Immer wieder wird in Medien behauptet, die moderne Biologie habe sich von der Vorstellung verabschiedet, es gäbe nur zwei Geschlechter. So geschehen in einem Artikel des Tagesspiegels aus dem Jahr 2016 mit dem Titel "Gender in der Biologie: Es gibt mehr als zwei Geschlechter".
Dieser medial häufig zitierte Artikel diente beispielsweise im Jahr 2022 dem öffentlich-rechtlichen ZDF Magazin Royale als Vorlage für die steile These: "Es gibt mehr als zwei Geschlechter. In der Biologie ist das inzwischen anerkannt." – siehe Minute 14:58 der Folge: "Wer in Deutschland gegen trans Menschen hetzt":
Diese Aussage – vom ZDF Magazin Royal als "wissenschaftlicher Konsens" präsentiert – hält einer fachlichen Überprüfung jedoch nicht stand.
Was meint die Biologie, wenn sie von "Geschlecht" spricht?
Biologisch betrachtet ist das Geschlecht (Sexus) eines Lebewesens keine Frage von Rollenbildern, Identitäten oder persönlichen Empfindungen, sondern eine funktionale, reproduktive Kategorie. Die Biologie unterscheidet zwei grundlegende Typen von Geschlechtszellen (Gameten). Beim Menschen große, unbewegliche Eizellen und kleine, bewegliche Spermien. Diese Unterscheidung liegt der Einteilung in weiblich und männlich zugrunde. Alles andere – etwa anatomische Unterschiede, Hormonprofile oder genetische Muster – leitet sich daraus ab. Diese untergeordneten Kategorien sind Folgen der Geschlechtlichkeit (Sexualität) und können deshalb logischerweise nicht der Definition von Geschlecht dienen. In der Evolutionsbiologie ist die gametische Binarität die Basis sexueller Fortpflanzung und daher die Basis der Definition von Geschlecht sowie der physiologischen und anatomischen Organisation eines Organismus rund um seinen Sexus (siehe Gender).
"Zwei Geschlechter" sind also keine kulturelle Erfindung, sondern ein biologisches Fundament, das sich durch nahezu alle vielzelligen Organismen zieht [1][2].
Nur zwei, trotzdem divers
Natürlich kennt die Biologie auch Ausnahmen, beispielsweise bei der Entwicklung des menschlichen Körpers. Menschen mit sogenannten Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development; DSD – häufig "Intersexualität" genannt) können körperliche Merkmale aufweisen, die nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Schema entsprechen (Pseudohermaphroditismus). Seriöse medizinische Studien schätzen, dass solche Fälle nur einen winzigen Bruchteil der Bevölkerung betreffen (ca. 0,018 %; siehe Wie häufig ist "Intersexualität"?) [3]. Diese seltenen Entwicklungsstörungen entstehen zum Beispiel durch genetische Mutationen, Hormonresistenz oder fehlerhafte Embryonalentwicklung und sind medizinisch erfassbare Abweichungen von der Norm, aber mangels eines dritten Geschlechtszellentypus ausdrücklich keine eigenständigen Geschlechter.
Es gibt also nicht "mehr" Geschlechter, sondern lediglich indifferente Ausprägungen innerhalb der beiden bestehenden.
Primärquelle falsch zitiert
Ein zentraler Bezugspunkt des Tagesspiegel-Artikels ist ein 2015 erschienener Artikel der Wissenschaftsjournalistin und Biologin Claire Ainsworth im Fachjournal Nature mit dem Titel "Sex Redefined" [4]. Dieser wird häufig als Beleg dafür angeführt, dass die Biologie sich angeblich von der Zweigeschlechtlichkeit verabschiedet habe und das Geschlecht nun als eine Art Spektrum interpretiert. Doch auch hier lohnt sich ein zweiter Blick: Als Ainsworth auf X (ehemals Twitter) direkt gefragt wurde, ob sie mit ihrem Artikel die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern behaupte, antwortete sie klar und deutlich: "Nein, überhaupt nicht. Zwei Geschlechter mit einem Kontinuum an Variationen in Anatomie/Physiologie."
No, not at all. Two sexes, with a continuum of variation in anatomy/physiology.
— Claire Ainsworth (@ClaireAinsworth) July 21, 2017
Es gibt also auch laut der Primärquelle nur zwei biologische Geschlechter und innerhalb dieser Geschlechter ein Kontinuum physiologischer und körperlicher Ausprägungen. Diese Aussage ist vollkommen kompatibel mit der modernen Biologie, aber eben kein Beleg für "mehr als zwei Geschlechter". Die im Tagesspiegel-Artikel behauptete Anerkennung einer Vielgeschlechtlichkeit in der Biologie im Sinne von "mehr als zwei" existiert schlicht nicht.
Biologie vs. Soziologie
Ein weiteres Problem des Artikels liegt in der Art und Weise, wie biowissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Konzepte vermischt werden. Immer wieder wird suggeriert, biologische Kategorien seien sozial konstruiert oder kulturell überformt – ein typisches Argument aus den Gender Studies und insbesondere seitens der Queer-Theorie. Heinz-Jürgen Voß, der Autor des Artikels, wird dabei als "diplomierter Biologe" und Professor vorgestellt. Was dabei nicht erwähnt wird: Seine Professur ist an einer sozialwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt, seine Dissertation erfolgte im Bereich der Soziologie und seine Forschungsschwerpunkte liegen in Queer-Theorie, Intersektionalität und sexueller Bildung – nicht in der experimentellen oder theoretischen Biologie (Quelle). Seine Aussagen sind also weniger biologische Fachmeinungen als vielmehr gesellschaftstheoretische Deutungen, die mit naturwissenschaftlicher Methodik wenig zu tun haben.
Natürlich ist es legitim, gesellschaftliche Normen und Rollenbilder zu hinterfragen. Auch biologische Kategorien dürfen kritisch diskutiert werden – insbesondere dort, wo sie missbraucht oder ideologisch aufgeladen wurden. Doch solche Diskussionen müssen zwischen sozialer Deutung und biologischer Beschreibung klar unterscheiden, sonst geraten Biologen auf Abwege. Die Biologie operiert mit überprüfbaren, messbaren Kategorien. Sie kann nicht jede Form individueller Identität abbilden und muss das auch nicht. Ihre Aufgabe als Realwissenschaft ist es, die Realität zu beschreiben, nicht soziale Gefühle zu normieren oder politische Forderungen zu bewerten.
Fazit
Die moderne Biologie spricht nach wie vor von zwei Geschlechtern, weil dies funktional, reproduktiv und evolutionsbiologisch eindeutig und universell begründet ist. Es gibt körperliche Variationen und medizinisch beschreibbare Anomalien, die eine Unterkategorisierung der menschlichen Geschlechtsbiologie innerhalb der logischerweise anthropozentrischen Humanmedizin zum Zwecke der DSD-Diagnostik rechtfertigen. Doch diese führen nicht zu neuen biologischen Geschlechtern, sondern sind Ausdruck einer natürlichen Variation innerhalb der bestehenden Ordnung und eine Folge der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung, nicht deren Gegenargument.
Was also bleibt am Ende von der These "Es gibt mehr als zwei Geschlechter"? Sie mag in der Soziologie und in bestimmten politischen Bewegungen Anklang finden, in der Biologie ist sie allerdings nicht anerkannt. Das bedeutet nicht, dass es keine Vielfalt gibt. Im Gegenteil: Die Biologie kennt und beschreibt diese Vielfalt sehr genau. Aber sie tut es innerhalb einer zweigeschlechtlichen Struktur. Wer dies auf Basis anthropozentrischer Sichtweisen auflösen oder relativieren will, bewegt sich nicht mehr im Feld der Naturwissenschaften, sondern in dem der Ideologien.
Aussagen wie die des Tagesspiegel-Artikels sind daher nicht nur unpräzise und irreführend, sondern naturwissenschaftlich schlichtweg falsch. Eine sachliche Aufklärung über Geschlechtlichkeit muss zwischen sozialer Identität und biologischer Realität klar unterscheiden.
Quellen
[1] D. Speijer, J. Lukeš, & M. Eliáš, Sex is a ubiquitous, ancient, and inherent attribute of eukaryotic life, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 112 (29) 8827-8834, https://doi.org/10.1073/pnas.1501725112 (2015).
[2] Goymann, W., Brumm, H., & Kappeler, P. M. (2023). Biological sex is binary, even though there is a rainbow of sex roles. BioEssays, 45, e2200173. https://doi.org/10.1002/bies.202200173
[3] Sax, L. (2002). How common is lntersex? A response to Anne Fausto‐Sterling. The Journal of Sex Research, 39(3), 174–178. https://doi.org/10.1080/00224490209552139
[4] Ainsworth, C. Sex redefined. Nature 518, 288–291 (2015). https://doi.org/10.1038/518288a
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