan, die ruft: "Du hättest eigentlich schon längst heiraten und reproduzieren sollen!" Wer dagegen aufgrund von körperlichen Entwicklungsstörungen "zeitlichen Ungehorsam" übt, begehe höflichen "Zeitvandalismus".

Abseits dieser wirren Thesen transportiert der Text aber eine brauchbare Einsicht: DSD-Menschen sind keine homogene Gruppe und ihre Lebenswege sind vielfältiger, als es medizinische Standardvorstellungen zulassen. Diese Vielfalt ernst zu nehmen bedeutet, ihre Zukunft nicht in eine vorgefertigte Schablone zu pressen, sondern Raum zu schaffen für unterschiedliche Formen von Körperlichkeit und Lebensplanung.

"Intersex Joy" – Willkommen im Regenbogenwunderland

Als zentraler Gegenentwurf wird die Idee einer "intersex joy" eingeführt. Die Autorinnen kritisieren, dass DSD-Verläufe in Forschung, Therapie und Öffentlichkeit häufig als Leidensgeschichten erzählt werden, während positive Erfahrungen, Identifikation oder Gemeinschaftsgefühl eher selten hervorgehoben würden. Ihr Ruf bedeutet hier nicht, vorhandene Probleme zu romantisieren oder Schmerz zu leugnen, sondern das Recht auf selbstbestimmte, nicht-defizitäre Lebensgeschichten einzufordern. Dieser Impuls besitzt durchaus Relevanz, denn medizinische Kommunikation ist oft defizitorientiert. Eltern hören zuerst von Risiken, Komplikationen, Fehlbildungen und Einschränkungen, und weniger von der Möglichkeit eines erfüllten, gesunden Lebens.

Während der Lektüre des Textes drängt sich allerdings immer stärker der Eindruck auf, dass DSD hier weniger um ihrer selbst willen betrachtet werden, sondern vor allem als geeignete Bühne dienen, um ein bereits vorab feststehendes Programm zu illustrieren. DSD werden konsequent in einen Rahmen eingebettet, der von queer-feministischen und dekolonialen Konzepten geprägt ist. Die medizinisch wie lebenspraktisch sehr unterschiedlichen Erfahrungen von Betroffenen werden zu einer homogenen Figur – einem mystischen "intersex body" –, die die entsprechenden Thesen demonstrieren soll. Dadurch entsteht ein merkwürdiges Ungleichgewicht, denn während der hypothetische Überbau immer komplexer und vielschichtiger wird, verliert sich die Konkretion der tatsächlichen Lebensrealitäten. DSD erscheinen nicht als vielfältiges Phänomen, das aus seiner spezifisch medizinischen Dynamik heraus verstanden wird, sondern als eine Art Beweisstück, das die Annahmen über "Normativität" und Macht untermauern soll. Diese Vereinnahmung von DSD-Betroffenen verstellt jedoch den Blick darauf, was Betroffene und ihre Familien tatsächlich benötigen – nämlich weniger ideologisch aufgeladene Deutungen und mehr differenzierte, alltagsnahe, erfahrungsbezogene Einsichten.

Fazit

Das Paper von Dudys et al. (2025) ist ein für Realwissenschaftler schwer zugänglicher Text, der DSD in ein umfassendes politisches und kulturelles Zeitgefüge einordnet. Für ein Publikum, das an sexualbiologischen Grundlagen, medizinischen Standards oder empirisch gestützten Erkenntnissen interessiert ist, wirkt der Text politisch überladen und spekulativ. Doch trotz der ideologischen Rahmung enthält das Paper wichtige Denkanstöße. Es macht deutlich, dass DSD immer auch sozial wahrgenommen und bewertet werden. Der Vorschlag, die Zukunft von Kindern mit DSD nicht im Voraus normieren zu wollen, ist durchaus sinnvoll. Aber statt dieses Anliegen schlicht zu artikulieren, werfen die Autorinnen es in einen Mixer wirrer Zeitkonzepte, postkolonialen Denktraditionen und einem Schuss Queer-Theorie. Ihre Publikation wirkt daher weniger wie eine Analyse der Lebensrealität von Menschen mit DSD, sondern weit mehr wie ein Vehikel, um postmoderne Konstrukte mit einem realweltlichen Beispiel akademisch sowie gesellschaftlich zu verankern.

Quellen

[1] Dudys, T., Orr, C. E., & Burkholder, C. (2025). Temporal disobedience: Intersex timescapes, chronopolitics and intersex joy. Feminist Theory, 0(0). https://doi.org/10.1177/14647001251389818

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