Sonntag, 7. Dezember 2025

"Sexdiversity" und die anthropozentrische Dekonstruktion von Geschlecht

Der Sonderforschungsbereich (SFB) 1665 "Sexdiversity" der Universität zu Lübeck ist ein interdisziplinäres Forschungsverbundprojekt, das biologische, medizinische, sozial- und geisteswissenschaftliche Perspektiven auf Geschlecht zusammenführen will. Der SFB verfolgt das Ziel, Geschlechtlichkeit als vielschichtiges, kontextabhängiges und in unterschiedlichen biologischen wie gesellschaftlichen Ebenen variierendes Phänomen zu untersuchen. Dabei werden traditionelle, evolutionsbiologisch fundierte Definitionen von Geschlecht kritisch hinterfragt. Genau an dieser Stelle entsteht ein grundlegender wissenschaftlicher Dissens: Während "Sexdiversity" versucht, die Vielzahl real vorkommender Sexualsysteme als Argument für eine Auflösung oder Relativierung der biologischen Geschlechtsbinarität heranzuziehen, halten wir als streng materiell-naturalistisch orientierte IG Sexualbiologie an der universellen, d. h. Taxon übergreifenden Definition fest, die Geschlecht ausschließlich über die Anisogamie, also die Existenz zweier unterschiedlich großer Gametentypen, definiert.

Im Dezember 2024 veröffentlichte der SFB 1665 einen Blogbeitrag der am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt‑Universität zu Berlin tätigen Biologin und Gender-Theoretikerin Kerstin Palm sowie des Philosophen und Bioethikers Christoph-Rehmann Sutter mit dem Titel "Wie viele biologische Geschlechter gibt es eigentlich?", der dringend einer fachlichen Einordnung bedarf.

Bio-Grundlagen: Was Geschlecht tatsächlich definiert

Im einleitenden Teil des "Sexdiversity"-Beitrags wird argumentiert, die Aussage, es gebe zwei biologische Geschlechter, sei "zu einfach", da die Natur eine Vielfalt an Sexualsystemen hervorgebracht habe, die mit einem binären Ansatz nicht zu erfassen sei. Diese einleitende Argumentation verwechselt direkt zwei Ebenen, die in der Biologie strikt auseinandergehalten werden müssen: die Definition des Geschlechts und die Vielfalt der daraus angeleiteten Fortpflanzungsstrategien. Auf dieser kategorialen Verwechslung fußt letzten Endes die gesamte Argumentation Beitrags.

Für die Bestimmung von Geschlecht als biologische Kategorie ist nicht entscheidend, wie viele Sexualsysteme existieren, ob Arten getrenntgeschlechtlich, zwittrig oder in besonderen Entwicklungszyklen organisiert sind. Entscheidend ist allein, dass in sämtlichen bekannten Formen anisogamer sexueller Fortpflanzung nur zwei Gametentypen existieren: große, nährstoffreiche Eizellen und kleine, zahlreiche Samenzellen (bei Pflanzen) bzw. Spermien (bei Tieren). Diese universelle Dichotomie bildet die naturwissenschaftliche Grundlage für die binäre Definition von Weibchen und Männchen. Auch Zwittrigkeit oder komplexe Reproduktionsmodi ändern daran nichts, denn sie betreffen die Verteilung dieser beiden Gametentypen resp. Geschlechter innerhalb von Individuen oder Populationen, nicht jedoch deren Anzahl.

Die von "Sexdiversity" hervorgehobene Diversität ist selbstverständlich real. Aber sie betrifft die Organisation von Geschlecht, nicht die Zahl der Geschlechter selbst.

Vielfalt der Sexualsysteme ≠ Vielfalt der Geschlechter

Der beschriebene Reichtum an Sexualsystemen ist somit unbestritten. Hermaphroditismus, getrenntgeschlechtliche Blüten, sequenzielle Geschlechtswechsel bei Fischen oder flexible Blühformen bei Pflanzen zeigen eindrucksvoll, wie unterschiedlich Organismen ihre Fortpflanzung optimieren. Doch all diese Beispiele betreffen die Verteilung und Regulation zweier Geschlechter. Hermaphroditische Organismen bringen männliche und weibliche Gameten hervor, aber sie tun dies, weil ein und dasselbe Individuum Funktionen beider Geschlechter übernehmen kann. Die Kategorie "Hermaphrodit" (von Hermes = männlich und Aphrodite = weiblich) beschreibt damit eine binäre Fortpflanzungsstrategie, aber kein eigenständiges Geschlecht abseits der Binarität. Und sequenzielle Hermaphroditen wie Clownfische verdeutlichen flexible Mechanismen, die bestimmen, welches der beiden Geschlechter ein Individuum zu welchem Zeitpunkt ausbildet. Die Variation liegt hier eindeutig im Zeitpunkt, nicht in der Anzahl der Geschlechter.

Auch die im Beitrag zitierte Übersicht von elf Sexualsystemen zeigt nicht elf Geschlechter, sondern elf Weisen, wie Organismen die Zweigeschlechtlichkeit logistisch organisieren. Dass es zahlreiche Kombinationen, Verteilungen und Strategien gibt, ist ein Hinweis auf evolutive "Kreativität", nicht auf eine Auflösung der binären Geschlechterordnung. Die Schlussfolgerung, die Existenz vieler Sexualsysteme lasse die Frage nach der Anzahl biologischer Geschlechter offen, verwechselt Organisationsebenen. Geschlecht ist ein funktionaler, gametenbasierter Mechanismus, Sexualsysteme sind Konzepte, wie dieser Mechanismus evolutionär in Erscheinung tritt. Der SFB "Sexdiversity" zieht aus der Diversität der einen Ebene Schlussfolgerungen über die Anzahl der Kategorien auf einer anderen – eine kategoriale Verschiebung, die wissenschaftlich nicht trägt.

Besonders deutlich wird diese begriffliche Vermischung bei der Argumentation zur Isogamie. Isogame Organismen besitzen keine Geschlechter, weil alle Gameten gleich groß und gleich geformt sind. Die Kreuzungstypen ("mating types") isogamer Arten sind keine Geschlechter im biologischen Sinne, da ihnen die definierende Eigenschaft eines Geschlechts fehlt: die Produktion unterschiedlich großer Gametentypen. Man kann schließlich keine Geschlechter unterscheiden, wenn kein Merkmal vorliegt, welches die Geschlechter voneinander unterscheidet. Vielmehr handelt es sich um genetische Kompatibilitätssysteme, die die Paarung regeln. Der Hinweis, anisogame Arten hätten isogame Vorfahren, ist evolutionsbiologisch zwar korrekt, aber irrelevant für die Frage, wie viele Geschlechter anisogame Arten heute besitzen. Und aus der Erkenntnis, dass Sexualität evolutionär entstanden ist, folgt nicht, dass sie in ihrer gegenwärtigen Form beliebig wandelbar wäre.

Komplexität der Körperentwicklung ersetzt nicht Binarität

Die vielfältigen Ebenen der Körperentwicklung (Genetik, Hormone, Morphologie, Verhalten) betreffen die Ausprägung und Regulierung geschlechtlicher Merkmale, nicht die Definition von Geschlecht selbst. Geschlecht ist in der Biologie kein Sammelbegriff für alle Eigenschaften, die irgendwie mit Fortpflanzung oder geschlechtlicher Differenzierung zusammenhängen. Er bezeichnet lediglich die Rolle eines Organismus bei der Produktion anisogamer Gameten. Diese Definition ist nicht durch Komplexität unterlaufen, sondern gerade die Grundlage, um Komplexität sinnvoll zu beschreiben.

Wenn der "Sexdiversity"-Beitrag darauf verweist, dass Individuen genetisch, hormonell oder anatomisch in vielfältigen Ausprägungen vorkommen, beschreiben sie die biologische Variabilität der Geschlechtsentwicklung und -ausprägung. Auf dieser Ebene existieren in der Tat Gradienten und Varianten – das ist trivialerweise in nahezu jedem biologischen System der Fall. Chromosomenzahl, Hormonspiegel, Organanlage oder auch das Verhalten sind komplexe, dynamische, oft "nicht-binäre" Merkmalsräume. Doch diese Komplexität betrifft eben bloß die Merkmale einer Kategorie, nicht die Kategorien selbst. Auch Temperaturabhängigkeit der Geschlechtsdetermination wie bei manchen Reptilien ändert nichts daran, dass die resultierenden Individuen darauf ausgerichtet sind, entweder funktional männliche oder funktional weibliche Gameten zu produzieren.

Indem die Autoren sämtliche Ebenen geschlechtlicher Entwicklung zu "Dimensionen des Geschlechts" erklären, wird die funktionale Kernfrage überdeckt. Die gametische Rolle wird so zu einem beliebigen Merkmal von vielen. Die Kategorie "Geschlecht" bleibt trotz dieses Dekonstruktionsversuchs selbst im komplexesten denkbaren Entwicklungsprozess binär – und genau deshalb ist die Reduktion auf Keimzellen keine "Banalisierung" oder "logisch zirkulär", sondern eine methodische Klarheit, die verhindert, dass wissenschaftliche Begriffe unscharf werden.

Die Beschreibung, man könne das "Körpergeschlecht" (gemeint ist der Sexus – also schlichtweg das Geschlecht) wegen genetischer und anatomischer Vielfalt nicht mit einem binären Schema fassen, verkennt zudem die wissenschaftliche Rolle von Kategorien. Dass eine Kategorie zwei Klassen unterscheidet, bedeutet nicht, dass alle Merkmale, die mit diesen Klassen zusammenhängen, strikt zweigeteilt sein müssen. Die Kategorie "Säugetier" bleibt beispielsweise auch dann noch klar definiert, obwohl sämtliche Merkmale, die Säugetiere tragen (Stoffwechsel, Fell, soziale Organisation usw.) enorme Kontinua aufweisen und teilweise auch in anderen Tierklassen auftreten, die dann aber nicht aufgrund eines kategorialen Denkfehlers zu "Säugetieren" erklärt werden oder die Definition oder gar Existenz von Säugetieren generell infrage gestellt wird. Ebenso verhält es sich beim Geschlecht: Die Kategorie bleibt binär, während deren Merkmale in ihrer Ausprägung vielfältig variieren können.

Die Komplexität von Entwicklungswegen ist daher kein Argument gegen die Binarität des Geschlechts, sondern ein Argument für sorgfältige begriffliche Trennung. Wer über Ausprägungsmerkmale spricht, sollte diese als solche benennen. Wer sie mit kategorialen Definitionen vermischt, riskiert, dass das wissenschaftliche Verständnis unklar wird. Die gametenbasierte Definition bewahrt hier genau die Trennschärfe, die notwendig ist, um komplexe biologische Systeme überhaupt sinnvoll zu analysieren.

Biologie ist nicht anthropozentrisch

Im Abschnitt zur Biologie des Menschen vermischen die Autoren erneut verschiedene Erklärungsebenen. Evolutionsbiologische Rollenmodelle, Entwicklungsgenetik, kulturelle Geschlechterordnungen und neurobiologische Plastizität werden dem Konzept des Geschlechts gegenübergestellt, als ließen sich daraus neue Geschlechtskategorien oder eine Auflösung der Binarität ableiten. Doch all diese Aspekte betreffen nicht das Geschlecht selbst, sondern die Art und Weise, wie Menschen ihre Körper entwickeln, nutzen, sozial interpretieren und kulturell einbetten. Die Aussagen zeigen – ohne es deutlich zu machen – vor allem eines: Viele der in dem "Sexdiversity"-Beitrag diskutierten Phänomene haben mit der biologischen Definition von Geschlecht schlicht nichts zu tun.

Zunächst ist der Hinweis auf prähistorische Geschlechterordnungen kein biologisches Argument. Menschliche Rollenverteilungen – ob in Jäger-Sammler-Gesellschaften oder in heutigen Kulturen – beschreiben soziale Praxis, keine Fortpflanzungsbiologie. Zwar leiten sich Verhaltensmuster durchaus aus der biologischen Geschlechterordnung ab, doch auch diese sind lediglich eine Folge der Art und Weise, wie sich menschliche Körper rund um ihre binäre Geschlechterordnung organisiert haben, nicht deren Definitionsbasis. Dass archäologische Befunde heute differenziertere soziale Rollenmodelle erkennen lassen, ändert nichts daran, dass die biologische Definition von Weibchen und Männchen heute und in der Rückschau einzig auf der Produktion großer bzw. kleiner Gameten beruht. Soziale Rollen und biologische Geschlechterkategorien existieren auf unterschiedlichen Ebenen und können nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Auch die entwicklungsgenetischen Hinweise sind wissenschaftlich korrekt, aber für die Debatte irrelevant. Dass Gene nicht "Befehlszentralen" sind, sondern in komplexen Netzwerken fungieren und auf Umwelteinflüsse reagieren, ist seit Jahrzehnten zentrale Erkenntnis der modernen Entwicklungsbiologie. Die daraus resultierende "Reaktionsnorm" macht deutlich, dass phänotypische Merkmale wie etwa Hormonspiegel, sekundäre Geschlechtsmerkmale oder bestimmte Verhaltensdispositionen in einem gewissen Rahmen variieren können. Doch diese Flexibilität betrifft erneut Ausprägungen, nicht Kategorien. Wie stark ein Bart wächst, wie ein Becken gebaut ist oder wie sich ein Gehirn in bestimmten Lebensphasen umbaut, sind graduelle Merkmale, deren Variation keine Geschlechter abseits männlich oder weiblich erzeugt.

Besonders wichtig ist die Differenzierung zwischen Chromosomenvarianten und Geschlecht. Die im "Sexdiversity"-Beitrag genannten 47,XXY (Klinefelter-Syndrom), 45,X0 (Turner-Syndrom) oder andere aneuploide Konstellationen führen zu Abweichungen in der Geschlechtsentwicklung männlicher oder weiblicher Personen, aber ausdrücklich nicht zu neuen Gametentypen und daher auch nicht zu neuen Geschlechtern. Auch auf den ersten Blick nicht eindeutige Ausprägungen verändern nicht die Tatsache, dass Menschen darauf ausgerichtet sind, Eizellen oder Spermien zu bilden und zu diesem Zweck einen von zwei Entwicklungspfade einschlagen, die im optimalen Fall eine Reproduktion mittels einer der beiden Geschlechtszellen ermöglicht. Chromosomenanomalien sind daher gestörte Entwicklungsvarianten, keine neuen, geschlechtsbildenden Entwicklungspfade. Der Versuch, aus ihrer Existenz einen Einwand gegen die binäre Geschlechtskategorie abzuleiten, ist ein Kategorienfehler: Die Störung eines binären Systems erzeugt keine dritte Kategorie, sondern eine Variation innerhalb eines bestehenden zweigliedrigen Rahmens. Ein Mikropenis ist weiterhin ein Penis, kein Neo-Genital eines neuen Geschlechts.

Schließlich führt auch die neurobiologische Plastizität nicht zu einer Auflösung des Geschlechtsbegriffs. Das Gehirn ist dynamisch, aber die Art und Weise, wie neuronale Netzwerke sich reorganisieren, hat keinen Einfluss auf die Definition von Geschlecht. Gehirne lernen, verändern sich und werden kulturell geprägt – Gameten nicht.

Fazit

Der menschliche Körper ist komplex, variabel und von Umwelt und Kultur geprägt. Doch die biologische Definition des Geschlechts ist nicht in diesen anthropozentrischen Merkmalen verankert, sondern in der universellen, funktionalen Rolle bei der sexuellen Fortpflanzung. Wer Variabilität in Merkmalen mit Variabilität in der Anzahl der Geschlechter verwechselt, verlagert die Diskussion von der Ebene der Biologie auf die Ebene der sozialen Interpretation und vermischt damit Kategorien, die präzise getrennt bleiben müssen, um wissenschaftlich tragfähig zu sein.

Am Ende des "Sexdiversity"-Beitrags wird zum Weiterlesen auf eine Fachpublikation von McLaughlin et al. (2023) verweisen, die wir bereits an anderer Stelle diskutiert haben: Kritische Einordnung multivariater Geschlechtsmodelle

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