Was bedeutet "Gender" aus biologischer Sicht?

In der heutigen öffentlichen Debatte wird der Begriff "Gender" häufig sozial, kulturell oder politisch verstanden. Im Gegensatz dazu basiert die biologische Verwendung des Begriffs auf einem präzisen und funktionalen Verständnis geschlechtlicher Differenzierung, das auf die Entwicklungs- und Fortpflanzungsbiologie zurückgeht.

Die Unterscheidung von "Sexus" und "Gender"

Bereits im 19. Jahrhundert wurde in der Biologie eine begriffliche Unterscheidung etabliert zwischen:

Sexus (Geschlecht) – definiert durch die Art der Sexualzellen (Gameten), die ein Organismus produziert. Diese Definition geht auf Julius Sachs zurück, der Sexualität im biologischen Sinne als den Vorgang verstand, bei dem zwei unterschiedliche Sexualzellen zur Fortpflanzung verschmelzen [1].
  • Männlich: produziert kleine, in der Regel bewegliche Gameten
  • Weiblich: stellt große, nährstoffreiche, im Regelfall unbewegliche Gameten bereit
Diese Unterscheidung gilt universell für alle sexuell reproduzierenden Organismen.

Gender (geschlechtliche Ausprägung) – ein Begriff, der auf die Entwicklung geschlechtsreifer Organismen verweist. Seinen Ursprung hat das Wort "Gender" im lateinischen "gignere", was sich frei als "hervorbringen" übersetzen lässt. Der Zoologe Oscar Hertwig beschrieb 1876 in seiner Arbeit zur Befruchtung von Seeigeln die Verschmelzung von Eikern und Spermakern als zentrales Merkmal der sexuellen Fortpflanzung. Darauf aufbauend beschrieb er die Ausformung des Organismus zu einem geschlechtsreifen, fortpflanzungsfähigen Individuum – also entweder männlich oder weiblich, abhängig von der gametischen Rolle [2]. Diese Fakten stellte der international tätige Kasseler Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera 2016 in einem Beitrag im Journal of Marine Science: Research & Development ausführlich dar [3].
 
Wenn ein Lebewesen also einen Sexus hervorbringt und sich um diesen herum physiologisch und anatomisch als Sexualwesen organisiert, bezeichnet man dies als Gender. In dieser engen biologischen Definition meint "Gender" also die funktionale geschlechtliche Differenzierung eines Organismus im Reifezustand, nicht aber soziale Rollen oder Selbstzuschreibungen.
 

Gender im Pflanzenreich

Ein zusätzlicher, unabhängiger Beleg für die rein funktionale Bedeutung des Begriffs "Gender" in der Biologie findet sich im Fachwerk "Gender and Sexual Dimorphism in Flowering Plants" [4]. Darin wird "Gender" explizit als Ausmaß der funktionalen Beteiligung eines Individuums an der männlichen oder weiblichen Fortpflanzung definiert.

In Pflanzen mit zwittrigen Blüten beschreibt "Gender" also nicht eine Identität oder Rolle, sondern das quantitative Verhältnis, in dem ein Individuum Pollen mit männlichem Gametophyt oder weibliche Samenanlagen produziert und zur Fortpflanzung beiträgt. Dabei kann das Gender je nach Umweltbedingungen und Ressourcenverfügbarkeit sogar fluktuieren. Betrachtet man eine Wiese, kann man auf Basis dieser Definition die Gender-Ratio (also das Geschlechterverhältnis) berechnen.
 
In der Botanik ist "Gender" demnach ebenfalls ein entwicklungs- und reproduktionsbiologisches Konzept, das sich ausschließlich auf die funktionale Geschlechtsausprägung und -beteiligung eines Organismus bezieht. Diese Definition steht in völliger Übereinstimmung mit dem oben beschriebenen biologischen Verständnis nach Hertwig und bekräftigt, dass Gender im biologischen Sinne nichts mit subjektiver Identität zu tun hat, sondern mit reproduktiver Funktion und Differenzierung. 
 

Trivialnamen für Geschlechtsindividuen

Ein geschlechtsreifes menschliches Individuum, das potenziell darauf ausgelegt ist, Eizellen bereitzustellen, wird im biologischen Sinne als "Frau" bezeichnet; eines, das potenziell Spermien produziert, als "Mann". Diese Begriffe sind jedoch triviale, anthropozentrische Benennungen, die sich ausschließlich auf die Biospezies Homo sapiens beziehen. In der Biologie selbst werden solche Benennungen nicht als universelle Fachbegriffe verwendet, da sie nicht über Artgrenzen hinweg gültig sind. Die Biologie bevorzugt zur allgemeinen Beschreibung geschlechtlicher Differenzierung die Begriffe "männlich" und "weiblich" bzw. "Männchen" und "Weibchen", da diese funktionalen Kategorien artenübergreifend einsetzbar sind und sich strikt an der Rolle in der sexuellen Fortpflanzung orientieren.

Dasselbe Prinzip gilt bei anderen Tierarten:
  • Ein geschlechtsreifer, weiblicher Hund heißt Hündin, ein männlicher Rüde
  • Beim Schwein spricht man von Sau und Eber
  • Beim Rind von Kuh und Bulle
  • Beim Pferd von Stute und Hengst
Diese trivialen Benennungen sind im allgemeinen Sprachgebrauch weit verbreitet. Sie basieren stets auf der gametischen Funktion des jeweiligen Tieres. So ist eine "Sau" per Definition ein Tier, das potenziell Eizellen bereitstellt, trächtig werden kann und demnach weiblich ist – ebenso wie eine "Stute" oder "Kuh". Ein "Eber" ist ein potenzieller Spermienproduzent, also männlich, ebenso wie ein "Rüde", "Hengst" oder "Bulle".
 
Obwohl diese Bezeichnungen nicht biologisch übertragbar oder systematisch verwendbar sind, bleibt ihre Bedeutung fest an die biologische Geschlechtsfunktion – also an die Gametenproduktion – gebunden. Diese gametische Definition bildet das Fundament für sämtliche biologische Klassifikationen sexueller Reproduktion und bleibt unabhängig von kulturell oder sprachlich geprägten Trivialnamen innerhalb einzelner Arten konstant.
 

Zur Geschichte des Begriffs "Gender Identity"

Die Begriffe "Gender Identity" und "Gender" mit Bezug zum Menschen wurden erstmals Anfang der 1960er-Jahre von dem Psychoanalytiker Robert J. Stoller eingeführt und bezeichneten das Wissen oder die Überzeugung einer Person, welchem Geschlecht sie angehört in Abhängigkeit des jeweiligen Grades von "Maskulinität" bzw. "Femininität" – also eine kognitive Selbstzuschreibung als männlich oder weiblich [5]. Anzumerken ist jedoch, dass Stoller die Geschlechter weiterhin in zwei Kategorien unterteilte. Er beschrieb mit "Gender" lediglich den Grad der Ausprägung des geschlechtlichen Ausdrucks, jedoch ausdrücklich keine weiteren Geschlechter abseits männlich und weiblich. In seinem 1968 erschienenen Buch "Sex and Gender" [6] schrieb er:

"Gender is the amount of masculinity or femininity found in a person, and, obviously, while there are mixtures of both in many humans, the normal male has a preponderance of masculinity and the normal female a preponderance of femininity."

Dieses binäre Verständnis unterschied sich deutlich von späteren Deutungen, bei denen "Gender" zunehmend als inneres, subjektives Erleben oder Gefühl verstanden wurde, unabhängig von körperlichen Merkmalen einem bestimmten Geschlecht anzugehören.
 
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Begriffe "Gender Identity" und "Gender" durch Soziologen und Psychologen neu geprägt. John Money deutete das biologisch begründete Konzept der "Gender Identity" um und postulierte, dass das Geschlecht als psychosozial und gesellschaftlich konstruiert und damit losgelöst vom biologischen Körper verstanden werden sollte. Er vertrat die These, dass die geschlechtliche Identität eines Menschen nach der Geburt frei formbar sei, da der Mensch zum Zeitpunkt der Geburt geschlechtsneutral sei und erst durch soziale Erziehung sein "Gender" erlerne. Laut Money sei die Geschlechtsidentität die private Erfahrung der Geschlechterrolle und die Geschlechterrolle der öffentliche Ausdruck der Geschlechtsidentität [7] – offensichtlich eine zirkuläre Definition. Er vertrat die These, man könne die Geschlechtsidentität eines Neugeborenen bis zum 18. Lebensmonat durch die Aufzucht in einer bestimmten Geschlechterrolle auf das jeweilige Geschlecht prägen.

Diese Auffassung wurde jedoch durch biologische Forschung klar widerlegt. Der Sexualbiologe Milton Diamond demonstrierte u. a. anhand medizinischer Fehlversuche in der Frühkindintervention (etwa beim bekannten "John/Joan-Fall" [8]), dass die geschlechtliche Identität tief biologisch verankert ist und nicht beliebig umformbar ist. Diamond zeigte, dass der menschliche Organismus bereits pränatal in seiner geschlechtlichen Differenzierung geprägt wird und diese biologische Anlage nicht durch Erziehung dauerhaft überformt werden kann.

Dennoch wurde diese Umdeutung von einflussreichen Organisationen übernommen und nahm damit Einzug in das gesellschaftliche sowie medizinische und psychologische Vokabular. So reproduzierten die "Wissenschaftlichen Dienste" des Deutschen Bundestags im April 2016 in einem Sachstandsbericht zum Gender-Begriff dessen postmoderne Umdeutung durch theoretische Geisteswissenschaften, ohne auch nur ansatzweise auf die biologische Bedeutung einzugehen [9].

Die Weltgesundheitsorganisation WHO beschreibt auf ihrer Website unter "Health-Topics" den Terminus "Gender" als "sozial konstruierte Eigenschaften" von Frauen, Männern, Mädchen und Jungen: "Gender refers to the characteristics of women, men, girls and boys that are socially constructed."

Die American Psychological Association (APA) definiert in ihrem "Dictionary of Psychology" den Begriff als "sozial konstruierte Rollen, Verhaltensweisen, Aktivitäten und Eigenschaften", die eine bestimmte Gesellschaft für verschiedene "Gender" (sic!) als angemessen erachtet: "1. the socially constructed roles, behaviors, activities, and attributes that a given society considers appropriate for different genders.“

Beide Institutionen erklären nicht, was "sozial konstruiert" genau bedeuten soll, was die Definitionen unbrauchbar macht. Und da die APA das Wort "gender" zur Beschreibung von "Gender" verwendet, handelt es sich obendrein um eine zirkuläre Definition. "Gender" als soziales Konzept ist demnach offenbar ein Begriff, der nicht einheitlich definiert werden kann und sollte daher aus wissenschaftlicher Sicht als ungültig betrachtet werden.

Terminologischer Drift in moderner Biologie

In der modernen Evolutionsbiologie hat sich die Terminologie mittlerweile ebenfalls verschoben. Während der Sexus weiterhin durch die Art der produzierten Gameten im Kontext der Befruchtung definiert wird, wird der gesamte Phänotyp eines Organismus, von Gonaden über Genitalien bis hin zu sekundären Merkmalen wie Größe oder Färbung ebenfalls dem Sexus zugerechnet. Die Organisation der Phänotypen um die gametische Funktion herum ist sowohl in der klassischen als auch der modernen Sichtweise zentral. Der Unterschied ist rein terminologisch. Der Begriff "Gender", der in der klassischen Biologie noch die phänotypischen Geschlechtsunterschiede und Rollen der Adulten beschrieb, ist in der modernen Biologie weitgehend an die Geistes- und Sozialwissenschaften verloren gegangen, um dort kulturelle, soziale und psychologische Aspekte von Geschlecht zu beschreiben. Diese Trennung ermögliche eine klare Unterscheidung zwischen biologischen und gesellschaftlichen Dimensionen, besonders beim Menschen, und hat sich als Standard durchgesetzt.

Wir sehen hier jedoch eine Inkonsistenz: Wenn phänotypische Merkmale wie Hormonsysteme oder sogar neurologische Unterschiede (z. B. in Hirnstrukturen) biologisch bedingt und dimorph sind (und daher in der modernen Biologie dem Sexus zugeschlagen werden), warum dann psychologische Aspekte wie Geschlechtsidentität oder Verhalten sowie alle daraus resultierenden Verhaltensweisen im Sozialgefüge der menschlichen Spezies strikt abkoppeln? Als materielle Wesen basiert unsere Psyche letztlich auf Neurologie, die wiederum geschlechtsdimorph ist. Eine immaterielle "Seele" mit einem nicht-biologisch begründeten Sozialverhalten bleibt wissenschaftlich unbelegt. Die Trennung von biologischem Sexus und sozialem "Gender" wirkt damit zwar pragmatisch, aber nicht logisch stringent.

Aus diesem Grund bevorzugen wir als IG Sexualbiologie weiterhin die klassische Definition (Sexus = anisogame Gametenproduktion & -fusion; Gender = Phänotyp-Organisation rund um den Sexus) und lehnen die Umdeutung des Gender-Terminus durch Sozialwissenschaften sowie dessen bereitwillige Aufgabe durch "moderne" Biologen ab. Etablierte Definitionen sind erst dann zu revidieren, wenn es dafür stichhaltige Argumente gibt. Das sehen wir beim Konzept des "sozialen Geschlechts" nicht gegeben.

Fazit: Gender – biologisch oder soziologisch?

Im naturalistisch-biologischen Sinne beschreibt Gender die physiologische und anatomische Organisation eines Organismus in Bezug auf seine funktionale Geschlechterrolle auf Grundlage seiner Gametenproduktion. Diese Definition ist eindeutig und universell in der Biologie verankert, auch wenn moderne Biologen "Gender" mittlerweile als Phänotyp-Variationen dem Sexus zuschlagen. Die heutige soziologische Verwendung von "Gender" als subjektive oder gesellschaftliche Geschlechtsidentität ist eine begriffsinhaltliche Umdeutung, die mit der biologischen Fachsprache jedoch nicht vereinbar ist. Eine saubere wissenschaftliche Kommunikation erfordert daher eine klare Unterscheidung zwischen biologischen Kategorien und geisteswissenschaftlichen Hypothesen.
 

Quellen

[1] Sachs, J. (1868): Lehrbuch der Botanik. Wilhelm Engelmann, Leipzig.
 
[2] Hertwig, O. (1876): Beiträge zur Kenntnis der Bildung, Befruchtung und Theilung des thierischen Eies. Morphologisches Jahrbuch 1: 347-434.

[3] Kutschera U (2016) Sex versus Gender in Sea Urchins and Leeches Two Centuries after Lamarck 1816. J Marine Sci Res Dev 6:210. doi: 10.4172/2155-9910.1000210
 
[4] Geber, M. (1999): Gender and Sexual Dimorphism in Flowering Plants. Springer EBooks. https://doi.org/10.1007/978-3-662-03908-3
 
[5] Stoller, R. J. (1964): A contribution to the study of gender identity. International Journal of Psycho-Analysis, 45, 220–226.

[6] Stoller, R. J. (1968):  Sex and gender: On the development of masculinity and femininity. Science House.
 
[7] Money, J. (1973): Gender role, gender identity, core gender identity: Usage and definition of terms. Journal of the American Academy of Psychoanalysis, 1, 397–403.
 
[8] Diamond M, Sigmundson HK. Sex Reassignment at Birth: Long-term Review and Clinical Implications. Arch Pediatr Adolesc Med. 1997;151(3):298–304. doi:10.1001/archpedi.1997.02170400084015

[9] Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2016): Gender – Begriff, Historie und Akteure; Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 025/16 (pdf-Dokument)

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