...oder riskieren sie dadurch, ihre Rolle zu verlassen und in politischen Aktivismus zu kippen? Diese Frage haben wir uns als IG Sexualbiologie vor allem in der Gründungsphase sehr häufig gestellt und sie wird noch heute intern kontrovers diskutiert.
Wissenschaft bedeutet: Wissen schaffen. Sie beschreibt und erklärt die Welt, sie gibt jedoch nicht vor, wie sie sein soll. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen deskriptiv und normativ ist zentral für Wissenschaft. Deskriptive Aussagen schildern objektiv, was ist – etwa "Wasser gefriert bei 0 °C" – während normative Aussagen einem Soll folgen etwa: "Wir müssen Wasser bei 0 °C gefrieren lassen". Das Schaffen von Wissen ist also per Definition deskriptiv und liefert keine Orientierung, was "gut" oder "schlecht" ist.
Fakten versus Interpretation
Wissenschaft lebt vom Sammeln und Überprüfen von Fakten. Ein Fakt ist eine empirisch nachprüfbare Aussage über die Welt. Doch sobald wir beginnen, Fakten in größere Zusammenhänge zu stellen, zu bewerten oder gesellschaftlich zu deuten, bewegen wir uns im Feld der Interpretation. Genau hier entsteht ein Raum, in dem verschiedene Sichtweisen nebeneinander existieren können und manchmal auch nebeneinander bestehen müssen.
Interpretationen sind unvermeidlich, denn Menschen erwarten von Wissenschaft mehr als nur Daten. Sie wollen Orientierung. Doch Wissenschaft liefert keine normativen Vorgaben, sondern nur die Bausteine, auf deren Grundlage Politik und Gesellschaft Entscheidungen treffen können. Ein Beispiel: Die Sexualbiologie kann sehr genau beschreiben, wie viele Geschlechter es bei anisogamen Gonochoristen wie dem Menschen gibt und wie anomale Geschlechtsentwicklungen in Form sogenannter "Intersex-Varianten" in diesem Rahmen einzuordnen sind. Diese Fakten sind unbestreitbar. Ob daraus aber ein gesellschaftliches Modell mit zwei, drei oder mehr rechtlich anerkannten Geschlechtskategorien folgen soll, ist keine naturwissenschaftliche, sondern eine politische Entscheidung.
Fakten liefern also den Boden, auf dem argumentiert wird. Doch die Art und Weise, wie diese Fakten in den gesellschaftlichen Diskurs eingeordnet werden, ist immer eine Frage der Interpretation und damit letztlich eine Aufgabe von Politik und Recht, nicht von Wissenschaft.
"Follow the Science"?
Der Slogan "Follow the Science" (zu Deutsch: "Folge der Wissenschaft") wirkt auf den ersten Blick plausibel. Schließlich scheint es naheliegend, politischen Entscheidungen die bestverfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde zu legen. Auch wir sind als humanistisch-naturwissenschaftliche Initiative davon überzeugt, dass realwissenschaftliche Erkenntnisse die geeignetste Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders sind. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass dieser Leitspruch problematisch sein kann – sowohl für die Politik als auch für die Wissenschaft selbst.
Zum einen suggeriert die Formulierung, es gäbe "die eine Wissenschaft" mit "der einen Wahrheit". Das entspricht jedoch nicht der Realität. Wissenschaft ist ein dynamischer Prozess, in dem Hypothesen aufgestellt, überprüft, verworfen oder überarbeitet werden. Unterschiedliche Fachrichtungen oder methodische Zugänge können zu unterschiedlichen, manchmal auch widersprüchlichen Ergebnissen führen. Was wir heute als gesichertes Wissen betrachten, kann morgen bereits durch neue Daten relativiert werden.
Zum anderen enthält der Slogan ein implizites Missverständnis über die Rollenverteilung. Wissenschaft kann nur beschreiben, erklären und Prognosen stellen, sie kann aber nicht entscheiden, welche gesellschaftlichen Ziele wünschenswert oder moralisch geboten sind. Der Literaturwissenschaftler Peter Strohschneider warnte in diesem Zusammenhang vor einem "autoritären Szientismus", der die Illusion erzeugt, komplexe politische Konflikte ließen sich durch bloßes "Befolgen" wissenschaftlicher Ergebnisse auflösen: Das Problem mit „Follow the Science“
Eine Politik, die sich vollständig auf Wissenschaft stützt, würde demnach Gefahr laufen, demokratische Aushandlungsprozesse zu umgehen und damit legitime Wertfragen aus der öffentlichen Debatte zu verdrängen.
Wissenschaft und Politik sind somit zwar eng verflochten, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen. Politik muss normative Entscheidungen treffen – auch dort, wo wissenschaftliche Unsicherheit besteht. Wissenschaft wiederum darf nicht den Anspruch erheben, diese Entscheidungen abzunehmen. Kritisch an "Follow the Science" ist daher weniger die Idee, dass Wissenschaft in politische Entscheidungsprozesse einfließen sollte, sondern die Annahme, sie könne selbst eine Art moralischer Kompass sein. Politik bleibt ein Aushandlungsprozess von Interessen und Gemeinwohlvorstellungen. Wenn Wissenschaft diesen Raum überdehnt oder zu diesem Zweck missbraucht wird, überschreitet sie ihre Kompetenzgrenzen.
Wann sich Wissenschaft einmischen sollte
Wissenschaft muss nicht jede politische Entscheidung kommentieren. Politik ist ein normativer Bereich, in dem gesellschaftliche Zielkonflikte ausgehandelt werden. Sie kann sich dabei an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren, sie darf sie aber auch bewusst übergehen. Das mag aus Sicht des "#TeamScience" (zu dem wir uns selber zählen) zwar enttäuschend wirken, ist aber Teil demokratischer Entscheidungsfreiheit. Wenn etwa eine Regierung beschließt, trotz eindeutiger ökologischer Warnungen bestimmte Industrien zu schonen, dann ist das eine politische Entscheidung, keine wissenschaftliche. Aus Sicht der Wissenschaft mag man dies als "ignorant" empfinden, dennoch ist es nicht Aufgabe der Wissenschaft, diese Entscheidung als solche zu bewerten oder gar zu delegitimieren.
Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn wissenschaftliche Fakten verzerrt oder absichtlich falsch dargestellt werden, um eine politische Agenda zu stützen. In solchen Fällen entsteht ein direkter Angriff auf die wissenschaftliche Integrität. Wenn pseudowissenschaftliche Narrative an Einfluss gewinnen, wird nicht nur das Wissen verzerrt, sondern die Freiheit der Wissenschaft als tragende Säulen der Demokratie untergraben. Diese ist im Grundgesetz verankert und schützt die Forschung vor politischer oder ideologischer Bevormundung. Sie zu verteidigen, bedeutet daher keinen politischen Aktivismus, sondern die Wahrnehmung einer demokratischen Pflicht. Genau hier liegt der Punkt, an dem Wissenschaftler ihre Stimme erheben sollten – ja müssen! Nicht etwa, um eine bestimmte politische Richtung vorzugeben, sondern um die korrekte Faktenlage zu verteidigen. Eine Gesellschaft, die Pseudowissenschaft oder verfälschte Daten als Grundlage von Entscheidungen akzeptiert, ist nicht mehr zu rationalen Handlungen fähig. Gerade hochqualifizierte Wissenschaftler an Universitäten sind durch ihren akademischen Eid und ihr Selbstverständnis verpflichtet, sich gegen bewusst falsche Darstellungen von Wissenschaft zu positionieren. Leider beobachten wir bei gesellschaftlich hochbrisanten Themen wie Klimawandel oder COVID-19 vor allem im Elfenbeinturm der Spitzenwissenschaft stattdessen eher einer Mischung aus Ignoranz und Opportunismus.
Ein weiteres, besonders anschauliches Beispiel liefert der aktuelle Kulturkampf im Kontext von Geschlecht und Identität. Wenn eine politische Partei, Regierung oder NGO erklärt: "Wir wissen, dass die Biologie von zwei Geschlechtern ausgeht, wir möchten aber aus Gründen des gesellschaftlichen Miteinanders bestimmte Freiräume schaffen" – dann ist das eine normative Entscheidung, die legitim im Rahmen des politischen Diskurses getroffen werden kann. Ob man sie begrüßt oder kritisiert, ist eine Frage des politischen Streits. Wenn jedoch behauptet wird: "Die Biologie sagt eindeutig, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, und genau deshalb führen wir neue gesellschaftliche Regeln ein", dann ist das eine wissenschaftlich falsche Behauptung, die den Anschein von Legitimität durch verfälschte Fakten erzeugt. Hier hat die Wissenschaft nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, öffentlich klarzustellen, wo die Fakten enden und wo die Interpretation beginnt.
Die Unterscheidung ist also fein, aber entscheidend. Politik darf Fakten übergehen, aber sie darf sie nicht verfälschen. Wissenschaft darf sich nicht in normative Debatten drängen, sie muss jedoch eingreifen, wenn ihre eigenen Grundlagen instrumentalisiert oder verzerrt werden. Nur so kann sie ihre Glaubwürdigkeit und ihre Rolle als verlässliche Quelle von Wissen wahren. Natürlich dürfen sich auch Wissenschaftler in ihrer Rolle als Bürger zu gesellschaftlichen Themen wertend äußern. Die wissenschaftliche Redlichkeit mahnt jedoch, Meinungen als solche zu kennzeichnen.
Mit Blick auf diese Unterscheidung haben sich die Gründungsmitglieder der IG Sexualbiologie die Frage gestellt, ob sie bei diesem Kulturkampf überhaupt mitwirken sollten. Die Antwort ist klar: Wer den Kulturkampf scheut, hat ihn bereits verloren! Um Desinformation über biologische Fakten keinen Raum zu lassen, ist es notwendig, dass Biowissenschaftler Stellung beziehen – insbesondere gegen pseudowissenschaftliche Gender-Theorien, die biologische Wahrheit untergraben. Wir sind uns aber als selbstkritische Skeptiker durchaus bewusst, dass wir uns damit in eine gewisse Grauzone begeben und wir uns die Kernfrage dieses Artikels immer wieder aufs Neue stellen müssen.
Fazit
Wissenschaft ist deskriptiv, nicht normativ. Ihre Aufgabe besteht darin, Wissen zu schaffen – nicht darin, Politik oder Gesellschaft bestimmte Richtungen vorzuschreiben. Sie darf sich deshalb nicht als moralischer Kompass missverstehen. Gleichzeitig hat sie die Pflicht, ihre eigenen Grundlagen zu verteidigen, wenn Fakten verzerrt oder missbraucht werden. Gerade hochqualifizierte Forscher tragen durch ihr akademisches Selbstverständnis eine besondere Verantwortung, sich gegen Pseudowissenschaft und Fehlzitationen zu positionieren.
Das zeigt sich exemplarisch in der Geschlechterdebatte: Politik darf Fakten ignorieren, aber sie darf sie nicht verfälschen. Sobald biologische Forschung falsch interpretiert oder aus dem Zusammenhang gerissen wird, muss "die Wissenschaft" widersprechen. Wer schweigt, riskiert, dass ideologische Narrative die Oberhand gewinnen.
Wie schnell dies geschieht und wie konkret wissenschaftliche Arbeiten wie etwa ein vielzitierter Nature-Artikel fehlinterpretiert werden, haben wir in einem eigenen Blogpost analysiert. Wer tiefer verstehen möchte, wie wissenschaftliche Fakten im Kulturkampf umgedeutet werden, findet hier unseren Beitrag dazu: Warum die Biologie nicht "mehr als zwei Geschlechter" kennt
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