Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen ist ein viel diskutiertes Thema, das in der Gesellschaft starke Emotionen auslöst. Eltern, Pädagogen und Mediziner stehen oft vor der Frage, wie sie mit Kindern umgehen sollen, die das Gefühl äußern, im "falschen Körper" zu sein. Ein zentraler Aspekt, der in der Debatte häufig übersehen wird, ist die sogenannte Desistenz. Hierbei handelt es sich um das Phänomen, dass viele Kinder und Jugendliche, die in jungen Jahren Geschlechtsdysphorie zeigen, diese nach der Pubertät nicht mehr empfinden. Stattdessen entwickeln sich viele von ihnen zu homoerotischen Erwachsenen, ohne eine transgeschlechtliche Identität beizubehalten.
Was ist Desistenz?
Desistenz beschreibt den Prozess, bei dem Kinder oder Jugendliche, die zuvor Geschlechtsdysphorie – also ein Unbehagen mit ihrem biologischen Geschlecht – gezeigt haben, diese Gefühle nach der Pubertät nicht mehr empfinden. Bereits in den 1980er-Jahren beschrieb der Psychologe Richard Green dieses Phänomen bei Jungen als "Sissy Boy Syndrome" [1]. Neuere Studien vor allem mit männlichen Probanden zeigen, dass es bei einem signifikanten Anteil der Kinder mit vorpubertär diagnostizierter Geschlechtsdysphorie auftritt. Das bedeutet, dass nur ein kleiner Teil dieser Kinder eine transgeschlechtliche Identität beibehält (Persistenz). Diese Zahlen variieren zwar je nach Studie, Diagnosekriterien und kulturellem Kontext, aber die hohe Desistenzrate ist eine konsistente Beobachtung in der Forschung.
Ein bemerkenswerter Befund dabei ist, dass ein großer Teil der Kinder, die desistierten, im Erwachsenenalter eine vollständige oder zumindest partielle gleichgeschlechtliche Präferenz manifestieren. Zum Beispiel zeigte eine Studie von Singh et al. (2021), dass von 139 Jungen mit Geschlechtsdysphorie 87,8 % desistierten, von denen wiederum 58,9 % ambiphiles (umgangssprachlich "bisexuelles") oder androphiles ("homosexuelles") Verhalten zeigten – eine Rate, die weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt [2]. Diese Daten beziehen sich auf "sexual orientation in fantasy", die stark mit den tatsächlichen Verhaltensdaten korreliert war (r = 0,92), sodass sie als repräsentativ eingestuft werden können. Keiner der Teilnehmer erhielt "Pubertätsblocker" oder
geschlechtsangleichende Hormonbehandlungen während der Kindheit. Nur ein
einziger Junge (ein Persister) hatte eine soziale Transition mit
professioneller Unterstützung vor der Pubertät erlebt. Die übrigen Kinder (also einschließlich aller Desistenzler) wurden nicht transaffirmativ im heutigen Sinn behandelt. Ähnliche Muster fanden Wallien und Cohen-Kettenis bereits im Jahr 2008 [3]. Kaltiala-Heino et al. (2018) fassen die Erkenntnisse aus mehreren prospektiven Nachuntersuchungen von der Kindheit bis zur Adoleszenz zusammen, die ebenfalls darauf hindeuten, dass bei etwa 80 % der Kinder mit Geschlechtsdysphorie, diese mit der Pubertät zurückgeht [4]. Anzumerken ist, dass viele der untersuchten Stichproben aus einer Zeit stammen, in der affirmative Ansätze (soziale oder hormonelle Transition) noch nicht üblich waren — was die Vergleichbarkeit mit modernen Kohorten zwar einschränkt, andererseits aber auch Verzerrungen durch "Trend-Phänomene" ausschließt.
Diese Beobachtungen legen nahe, dass Geschlechtsdysphorie im Kindesalter häufig mit einer nicht-heteronormalen Geschlechtspartnerpräferenz zusammenhängt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Pubertät klarer wird, während sich die Geschlechtsdysphorie auflöst.
Warum tritt Desistenz auf?
Die Pubertät spielt eine zentrale Rolle bei der Desistenz. Hormonelle Veränderungen und die damit verbundene körperliche Reifung können dazu führen, dass Kinder sich mit ihrem Geschlecht wohler fühlen. Studien wie die von Steensma et al. (2013) zeigen, dass die Intensität der Geschlechtsdysphorie vor der Pubertät ein wichtiger Indikator für ihre Stabilität ist [5]. Kinder mit weniger intensiver Dysphorie neigen stärker zur Desistenz. Die Pubertät scheint also eine Art "natürlicher Filter" zu sein, dank dem viele Kinder ihre Dysphorie überwinden.
Ein kontroverser Aspekt ist der Einfluss einer frühen sozialen Transition – also wenn Kinder in einer anderen Geschlechterrolle als ihrem "biologischen" Geschlecht behandelt werden (z. B. durch Namenswechsel oder Pronomen). Forschungen deuten darauf hin, dass eine soziale Transition die Desistenzrate senken könnte. Steensma et al. (2011) fanden beispielsweise heraus, dass Kinder, die früh sozial transitionierten, häufiger in ihrer Trans-Identität persistierten [6]. Dies könnte daran liegen, dass eine soziale Transition die Identität verstärkt oder den Druck erhöht, an dieser festzuhalten. Allerdings fehlen noch Langzeitstudien zu Kindern, die in jüngeren Generationen sozial transitioniert sind, da kulturelle Normen und Akzeptanz sich stark verändert haben.
Auch eine spätere medizinische Transition hat hohen Einfluss auf die Persistenz. Niederländische Kohortenstudien ergaben, dass von Jugendlichen, die mit "Pubertätsblockern" (GnRH-Agonisten) behandelt wurden, 98 % später zu gegengeschlechtlichen Hormonen wechselten und die transaffirmative Behandlung fortsetzten [7][8]. Dies deutet auf eine "Lock-in"-Wirkung hin, da die Unterdrückung der Pubertät die Transidentität fixiert.
Neurologische Reifung und die Entwicklung der Identität
Kinder nehmen ihre Identität oft stark körperbezogen wahr, da ihr Gehirn – insbesondere der präfrontale Cortex, der für abstraktes Denken zuständig ist – noch nicht vollständig entwickelt ist [9]. Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie zeigen, dass Kinder bis etwa 10 Jahre ihr "Selbst" primär über äußere Merkmale (Aussehen, Fähigkeiten) beschreiben, während Jugendliche nach der Pubertät abstraktere Konzepte (Werte, Persönlichkeit) einbeziehen [10]. Diese neurologische "Unterkomplexität" führt dazu, dass Geschlechtsdysphorie im Kindesalter häufig als Unbehagen am "falschen Körper" erlebt wird, statt als Ausdruck einer komplexeren Identität. Kinder beschreiben ihre Gefühle oft konkret, etwa "Ich will keinen Penis haben" oder "Ich will Brüste". Die Pubertät verändert dies grundlegend, da Sexual- und Wachstumshormone die Reifung des Gehirns fördern, insbesondere durch erhöhte Neuroplastizität, was die Fähigkeit zu abstrakterem Denken und Selbstreflexion stärkt [11][12]. Dadurch können Jugendliche ihr "Ich" neu bewerten und erkennen, dass ihre Identität mehr ist als ihr Körper.
Dies könnte erklären, warum viele Kinder nach der Pubertät ihre Geschlechtsdysphorie überwinden und häufig eine gleichgeschlechtliche Präferenz entwickeln. Anstelle von "mein Körper ist falsch" entsteht oft die Einsicht "meine Identität ist komplex", was die Dysphorie auflöst. Studien, die diese hormonell-neurologische Verschiebung direkt im Kontext von Geschlechtsdysphorie untersuchen, fehlen bisher, doch die Entwicklungspsychologie deutet stark darauf hin, dass die Pubertät eine Schlüsselrolle bei der Formung eines vielschichtigen Selbstverständnisses spielt.
Der Einfluss medizinischer Interventionen
Transaffirmative Behandlungen wie sogenannte "Pubertätsblocker" und gegengeschlechtliche Hormone (z. B. Östrogen bei Jungen) zielen darauf ab, die Dysphorie zu lindern, indem sie die Pubertät verzögern und den Körper an die gewünschte Identität anpassen. Wenn jedoch die wissenschaftliche Evidenz darauf hindeutet, dass solche Interventionen die Persistenz fördern, könnte das bedeuten, dass die Unterdrückung der natürlichen Pubertät den "Filter-Effekt" verhindert und die Transidentität fixiert. Interessanterweise gibt es unserem Kenntnisstand bisher keine Studien, die untersuchten, ob die Desistenz steigen könnte, wenn Betroffene stattdessen mit Hormonen ihres tatsächlichen Geschlechts unterstützt werden (z. B. Testosteron bei Jungen). Solche Ansätze könnten die natürliche hormonelle Entwicklung verstärken und potenziell mehr Desistenz begünstigen, wie es in unbehandelten Follow-ups beobachtet wird. Forschungen in diese Richtung wären hochinteressant und ethisch dringend notwendig, um evidenzbasierte Alternativen zu prüfen – insbesondere angesichts der Debatten um Langzeitrisiken und Retransition. Sie könnten helfen, individualisierte Wege zu finden, die die Entwicklung von Kindern optimal unterstützen, ohne voreilige Entscheidungen zu erzwingen.
Kritiker einer solchen Behandlung warnen, dass dies einer Konversionsbehandlung gleichkomme, da sie die Geschlechtsidentität unterdrückt. Sie argumentieren, dass eine durchlaufene Pubertät sekundäre Geschlechtsmerkmale verfestigt, die das soziale "Passing" für Transgender erschweren und Dysphorien dadurch verstärken. Umgekehrt wirft dies allerdings die Frage auf, ob transaffirmative Interventionen, die fast immer zur Persistenz führen, nicht selbst eine Form von Konversion für Kinder mit homoerotischer Neigung darstellen könnten, da die natürliche Pubertät oft zu deren Akzeptanz führt. Wenn Geschlechtsdysphorie durch die natürliche Pubertät gelindert wird, könnten verfestigte Geschlechtsmerkmale die Notwendigkeit einer sozialen Anpassung außerdem verringern. Solange keine validen Studien diese Bedenken unterstützen, bleibt die Frage offen und unterstreicht den dringenden Bedarf an evidenzbasierter Forschung zu alternativen Ansätzen.
Eine Berechnung basierend auf Singh et al. (2021) verdeutlicht die Risiken: In dieser Stichprobe von 139 Jungen mit vorpubertärer Geschlechtsdysphorie desistierten 122. Würden alle Jungen transaffirmativ behandelt, könnten diese 122 Jungen (davon 66 mit einer ambiphilen oder androphilen Neigung) in eine transgeschlechtliche Identität "konvertiert" werden. Bei einer Behandlung gemäß des "biologischen" Geschlecht würden hingegen – unter Annahme, dass dadurch die Geschlechtsdysphorie nicht aufgelöst wird – nur 17 Jungen, die sonst persistiert hätten, in eine nicht-transgeschlechtliche Identität "konvertiert". Das Risiko einer "Konversion" ist bei transaffirmativer Behandlung demnach etwa siebenfach höher (ca. vierfach bei gleichgeschlechtlich veranlagten Jungen). Diese Zahlen basieren auf der Annahme, dass transaffirmative Behandlung fast immer zur Persistenz führt und nicht-affirmative Behandlung die Desistenz nicht über die beobachtete Rate aufgrund natürlicher Pubertät hinaus steigert.
Da beide Szenarien hypothetisch sind und keine direkten Studien zur Behandlung von Geschlechtsdysphorie mit den jeweiligen Hormonen des "biologischen" Geschlechts existieren, bleibt die Debatte offen. Die Notwendigkeit, individualisierte Ansätze durch weitere ergebnisoffene Forschung abzusichern, wird dadurch aber deutlich.
Kritik an den Studien
Kritiker der Desistenz-Studien weisen darauf hin, dass viele der untersuchten Kinder nach heutigen Standards nicht unbedingt als "trans" diagnostiziert werden würden. Frühere Diagnosen (z. B. basierend auf dem DSM-IV) schlossen oft Kinder ein, die lediglich geschlechtsnonkonformes Verhalten zeigten, ohne eine starke Geschlechtsdysphorie. Dies könnte die hohen Desistenzraten verzerren. Moderne Kriterien (DSM-5) sind spezifischer, was die Vergleichbarkeit einschränkt. Andererseits hat die Weltgesundheitsorganisation WHO in der ICD-11 die Geschlechtsdysphorie von einer psychischen Störung zu einem "Zustand" im Bereich der sexuellen Gesundheit umklassifiziert und die Diagnosekriterien dadurch eher abgeschwächt, wodurch nach diesem Diagnoseschlüssel die Wahrscheinlichkeit gestiegen ist, dass "pseudo-trans" Kinder als "trans" diagnostiziert werden.
Die meisten Studien zur Desistenz stammen außerdem aus den frühen 2010er Jahren und spiegeln möglicherweise nicht die Realität von Kindern wider, die heute in einer offeneren Gesellschaft aufwachsen. Neuere Studien, etwa zu Kindern, die früh sozial transitionieren, zeigen niedrigere Desistenzraten [13]. Dies könnte allerdings darauf hindeuten, dass soziale Transition und medizinische Interventionen (wie "Pubertätsblocker") die Persistenz fördern und auch die ROGD-Hypothese sollte in diesem Zusammenhang beachtet werden, da eine "soziale Ansteckung" etwa durch Peer-Gruppen oder moderne Medien ebenfalls Einfluss auf die Persistenz haben kann.
Allgemein bleibt die Evidenz der Kritiker begrenzt, da valide Langzeitdaten zu neueren Kohorten logischerweise fehlen.
Fazit
Das Phänomen der Desistenz zeigt, dass Geschlechtsdysphorie im Kindesalter nicht immer ein dauerhafter Zustand ist. Der Großteil der vor allem männlichen Kinder, die in jungen Jahren mit ihrem Geschlecht hadert, fühlt sich nach der Pubertät mit seinem "biologischen" Geschlecht wohl und zeigt häufig eine gleichgeschlechtliche Veranlagung. Diese Erkenntnisse sind wichtig für Eltern, Pädagogen und Mediziner, um informierte Entscheidungen zu treffen – sei es über eine unterstützende Begleitung ohne voreilige Interventionen oder über die Abwägung einer sozialen und ggf. medizinischen Transition.
Quellen
[1] Green, R. (1987): The "sissy boy syndrome" and the development of homosexuality. Yale University Press.
[2] Singh Devita, Bradley Susan J., Zucker Kenneth J. A Follow-Up Study of Boys With Gender Identity Disorder. Frontiers in Psychiatry. Volume 12 – 2021. DOI: 10.3389/fpsyt.2021.632784
[3] Madeleine S.C. Wallien, Peggy T. Cohen-Kettenis, Psychosexual Outcome of Gender-Dysphoric Children, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, Volume 47, Issue 12, 2008, Pages 1413-1423, ISSN 0890-8567, https://doi.org/10.1097/CHI.0b013e31818956b9.
[4] Kaltiala-Heino R, Bergman H, Työläjärvi M, Frisén L. Gender dysphoria in adolescence: current perspectives. Adolesc Health Med Ther. 2018;9:31-41. https://doi.org/10.2147/AHMT.S135432
[5] Thomas D. Steensma, Jenifer K. McGuire, Baudewijntje P.C. Kreukels, Anneke J. Beekman, Peggy T. Cohen-Kettenis, Factors Associated With Desistence and Persistence of Childhood Gender Dysphoria: A Quantitative Follow-Up Study, Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, Volume 52, Issue 6, 2013, Pages 582-590, ISSN 0890-8567, https://doi.org/10.1016/j.jaac.2013.03.016.
[6] Steensma TD, Biemond R, de Boer F, Cohen-Kettenis PT. Desisting and persisting gender dysphoria after childhood: A qualitative follow-up study. Clinical Child Psychology and Psychiatry. 2011;16(4):499-516. doi:10.1177/1359104510378303
[7] Annelou L.C. de Vries, Thomas D. Steensma, Theo A.H. Doreleijers, Peggy T. Cohen‐Kettenis, Puberty Suppression in Adolescents With Gender Identity Disorder: A Prospective Follow‐Up Study, The Journal of Sexual Medicine, Volume 8, Issue 8, August 2011, Pages 2276–2283, https://doi.org/10.1111/j.1743-6109.2010.01943.x
[8] Maria Anna Theodora Catharina van der Loos, Sabine Elisabeth Hannema, Daniel Tatting Klink, Martin den Heijer, Chantal Maria Wiepjes, Continuation of gender-affirming hormones in transgender people starting puberty suppression in adolescence: a cohort study in the Netherlands, The Lancet Child & Adolescent Health, Volume 6, Issue 12, 2022, Pages 869-875, ISSN 2352-4642, https://doi.org/10.1016/S2352-4642(22)00254-1.
[9] Giedd, J., Blumenthal, J., Jeffries, N. et al. Brain development during childhood and adolescence: a longitudinal MRI study. Nat Neurosci 2, 861–863 (1999). https://doi.org/10.1038/13158
[10] Harter, S. (1999). Die Konstruktion des Selbst: Eine Entwicklungsperspektive. Guilford Presse.
[11] Blakemore, S.-J., Burnett, S. and Dahl, R.E. (2010), The role of puberty in the developing adolescent brain†. Hum. Brain Mapp., 31: 926-933. https://doi.org/10.1002/hbm.21052
[12] Sowell ER, Trauner DA, Gamst A, Jernigan TL. Development of cortical and subcortical brain structures in childhood and adolescence: a structural MRI study. Dev Med Child Neurol. 2002 Jan;44(1):4-16. doi: 10.1017/s0012162201001591. PMID: 11811649.
[13] Kristina R. Olson, Lily Durwood, Rachel Horton, Natalie M. Gallagher, Aaron Devor; Gender Identity 5 Years After Social Transition. Pediatrics August 2022; 150 (2): e2021056082. DOI: 10.1542/peds.2021-056082