In den letzten Jahren berichten Ärzte, Psychologen und Beratungsstellen zunehmend über einen deutlich ansteigenden Trend junger Menschen, die sich als "trans" identifizieren oder mit ihrer Geschlechtsidentität hadern. Besonders auffällig erscheint einigen Beobachtern, dass diese Entwicklung in manchen Altersgruppen und sozialen Kontexten besonders stark ausgeprägt ist – etwa bei Jugendlichen, die zuvor keine Anzeichen von Geschlechtsdysphorie gezeigt haben.
Gestützt wird diese anekdotische Evidenz durch eine im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichte Analyse von Versichertendaten, die einen rund achtfachen Anstieg der Diagnosen sogenannter "Störungen der Geschlechtsidentität" bei 5- bis 24-Jährigen in Deutschland zwischen 2013 und 2022 dokumentiert [1]. Besonders stark war der Zuwachs bei 15- bis 19-jährigen Mädchen. Mehr als 70 % der Betroffenen wiesen zudem mindestens eine weitere psychiatrische Diagnose auf – am häufigsten Depressionen, Angststörungen, Autismus sowie ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Auffällig ist auch, dass die Diagnose in vielen Fällen nicht stabil blieb. Fünf Jahre nach der Erstdiagnose war sie bei mehr als der Hälfte der Jugendlichen nicht mehr vorhanden, bei der besonders betroffenen Gruppe der 15- bis 19-jährigen Mädchen sogar nur noch in etwa einem Viertel der Fälle. Die Autoren betonen, dass die Daten keine Aussagen zu Ursachen oder therapeutischen Konsequenzen erlauben, aber klare Trends in Häufigkeit und Verlauf aufzeigen.
Während Trans-Verbände diese Entwicklung als Zeichen größerer gesellschaftlicher Offenheit werten, sehen Skeptiker darin einen Hinweis auf mögliche soziale oder kulturelle Einflüsse. Denn eine grundsätzliche gesellschaftliche Offenheit gegenüber Transidentitäten beträfe alle Altersgruppen mehr oder weniger gleichermaßen. Das vor allem die vulnerable Gruppe junger Mädchen der Generationen Z und Alpha deutlich stärker betroffen ist, ist eine Beobachtung, die sich nicht ausschließlich mit einer höheren gesellschaftlichen Akzeptanz erklären lässt.
Eine weitere Erklärung, die in diesem Zusammenhang diskutiert wird, ist die sogenannte Rapid-Onset Gender Dysphoria (ROGD) – also einer schnell einsetzenden Geschlechtsdysphorie. Diese Hypothese ist jedoch sowohl in der Trans-Community als auch in der Fachwelt umstritten und wird von maßgeblichen medizinischen Fachverbänden bislang nicht als gesicherte Diagnose anerkannt.
Die ROGD-Hypothese
Die Humanbiologin und Wissenschaftsjournalistin Meredith Wadman berichtete 2018 im Wissenschaftsjournal Science über die 2018 formal eingeführte Hypothese der sogenannten Rapid-Onset Gender Dysphoria [2]. Ausgangspunkt war eine Studie von Lisa Littman, welche das Phänomen insbesondere bei Jugendlichen ohne vorherige Anzeichen von Geschlechtsdysphorie beschreibt [3]. Laut Littman entwickelte eine Subgruppe von Jugendlichen – vorwiegend bei solchen, die im Kindesalter keine Geschlechtsinkongruenz zeigten – plötzlich im oder nach dem Pubertätsalter Gefühle von Geschlechtsinkongruenz.
In der Studie wurden durch einen Online-Fragebogen (verteilt über drei Internetforen) insgesamt 256 Elternteile befragt. Diese beschrieben, dass bei ihren Kindern plötzlich Geschlechtsdysphorie auftrat, ohne vorherige Geschichte entsprechender Empfindungen. Viele dieser Jugendlichen hätten vor dem Auftreten der Dysphorie eine Zunahme der Nutzung sozialer Medien gezeigt und würden sich in Peer-Gruppen bewegen, in denen mehrere Gleichaltrige zeitgleich eine Transgender-Identität annahmen. Zudem berichteten Eltern, dass zahlreiche Jugendliche bereits vor dem Auftreten geschlechtlicher Dysphorie psychische Belastungen oder neuropsychologische Diagnosen aufwiesen, zum Beispiel im Bereich Angst oder Autismus.
Littman schlug vor, dass bei dieser Subgruppe die ROGD möglicherweise auf soziale Einflüsse ("soziale Ansteckung") und maladaptive Bewältigungsstrategien zurückzuführen sei, sodass Geschlechtsdysphorie als eine Form der Bewältigung fungieren könnte, statt einer authentischen (intrinsisch verankerten) Geschlechtsidentität zu entsprechen. Mit ihrem Science-Artikel führte Wadman den Begriff Rapid-Onset Gender Dysphoria sachlich ein: eine Hypothese, die eine abrupt auftretende Form der Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen beschreibt, oft ohne vorherige Indikatoren in der Kindheit, und die mögliche Einflüsse wie Peergroup und Mediennutzung in den Blick nimmt.
Kritik an der ROGD-Hypothese
Die Studie von Littman wurde bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung vor allem von ideologisch motivierten Trans-Verbänden heftig kritisiert. Fachliche Hauptkritikpunkte bezogen sich auf die Methodik, Repräsentativität und mögliche Verzerrungen.
Leonhardt et al. (2018) zeichnen die Entstehungsgeschichte der Hypothese nach und beleuchten deren zentrale Annahmen [4]. Sie verweisen dabei auf methodische Kritikpunkte an bisherigen Untersuchungen, unter anderem die Abhängigkeit von Elternbefragungen, die häufig aus spezifischen, nicht repräsentativen Internetforen rekrutiert wurden, sowie das Fehlen direkter Befragungen der betroffenen Jugendlichen. Der Beitrag ordnet die Diskussion in einen breiteren gesellschaftlichen und fachlichen Kontext ein. Er beschreibt die öffentliche und politisch aufgeladene Debatte, die Positionen verschiedener Fachverbände sowie die Tatsache, dass die ROGD bislang nicht als eigenständige Diagnose in medizinischen Klassifikationen anerkannt ist. Abschließend plädieren die Autoren für weitere empirische Forschung, um die komplexen Entstehungsbedingungen von Geschlechtsdysphorie im Jugendalter besser zu verstehen.
Zusammengefasst lauten die Kritikpunkte an der ROGD-Hypothese:
- Einseitige Stichprobenauswahl: Die Rekrutierung erfolgte über drei spezifische Internetforen, die sich ausdrücklich kritisch gegenüber Transgender-Identitäten äußerten. Dadurch besteht ein erhebliches Risiko für Stichprobenverzerrung (Selection Bias) und Selbstselektion, was die Aussagekraft der Befunde vermindert.
- Eltern als alleinige Informationsquelle: Die Studie basierte ausschließlich auf Angaben der Eltern, ohne Aussagen der betroffenen Jugendlichen selbst. Geschlechtsdysphorie ist ein komplexes Phänomen, das klinische Einschätzungen erfordert. Eltern sind hierfür nicht qualifiziert.
- Methodologische Mängel und Transparenzbedarf: Kritisiert wurden ferner das Fehlen eines Kontrollgruppendesigns und Validierungsmanagements bezogen auf mögliche Mehrfachantworten derselben Personen, unzureichende Kontrolle gegen Online-Manipulationen sowie Mängel im Befragungsaufbau.
Darüber hinaus werden Studien vorgestellt, die den Annahmen der ROGD widersprechen. In größeren Erhebungen, wie etwa dem US Transgender Survey, zeigte sich, dass das Erkennen oder Offenlegen der eigenen Geschlechtsidentität sehr unterschiedlich verlaufen kann und nicht zwingend abrupt geschieht. Auch klinische Daten sollen laut den Autoren darauf hinweisen, dass die Entwicklungsverläufe vielfältiger sind, als es die Hypothese nahelegt. So konnten Studien, die auf klinischen Daten basieren, die ROGD-Hypothese nicht bestätigen. Beispielsweise fanden Bauer et al. (2021) keine Evidenz für dieses Phänomen, da sie wichtige hypothesebildende Zusammenhänge nicht reproduzieren konnten [5]. Diese Untersuchung basiert allerdings auf klinischen Probanden, also bereits selbstselektierten Jugendlichen, die sich in Behandlung begeben haben – genau jene Gruppe, die bei ROGD-Verdacht gerade nicht unbedingt auftaucht. ROGD beschreibt ein plötzliches Auftreten von Geschlechtsdysphorie nach der Pubertät bei Jugendlichen ohne frühere Anzeichen, oft begleitet von einer relativ instabilen Identitätsentwicklung. Nach dieser Definition begeben sich viele ROGD-Betroffene gerade nicht sofort in klinische Behandlung, sondern identifizieren sich (teils nur vorübergehend) in Online-Räumen oder im sozialen Umfeld als transgeschlechtlich. Die von Bauer et al. untersuchte Stichprobe schließt die relevante Population somit weitgehend aus. Die Studie kann also nur sagen, dass unter den Jugendlichen, die schon klinische Hilfe suchen, keine Untergruppe mit auffälligen ROGD-Merkmalen existiert – nicht, dass ROGD als Phänomen insgesamt nicht existiert.
Greta Bauer argumentiert (auch in Interviews), dass man bei Existenz von ROGD zwei "Streams" oder "Peaks" in der Verteilung des Alters bei Erkennen der Transidentität sehen müsste: einen frühen Peak (klassisch kindliche GD) und einen späteren Peak (plötzliche, pubertätsnahe GD). Das klingt logisch, funktioniert aber nur, wenn die Stichprobe alle möglichen Fälle enthält – also auch diejenigen, die sich nicht in Behandlung begeben. Wenn man ausschließlich Jugendliche erfasst, die bereits den Schritt in eine Spezialklinik gemacht haben, dann hat man gewissermaßen schon eine "homogenisierte" Gruppe. Der zweite Peak wäre systematisch ausgefiltert, weil viele ROGD-Fälle die Klinikschwelle gar nicht erreichen oder in der Frühphase abbrechen. Mit anderen Worten: Bauers "kein zweiter Peak"-Argument ist kein Beweis gegen ROGD, sondern ein Hinweis darauf, dass klinische Daten zur Prüfung der Hypothese ungeeignet sind, weil sie die relevante Population nicht abbilden.
Die Bauer-Studie weist zudem mehrere methodische Einschränkungen auf, die ihre Aussagekraft im Hinblick auf die ROGD-Hypothese begrenzen: Zum einen ist die Stichprobe mit 173 Teilnehmenden für komplexe Regressionsanalysen vergleichsweise klein, wodurch viele der berichteten Effektgrößen statistisch unsicher bleiben. Darüber hinaus ist die Definition von "recent gender knowledge" – also einer erst kürzlich erfolgten Erkenntnis über die eigene Geschlechtsidentität – mit einem Zeitintervall von höchstens einem Jahr sehr eng gefasst. Dieses Kriterium kann die Vielfalt und Dynamik individueller Identitätsentwicklungen nur unzureichend abbilden. Auch die Altersgruppe der Untersuchten (10 bis 15 Jahre) erfasst ausschließlich Jugendliche im frühen oder mittleren Pubertätsalter, während junge Erwachsene, bei denen ein plötzliches Auftreten von Geschlechtsdysphorie häufiger beschrieben wird, vollständig fehlen. Schließlich beruhen die Angaben zum Zeitpunkt der Identitätsfindung auf retrospektiven Selbstauskünften, die anfällig für Erinnerungsverzerrungen sind und keine prospektive Beobachtung des Entwicklungsverlaufs erlauben.
Trotz dieser eher wenig fundierten Kritik führte das Journal PLOS One eine erneute redaktionelle Begutachtung der Littman-Studie durch [6]. Dabei wurden Titel, Abstract, Einleitung, Diskussion und Schlussfolgerung überarbeitet; zudem wurden Informationen zu den Rekrutierungsquellen ergänzt und missverständliche Ausdrucksweisen wie entfernt. Die Überarbeitung verdeutlicht zudem, dass Littmans Studie explorativen Charakter hatte und ROGD nicht als klinisch gesicherte Diagnose gilt. Zahlreiche wissenschaftliche und psychologische Fachverbände wie die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) und die American Psychological Association (APA) lehnen die Verwendung des ROGD-Konzepts in Klinik und Therapie ab, weil es an empirischer Evidenz mangelt und das Potenzial hat, Transgender-Jugendliche zu stigmatisieren.
Zur Interpretation neuerer Studien
In jüngerer Zeit wird das Konzept der Rapid-Onset Gender Dysphoria in transaffirmativen Diskursen teilweise mit Verweis auf neuere Studien als "widerlegt" bezeichnet. Häufig wird dabei auf die Arbeit von Jack L. Turban et al. (2023) im Journal of Adolescent Health verwiesen, in der das Alter der Realisierung und des Outings der Geschlechtsidentität bei 27.497 transidenten Erwachsenen untersucht wurde [7]. Rund 40 % der Befragten gaben an, ihre Geschlechtsidentität erst später im Leben erkannt zu haben, während die mediane Zeit zwischen dieser Realisierung und dem ersten Coming-out bei den früh realisierenden Teilnehmenden etwa 14 Jahre betrug.
Diese Befunde liefern wertvolle Einsichten in Entwicklungs- und Offenbarungsprozesse geschlechtlicher Identität, sie erlauben jedoch keine direkte Aussage über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der ROGD-Hypothese. Die Studie beschreibt ausschließlich retrospektive Selbstauskünfte von Erwachsenen zu ihrem Alter der Identitätsfindung und des Outings – nicht aber den Verlauf, die Ursachen oder die Stabilität von Geschlechtsdysphorie im Jugendalter.
Aus wissenschaftlicher Sicht bleibt damit offen, ob sich unter denjenigen mit später Realisierung auch Personen finden, deren Identitätsentwicklung jenen Mustern ähnelt, die im Rahmen der ROGD-Hypothese beschrieben werden. Um dies zu klären, wären prospektive Langzeitstudien erforderlich, die Jugendliche über Jahre hinweg begleiten und Veränderungen in Identität (Desistenz), psychischer Gesundheit und Reuegefühlen erfassen. Laut einer niederländische Studie von Wiepjes et al. (2018) gibt es zwar keine Hinweise auf einen Anstieg der Raten des Bedauerns im untersuchten Zeitraum von 1972 bis 2015 [8], dies verwundert jedoch nicht, da ROGD ein vergleichsweise neues Phänomen darstellt und ein signifikanter Anstieg der Reute-Raten erst zeitverzögert (in einigen Jahren) erkennbar sein könnte. Denn Gefühle des Bedauerns treten mitunter erst 10 Jahre nach Transition auf [9].
Daher ist es methodisch unzutreffend, aus den Ergebnissen von aktuellen Querschnitts- oder Selbstauskunftsstudien eine Widerlegung der ROGD-Hypothese abzuleiten. Angesichts der Neuheit des Phänomens liegen bislang keine ausreichend langfristigen Verlaufsdaten vor, die eine abschließende Bewertung ermöglichen. Solange dies der Fall ist, bleibt ROGD eine plausible, wenn auch noch ungesicherte Hypothese, die weiterer empirischer Forschung bedarf.
Stimmen, die die ROGD-Hypothese stützen
Obwohl die Hypothese der Rapid-Onset Gender Dysphoria von den meisten Fachverbänden aufgrund einer aus ihrer Sicht mangelhaften Evidenz derzeit abgelehnt wird, gibt es dennoch einige Stimmen, die das Konzept zumindest als erklärungswürdige Beobachtung anerkennen.
Auf Plattformen wie "Parents of ROGD Kids" artikulieren Eltern, deren Kinder sich scheinbar "aus dem Nichts" als "trans" identifizieren, dass sie dieses Phänomen als real wahrnehmen und sich deswegen Unterstützung in einem geschützten Rahmen wünschen.
Organisationen wie Genspect oder die Society for Evidence-Based Gender Medicine (SEGM), die sich gegen geschlechtsaffirmative Behandlungsmethoden wenden, vertreten ebenfalls die Ansicht, dass soziale Einflüsse (etwa durch Peers oder Medien) eine Rolle bei plötzlich auftretender Geschlechtsdysphorie spielen können. Sie befürworten teilweise das ROGD-Konzept als mögliche Erklärung und verwenden es in ihrer Argumentation.
Auch Fachleute unterstützen die Hypothese. Die australische Professorin für Psychologie an der Universität Sydney Dianna Kenny schilderte beispielsweise kürzlich in "The Australian" klinische Beobachtungen, wonach etwa Gruppeneinflüsse oder soziale Dynamiken in Peer-Gruppen zu einem "schnellen" Auftritt von Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen beigetragen hätten [10]. Sie beschreibt die ROGD-Idee somit als eine Form von "sozialer Ansteckung", insbesondere bei emotional oder neurodivergent belasteten Jugendlichen und zeichnet das Bild einer metaphorischen Zugreise:
"It’s called the trans train. You get on at the station and there are no stops until the end when the body is destroyed, […] once they are hooked into the cult, they get a lot of reinforcement from going through to the next stage and the next stage… it becomes a self-reinforcing loop"
Ins Deutsche übertragen: "Das nennt man den Trans-Zug. Man steigt am Bahnhof ein und es gibt keine Halte bis zum Ende, wenn der Körper zerstört ist, […] sobald sie einmal in den Kult eingebunden sind, erhalten sie durch das Durchlaufen der nächsten und der nächsten Stufe eine Menge Verstärkung... es wird zu einer sich selbst verstärkenden Schleife." Während also das Konzept in weiten Teilen der Öffentlichkeit sowie insbesondere in der trans-affirmativen Fachwelt stark kritisiert wird, gibt es durchaus Unterstützer – insbesondere aus elterlichen Initiativen oder spezialisierten Organisationen –, die ROGD zumindest als Hypothese diskutieren oder als Beobachtung ihrer Lebenswirklichkeit einbringen.
Das "Retracted Paper" von Diaz & Bailey (2023)
Im März 2023 veröffentlichten Suzanna Diaz (ein Pseudonym) und der Psychologie-Professor J. Michael Bailey im Archives of Sexual Behavior eine Untersuchung, die die ROGD-Hypothese empirisch stützen sollte [11]. Grundlage war eine Online-Befragung von 1.655 Eltern, die berichteten, ihre Kinder hätten ohne erkennbare Vorgeschichte plötzlich eine Transidentität angenommen. Der Großteil der gemeldeten Fälle betraf Mädchen im Jugendalter. Auch hier beschrieben viele Eltern eine Häufung psychischer Vorbelastungen und den gleichzeitigen Einfluss sozialer Medien oder transidenter Peers. Insgesamt fanden die Autoren deutliche Übereinstimmungen mit den von Littman postulierten Merkmalen von ROGD.
Das Paper wurde im Juni 2023 jedoch vom Verlag Springer Nature zurückgezogen. Offiziell lautete die Begründung: "Noncompliance with our editorial policies around consent" – die Teilnehmenden hätten keine schriftliche Einverständniserklärung zur Teilnahme an wissenschaftlicher Forschung oder zur Veröffentlichung ihrer anonymisierten Daten gegeben. Aus Datenschutzgründen wurden Tabelle 1 und das Supplement entfernt, um die Privatsphäre zu schützen. Inhaltlich wurde die Studie jedoch nicht beanstandet oder als methodisch fehlerhaft eingestuft. Der Rückzug erfolgte somit in erster Linie aus formalen, ethisch-administrativen Gründen, nicht aufgrund einer Widerlegung der erhobenen Daten oder Schlussfolgerungen.
Die Retraction löste eine breite Kontroverse aus. Auffällig ist, dass der Verlag Springer Nature, der die Studie zurückgezogen hat, denselben Vorgang kurz darauf in seinem populärwissenschaftlichen Format "Scientific American" umfangreich kommentierte [12]. Eli Coleman, ehemaliger Präsident des Weltfachverbands für Transgender-Gesundheit WPATH, wird darin mit den Worten zitiert: "To even say it’s a hypothesis at this point, based on the paucity of research on this, I think is a real stretch." ("Angesichts der spärlichen Forschung hierzu ist es meiner Meinung nach schon zu weit hergeholt, es als Hypothese zu bezeichnen.") Diese Darstellung wirft Fragen nach redaktioneller Neutralität auf, da der Beitrag weniger eine wissenschaftliche Analyse als eine politische Rahmung bietet. Der Artikel betont vor allem ethische und gesellschaftspolitische Argumente, vermischt jedoch die formalen Gründe der Retraction mit einer inhaltlichen Abwertung der Hypothese.
Inhaltlich bleibt der Text stattdessen weitgehend auf Expertenmeinungen beschränkt, ohne auf die empirischen Daten der Studie einzugehen oder konkrete Gegenbefunde zu präsentieren. Mehrfach wird ROGD als "fear-based concept" bezeichnet, ohne dass methodische Details oder Replikationsversuche diskutiert werden. Es wird unterstellt, "schnell einsetzend" meine eine buchstäblich "sofortige" Entwicklung ("sudden experience"). Damit wird die Hypothese karikiert. In der Originaldefinition von Littman bezeichnet "rapid-onset" eine abrupte Veränderung im Vergleich zum vorherigen Entwicklungsverlauf, keine "Sekunden-Entscheidung". Der Artikel verweist auf die 2021er-Erklärung der APA, die ROGD nicht anerkennt, und nutzt diese Ablehnung als Beleg dafür, dass ROGD widerlegt sei. In Wirklichkeit war diese Stellungnahme meinungs-, nicht datenbasiert und erfolgte zu einem Zeitpunkt, als kaum empirische Studien existierten. Sie kann daher nicht als Beweis gelten. Neue Erkenntnisse abzuweisen, weil in der Vergangenheit nicht genug hypothesenstützende Daten vorlagen, ist schlichtweg unwissenschaftlich.
Insgesamt wirkt die mediale Nachbereitung innerhalb desselben Verlagshauses wie ein Versuch, die eigene Retraction redaktionell zu legitimieren. Aus wissenschaftlicher Perspektive bleibt entscheidend: Die Diaz- & Bailey-Daten wurden nicht wegen inhaltlicher Fehler, sondern aus formalen Gründen zurückgezogen. Eine empirische Widerlegung der ROGD-Hypothese steht weiterhin aus.
Studien-Autor Bailey reagierte selber ausführlich auf die Retraction. Auf Retraction Watch sowie in einem Essay auf Sensible Medicine beschreibt er den Vorgang als Beispiel ideologisch motivierter Zensur [13][14]. Nach seiner Darstellung erfüllte die Studie die formalen Mindestanforderungen an den Datenschutz, da alle Daten de-identifiziert waren und die Befragten über den Publikationszweck informiert wurden. Bailey führt den Rückzug daher nicht auf tatsächliche Verstöße gegen Forschungsethik zurück, sondern auf politischen und aktivistischen Druck. Er weist darauf hin, dass die Arbeit zuvor zwei Runden strenger Begutachtung durchlaufen habe und vom renommierten Psychologen und Sexualforscher Kenneth Zucker als Editor akzeptiert worden sei. Bailey interpretiert die Retraction als Symptom eines wachsenden Problems in der akademischen Kultur: der Einschränkung wissenschaftlicher Freiheit bei politisch sensiblen Themen. Er argumentiert, dass ethische Formalien zunehmend als Vorwand genutzt würden, um unliebsame Forschung zu unterdrücken.
Unabhängig von dieser Bewertung zeigt der Fall, wie polarisiert und fragil die Forschungslage zu ROGD ist – und wie notwendig transparente, methodisch saubere, aber zugleich diskursrobuste Studien wären, um die Debatte wieder auf eine sachliche Grundlage zu stellen.
Die STRONG-Kohortenstudie
Im Gegensatz zur explorativen und methodisch umstrittenen Studien zur Rapid-Onset Gender Dysphoria bietet die sogenannte STRONG-Kohortenstudie (Study of Transition, Outcomes and Gender) von Quinn et al. (2017) eine solide empirische Grundlage zur Untersuchung von Transidentitäten [15]. Diese groß angelegte, langfristige Untersuchung erhebt umfassende Gesundheitsdaten von Transgendern auf Basis medizinischer Befunde und Behandlungsverläufe.
Die STRONG-Studie dokumentiert einerseits eine klar abgrenzbare Gruppe von Personen mit stabiler und oftmals früh manifestierter Geschlechtsdysphorie, die medizinische Betreuung (oftmals in Form von Geschlechtsangleichungen) benötigen. Zugleich impliziert sie, dass neben dieser stabilen Kohorte auch andere Gruppen existieren können, bei denen sich Geschlechtsidentität später oder "plötzlich" herausbildet – also etwa Jugendliche, bei denen die Hypothese der Rapid-Onset Gender Dysphoria greifen könnte. Die STRONG-Studie richtet ihren Fokus allerdings primär auf etablierte Transdiagnosen und erfasst potenziell heterogene (weil womöglich sozial beeinflusste) Identitätsverläufe nicht systematisch.
Position der IG Sexualbiologie
Aus unserer Sicht ist die Hypothese der Rapid-Onset Gender Dysphoria ein plausibles Erklärungsmodell für ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren zunehmend beobachtet wird: den sprunghaften Anstieg vor allem jugendlicher Selbstidentifikationen als "trans", oftmals ohne längere Vorgeschichte von Geschlechtsdysphorie in Kindheit oder früher Jugend. Diese Entwicklung erscheint insbesondere in sozialen Kontexten und Online-Umfeldern gehäuft, in denen sich mehrere Jugendliche nahezu zeitgleich einer Transgender-Identität zuordnen. Auffällig ist dabei die nicht seltene Komorbidität mit Aufmerksamkeitsstörungen, Autismus oder psychischen Belastungen, die öffentlich in Social-Media-Profilen und -Beiträgen präsentiert wird – ein Muster, das mit den in der ROGD-Hypothese beschriebenen Fallkonstellationen übereinstimmt und eher gegen eine valide intrinsische Geschlechtsdysphorie spricht, da diese dadurch gekennzeichnet ist, dass bereits die Wahrnehmung der betroffenen Person als "trans" durch Dritte den dysphorischen Leidensdruck verstärkt.
Wir nehmen zur Kenntnis, dass ROGD bislang nicht als medizinische Diagnose anerkannt ist und die zugrundeliegende Erstpublikation von Lisa Littman methodisch kritisiert wurde. Gleichwohl erfordert wissenschaftliche Redlichkeit, zwischen methodischen Limitationen einer explorativen Studie und der grundsätzlichen Gültigkeit der ihr zugrundeliegenden Beobachtung zu unterscheiden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl die Studie von Bauer et al. (2022) als auch die ursprüngliche Arbeit von Littman (2018) letztlich auf subjektiven Einschätzungen beruhen – wenn auch aus entgegengesetzten Perspektiven. Während Littman Eltern befragte, die den plötzlichen Transitionswunsch ihrer Kinder kritisch betrachten, stützt sich Bauer auf Selbstauskünfte Jugendlicher, die sich bereits als transgeschlechtlich identifizieren und klinische Unterstützung suchen. Beide Ansätze erfassen somit Wahrnehmungen und Deutungen, keine objektiv beobachteten Entwicklungsverläufe. Sie beleuchten unterschiedliche Seiten desselben Phänomens, ohne es abschließend zu erklären. Ironischerweise eint beide Forschungsrichtungen, dass sie vor allem subjektive Realitäten dokumentieren – nur jeweils aus der Sicht verschiedener Beteiligter.
Aus Sicht der IG Sexualbiologie sind die beidseitig schwache Evidenz sowie die fehlende offizielle Klassifikation keine hinreichende Argumente für die Verwerfung des Konzepts, zumal zahlreiche klinische und alltagsbezogene Beobachtungen auf ähnliche Phänomene hinweisen.
Wir sind besorgt, dass Teile der wissenschaftlichen und medizinischen Fachwelt bei hochsensiblen gesellschaftlichen Themen eine auffallende Zurückhaltung oder konforme Narrative pflegen. Editorials in Fachjournals und Stellungnahmen großer Institutionen, darunter auch der WHO, vermitteln aus unserer Sicht mitunter den Eindruck, politisch-aktivistische Positionen zu reflektieren, anstatt fachlich sauber zwischen unterschiedlichen Erscheinungsformen von Geschlechtsdysphorie im engeren und Geschlechtsidentitätsstörungen im weitesten Sinne zu differenzieren. Die pauschale Unterordnung aller Transphänomene unter ein einheitliches Konzept verwischt Unterschiede zwischen stabilen, lebenslangen transidenten Entwicklungen und möglicherweise temporären, sozial induzierten Identitätskrisen.
Das Methodendesign von ROGD-kritischen Studien ist außerdem aus unserer Sicht nicht optimal, um das ROGD-Phänomen zu falsifizieren. ROGD-spezifische Verläufe könnten in solchen Studien im "Rauschen" der Daten verborgen bleiben oder aufgrund fehlender spezifischer Erhebungsinstrumente nicht klar identifiziert werden. Eine prospektive, auf ROGD ausgerichtete Datenerhebung mit standardisierten Instrumenten und Einbezug sozialer Einflussfaktoren wäre nötig, um diese Fragestellung gezielter zu untersuchen.
Vor diesem Hintergrund spricht sich die IG Sexualbiologie dafür aus, das Konzept ROGD ernsthaft und ohne ideologische Vorfilterung ergebnisoffen zu prüfen. Eine empirisch fundierte Auseinandersetzung ist notwendig, um zwischen intrinsischer Geschlechtsdysphorie und extrinsisch verursachter Geschlechtsidentitätsstörung klar zu unterscheiden. Nur so lassen sich angemessene Unterstützungsangebote entwickeln, die sowohl die Bedürfnisse dauerhaft transidenter Menschen als auch die besonderen Dynamiken sozial beeinflusster Identitätsentwicklungen berücksichtigen.
Wichtig ist uns zudem, eine klare Abgrenzung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischen Implikationen zu ziehen. Die Aufgabe von Wissenschaft liegt in der objektiven Beschreibung und Analyse von Phänomenen, nicht in deren politischer Bewertung oder normativen Festlegung. Die Anerkennung der ROGD-Hypothese darf keinesfalls dazu missbraucht werden, sämtliche Transidentitäten als ausschließlich sozial verursacht darzustellen – eine Strategie, die von Anti-Trans-Aktivisten häufig verfolgt wird. Vielmehr bedeutet die differenzierte Betrachtung von ROGD als eigenständiges Phänomen ausdrücklich keine Infragestellung oder gar Abwertung von Formen der Geschlechtsdysphorie, die sich angeboren zeigen und sich bereits in früher Kindheit manifestieren, teilweise jedoch erst im späteren Lebensverlauf dem Umfeld offenbart werden. Eine wissenschaftlich fundierte Unterscheidung unterschiedlicher Entstehungswege dient einzig und allein dem Ziel, betroffenen Personen individuell gerecht zu werden und angemessene Unterstützung zu gewährleisten.
Fazit
Die Hypothese der Rapid-Onset Gender Dysphoria beschreibt ein beobachtbares Phänomen eines plötzlichen Auftretens von Geschlechtsinkongruenz bei Jugendlichen ohne frühere Anzeichen. Trotz methodischer Kritik an der ursprünglichen Studie und fehlender offizieller Anerkennung verdient dieses Konzept aus Sicht der IG Sexualbiologie eine ernsthafte wissenschaftliche Prüfung. Die aktuellen gesellschaftlichen und klinischen Entwicklungen legen nahe, dass soziale Einflüsse und psychische Komorbiditäten eine Rolle spielen können. Eine differenzierte und unvoreingenommene Forschung ist notwendig, um betroffene Jugendliche angemessen zu verstehen und zu unterstützen. Wir plädieren für Offenheit gegenüber dieser Hypothese und fordern eine vertiefte, evidenzbasierte Debatte ohne ideologische Scheuklappen.
Quellen
[1] Bachmann CJ, Golub Y, Holstiege J, Hoffmann F. Störungen der Geschlechtsidentität bei jungen Menschen in Deutschland: Häufigkeit und Trends 2013–2022. Eine Analyse bundesweiter Routinedaten. Deutsches Ärzteblatt 2024; 121:370–371. DOI: 10.3238/arztebl.m2024.0098
[2] Meredith Wadman, ‘Rapid onset’ of transgender identity ignites storm. Science 361, 958-959 (2018). DOI: 10.1126/science.361.6406.958
[3] Littman L (2018) Parent reports of adolescents and young adults perceived to show signs of a rapid onset of gender dysphoria. PLoS ONE 13(8): e0202330. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0202330
[4] Leonhardt, A., Fuchs, M., Gander, M. et al. Gender dysphoria in adolescence: examining the rapid-onset hypothesis. Neuropsychiatr 39, 1–10 (2025). https://doi.org/10.1007/s40211-024-00500-8
[5] Greta R. Bauer, Margaret L. Lawson, Daniel L. Metzger, Do Clinical Data from Transgender Adolescents Support the Phenomenon of “Rapid Onset Gender Dysphoria”?, The Journal of Pediatrics, Volume 243, 2022, Pages 224-227.e2, ISSN 0022-3476, https://doi.org/10.1016/j.jpeds.2021.11.020.
[6] Littman L (2019) Correction: Parent reports of adolescents and young adults perceived to show signs of a rapid onset of gender dysphoria. PLoS ONE 14(3): e0214157. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0214157
[7] Jack L. Turban, Brett Dolotina, Thomas M. Freitag, Dana King, Alex S. Keuroghlian, Age of Realization and Disclosure of Gender Identity Among Transgender Adults, Journal of Adolescent Health, Volume 72, Issue 6, 2023, Pages 852-859, ISSN 1054-139X, https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2023.01.023.
[8] Chantal M. Wiepjes, Nienke M. Nota, Christel J.M. de Blok, Maartje Klaver, Annelou L.C. de Vries, S. Annelijn Wensing-Kruger, Renate T. de Jongh, Mark-Bram Bouman, Thomas D. Steensma, Peggy Cohen-Kettenis, Louis J.G. Gooren, Baudewijntje P.C. Kreukels, Martin den Heijer, The Amsterdam Cohort of Gender Dysphoria Study (1972–2015): Trends in Prevalence, Treatment, and Regrets, The Journal of Sexual Medicine, Volume 15, Issue 4, April 2018, Pages 582–590, https://doi.org/10.1016/j.jsxm.2018.01.016
[9] Jorgensen, S.C.J. Transition Regret and Detransition: Meanings and Uncertainties. Arch Sex Behav 52, 2173–2184 (2023). https://doi.org/10.1007/s10508-023-02626-2
[10] The Australian: "How the gender affirming care model failed our families" (Cindy Lever; July 19, 2025)
[11] Diaz, S., Bailey, J.M. RETRACTED ARTICLE: Rapid Onset Gender Dysphoria: Parent Reports on 1655 Possible Cases. Arch Sex Behav 52, 1031–1043 (2023). https://doi.org/10.1007/s10508-023-02576-9.
[12] Scientific American: "Evidence Undermines ‘Rapid Onset Gender Dysphoria’ Claims" (O. Rose Broderick; August 24, 2023)
[13] Retraction Watch: "Exclusive: Editor resigns after he says publisher blocked criticism of decision to retract paper on gender dysphoria" (Sept 3, 2024)
[14] Sensible Medicine: "The Rapid Ideological Retraction of a Scientific Article on Rapid Onset-Gender Dysphoria" (Michael Bailey; Sep 29, 2024)
[15] Quinn VP, Nash R, Hunkeler E, et alCohort profile: Study of Transition, Outcomes and Gender (STRONG) to assess health status of transgender peopleBMJ Open 2017;7:e018121. doi: 10.1136/bmjopen-2017-018121