Sonntag, 11. August 2024

Kritische Einordnung multivariater Geschlechtsmodelle

Die Biologie hat eine lange Tradition, komplexe Naturphänomene so genau wie möglich zu beschreiben, ohne mehr hineinzulesen, als empirisch haltbar ist. Gleichzeitig rückt in wissenschaftlichen Publikationen immer häufiger die Forderung nach neuen Begriffen, erweiterten Modellen und einer stärkeren Sensibilität für Terminologie in den Mittelpunkt. Ein häufig in Debatten zum Thema "Geschlecht" vorgebrachter Artikel mit dem Titel "Multivariate Models of Animal Sex: Breaking Binaries Leads to a Better Understanding of Ecology and Evolution" von McLaughlin et al. (2023) knüpft an dieses Ziel an – zumindest vordergründig [1].

Er argumentiert, Tiergeschlecht sei kein binäres, sondern ein "multivariates" Phänomen und verspricht, die Vielfalt tierischer Sexualmerkmale jenseits einfacher Kategorien auszuleuchten. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die deskriptive Biologie häufig in unmittelbarer Nähe zu normativen, gesellschaftlich motivierten Aussagen steht, und sich manche Argumente gegen Annahmen richten, die in der modernen Biologie längst keine Rolle mehr spielen. Genau hier lohnt es sich genauer hinzusehen.

Sexuelle Vielfalt wird nicht bestritten

Der erste Teil des Papers zeichnet ein Bild, das jedem biologisch gebildeten Leser vertraut vorkommt: Das "biologische" Geschlecht (engl. sex; lat. Sexus) sei kein einheitliches Merkmal, sondern bestehe aus einer Vielzahl von Ebenen – von Chromosomen über Hormone und Anatomie bis hin zu Verhalten. Die Autoren zeigen anhand mehrerer Beispiele, dass diese Merkmale nicht immer miteinander korrelieren. Sie verweisen auf Vögel mit polyandrischen Paarungssystemen, Fische mit genetisch überlagerten Sexbestimmungssystemen, polymorphe Echsen mit mehreren reproduktiven Verhaltensformen innerhalb eines Geschlechts und Supergene, die angeblich "vier Geschlechter" hervorbringen.

Tatsächlich hat die Evolutionsbiologie seit vielen Jahrzehnten detailliert gezeigt, wie flexibel Sexualdimorphismen sein können. Territorialität, Aggressionsverhalten, Brutpflege, Körpergröße, Ornamentik – all diese Eigenschaften variieren artspezifisch und werden durch ein komplexes Zusammenspiel aus genetischen, hormonellen und ökologischen Faktoren geformt. Die Beispiele, die die Autoren anführen, sind spannend, aber keineswegs revolutionär. Es handelt sich um gut dokumentierte Fälle, die die biologische Diversität auf der Ebene der Geschlechtsausprägung und -organisation unterstreichen, jedoch nicht das Gesetz der Zweigeschlechtlichkeit brechen. Die Darstellung der Autoren erweckt jedoch gelegentlich den Eindruck, als hätte die Forschung bislang auch auf der Ebene der mit dem Geschlecht assoziierten Merkmale und Ausprägungen ausschließlich ein streng binäres und starres Modell verwendet, was so nicht zutrifft. Gerade Evolutionsbiologen keinen seit vielen Jahrzehnten Variation, Kontinua und polymorphe Strategien.

Wenn aus Vielfalt "nicht-binär" wird

Besonders deutlich wird der rhetorische Anspruch des Artikels beim Versuch, "binäre Modelle" generell als unzureichend darzustellen. Hier lohnt es sich, sauber zu trennen, was gemeint ist:

Der Gametentyp, also die Unterscheidung zwischen Eizellen und Spermien, ist in der Tierwelt tatsächlich universell binär. Die darauf basierende Definition des Geschlechts ist ebenfalls begrifflich klar und funktional stabil. Nichts in den von McLaughlin et al. (2023) angeführten Beispielen ändert etwas daran. Was hingegen vielfältig ist, sind die Merkmale unterhalb dieser übergeordneten Ebene: hormonelle Schwankungen, Temperaturanpassungen, sekundäre Sexualmerkmale oder alternative Lebensstrategien. Doch aus der berechtigten Beobachtung solcher Variation folgt nicht, dass die Kategorie "Geschlecht" als biologische Grundstruktur selbst "non-binar" wird. Der Artikel vermischt hier mehrere Ebenen und spricht gleichzeitig über Gameten, Chromosomen, Hormone und Verhalten, als wären sie konzeptionell gleichwertige Indikatoren für "sex". Das führt zur semantischen Auflösung des Begriffs, statt zu seiner Präzisierung.

Ein besonders prägnantes Beispiel ist die Weißkehlammer (Zonotrichia albicollis), die aufgrund eines chromosomalen Supergens zwei Morphe pro Geschlecht hervorbringt. Die Autoren formulieren zugespitzt, es gebe "vier operative Geschlechter". Biologisch gesehen ist diese Interpretation aber irreführend. Gametenproduktion bleibt auch hier eindeutig zweigeteilt: Männchen produzieren Spermien, Weibchen Eier. Was sich ändert, sind Verhalten, Hormonprofile und Paarungspräferenzen – aber diese Variation erzeugt keine vier Geschlechter, sondern vier reproduktive Phänotypen, von denen zwei auf jeweils einem Geschlecht basieren. Dass diese sich disassortativ paaren, ist evolutionsbiologisch hochinteressant. Aber es bricht nicht die binäre Struktur von Gameten auf, die das grundlegende Merkmal biologischer Geschlechterdefinition bleibt.

Strohmänner und rhetorische Konstruktionen

Ein zentraler Schwachpunkt des Papers liegt in den wiederkehrenden Behauptungen über eine angeblich weit verbreitete "simplistische binäre Sichtweise" in der Biologie. Evolutionsbiologen wissen seit Jahrzehnten, dass Sexualdimorphismen vielfältig sein können. Es gibt kaum jemanden, der ernsthaft meint, alle Merkmale eines Organismus seien strikt an einen idealisierten männlichen oder weiblichen Archetyp gebunden. Dennoch formulieren die Autoren die Argumentation, als müsse man eine dogmatische Lehrmeinung korrigieren. In Wahrheit wird jedoch ein kaum existierender Gegner adressiert, um ein alternatives Modell attraktiver erscheinen zu lassen. Solche Strohmänner tragen im populären Diskurs zwar zur Zuspitzung bei, schwächen aber die wissenschaftliche Argumentation.

Indem der Artikel so tut, als wäre die Biologie noch immer im 19. Jahrhundert verhaftet und müsse überhaupt erst lernen, dass Geschlechtsausprägungen und Verhalten nicht binär sind, wirkt ein erheblicher Teil der Argumentation künstlich. Das Problem wird nicht aus der modernen Wissenschaft selbst geboren, sondern aus der Debatte über gesellschaftliche Missverständnisse. Die Autoren verknüpfen Biologie und Soziopolitik so eng, dass das naturwissenschaftliche Argument zunehmend an Schärfe verliert.

Essenzielle Merkmale vs. akzidentelle Merkmale von Geschlecht

Gerade das Beispiel der "rollenvertauschten" Jacanas (Gelbstirn-Blatthühnchen (Jacana spinosa)) lohnt einen näheren Blick, denn hier zeigt sich besonders deutlich, wie im diskutierten Artikel zwei eigentlich getrennte Ebenen vermischt werden. Die Autoren kritisieren zunächst völlig zu Recht den anthropozentrischen Begriff "sex-role reversal". Ein Jacana-Weibchen verhält sich nicht untypisch, weil es aggressiv ist und Territorien verteidigt – es ist einfach nur ein Jacana-Weibchen, und sein Verhalten ist biologisch typisch für Weibchen dieser Art. Aus der Perspektive der Jacanas ist nichts "vertauscht". Ihre Sozialstruktur ist lediglich eine adaptive Strategie, die sich evolutiv etabliert hat. Insofern ist es richtig und begrüßenswert, wenn der Artikel aufzeigt, dass Begriffe wie "Rollentausch" problematisch sind, weil sie unbewusst eine Norm unterstellen, die biologisch nicht existiert.

Im weiteren Verlauf wird diese berechtigte Kritik an irreführenden Begriffen allerdings subtil dazu verwendet, das binäre Geschlechtskonzept selbst infrage zu stellen, als wären Jacana-Weibchen und die sonstigen Beispiele im Paper ein Beleg dafür, dass "männlich" und "weiblich" als Kategorien biologisch unzureichend seien. Genau hier entsteht der argumentative Fehlschluss: Die beobachtete Variation betrifft nicht das, was in der Biologie das essenzielle Merkmal von Geschlecht ist – nämlich die Art der Gameten, die ein Organismus produziert –, sondern ausschließlich akzidentelle Merkmale, also Begleitmerkmale, die sich über die Evolution hinweg flexibel verändern können. Die Vielfalt der akzidentellen Merkmale sagt nichts über die Struktur des essenziellen Merkmals aus. Dass ein Jacana-Weibchen territorial ist und ein Jacana-Männchen die Brutpflege übernimmt, widerlegt daher nicht die Binarität des Geschlechts, sondern bestätigt lediglich die bekannte Tatsache, dass sexuelle Selektionsdrücke zu unterschiedlichen Verhaltensstrategien führen können.

Wenn der Artikel Variation argumentativ so einsetzt, als spreche sie gegen das binäre Sexkonzept selbst, dann entsteht der Eindruck, als diene die berechtigte Sprachkritik am Anthropozentrismus implizit der Delegitimierung eines robusten biologischen Grundbegriffs. Hier zeigt sich exemplarisch, wie das Paper biologisch korrekte Beobachtungen nimmt, diese jedoch sprachlich in einem Frame präsentiert, der den eigentlichen Mechanismus überzeichnet.

Wenn Biologie und Politik kollidieren

Der letzte Abschnitt des Papers verlässt die strikt biologische Ebene vollständig und thematisiert politische Debatten, insbesondere um Geschlechtsbegriffe in Gesetzestexten und gesellschaftliche Diskurse über Transgender und Menschen mit nicht-binärer Identität. Dass wissenschaftliche Begriffe politisch missbraucht oder überverkürzt werden können, ist unbestritten. Allerdings verwischt der Artikel an mehreren Stellen die Grenze zwischen empirischer Beschreibung und normativer Positionierung. Das Anliegen, Missverständnisse zu vermeiden, ist begrüßenswert. Doch im Versuch, gesellschaftliche Argumentationsmuster zu korrigieren, verliert der Text selbst die analytische Trennschärfe, die Naturwissenschaft auszeichnet. Dadurch entsteht der Eindruck, dass biologische Beispiele selektiv hervorgehoben oder überinterpretiert werden, um gesellschaftliche Ziele zu stützen, statt gesellschaftliche Themen getrennt vom naturwissenschaftlichen Kern abzuhandeln.

Fazit

Der Aufsatz von McLaughlin et al. (2023) bietet interessante Beobachtungen und erinnert daran, wie vielfältig sich Organismen um die geschlechtliche Binarität organisieren. Viele Fallbeispiele sind biologisch faszinierend und die Kritik an nicht reflektierter Terminologie ist absolut berechtigt. Gleichzeitig verdeckt der normative Unterton, dass die meisten der angeblich "binären Dogmen" in der modernen Biologie längst keine Rolle mehr spielen. Die Unterscheidung zwischen Gameten als binärer Kernstruktur und den vielfältigen daraus hervorgehenden Merkmalen wird im Text unscharf behandelt, wodurch ein begriffliches Durcheinander entsteht. Statt ein präziseres Verständnis zu schaffen, droht "sex" hier rhetorisch aufgelöst zu werden.

Empirische Vielfalt sexueller Merkmale und die rhetorische Zuspitzung, von dieser Vielfalt auf eine grundlegende Revision des Sexbegriffs zu schließen, mögen zwar im selben Paper stehen. Doch sie sind nicht dasselbe.

Quellen

[1] J F McLaughlin, Kinsey M Brock, Isabella Gates, Anisha Pethkar, Marcus Piattoni, Alexis Rossi, Sara E Lipshutz, Multivariate Models of Animal Sex: Breaking Binaries Leads to a Better Understanding of Ecology and Evolution, Integrative and Comparative Biology, Volume 63, Issue 4, October 2023, Pages 891–906, https://doi.org/10.1093/icb/icad027

Mittwoch, 7. August 2024

Olympia: Der Fall Imane Khelif

Mit Bestürzung und wissenschaftlicher Sorge beobachten wir die aktuelle Debatte rund um die algerische Boxerin Imane Khelif, die trotz eines nicht bestandenen Geschlechtertests der International Boxing Association (IBA) bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris im Frauenboxen teilnehmen darf. Medien berichten unter Bezugnahme auf den IBA-Präsidenten Umar Kremlev, dass bei Khelif (wie auch bei ihrer taiwanischen Kollegin Lin Yu-ting) XY-Chromosomen sowie erhöhte Testosteronwerte festgestellt wurden, was nach den Regeln des Box-Weltverbandes als Kriterium für eine biologisch männliche Geschlechtszuordnung gilt: IBA clarifies the facts: the letter to the IOC regarding two ineligible boxers was sent and acknowledged

Der Mediziner und Präsident des europäischen Boxverbandes (EUBC) Dr. Ioannis Filippatos bestätigte im Rahmen einer Pressekonferenz, dass Khelif und Lin aufgrund nicht näher genannter Bluttests dem männlichen Geschlecht zuzuordnen seien: ‘They are men’: Dr Ioannis Filippatos weighs in on Olympic boxing gender row

Für das Internationale Olympische Komitee (IOC) gilt jedoch das Geschlecht im Pass, welches Khelif als weiblich ausweist und ihr die Teilnahme im olympischen Frauenboxen ermöglicht: Joint Paris 2024 Boxing Unit/IOC Statement

Hinter dieser Geschichte steckt ein biologisches wie ethisches Spannungsfeld, das sachlich diskutiert werden muss.

Was ist Androgenresistenz?

Das Androgenresistenzsyndrom (AIS) ist eine Anomalie, bei der aufgrund einer Mutation im Androgenrezeptor-Gen trotz XY-Chromosomensatzes der Körper nicht oder nur unvollständig auf Androgene (männliche Sexualhormone wie Testosteron) reagiert [1]. Es gibt zwei Hauptformen:

Komplette Androgenresistenz (CAIS): Der Körper ist vollständig unempfindlich gegenüber Testosteron. Betroffene entwickeln äußerlich ein weibliches Erscheinungsbild, welches bei der Geburt oberflächlich festgestellt und entsprechend dokumentiert wird, besitzen jedoch keine Gebärmutter oder Eierstöcke, sondern innenliegende, Testosteron freisetzende Hoden.

Partielle Androgenresistenz (PAIS): Eine teilweise Reaktion auf Testosteron führt zu einem uneindeutigen Geschlechtsbild oder einem weiblich erscheinenden Körper mit männlichen inneren Strukturen.

Bei beiden AIS-Formen handelt es sich demnach um Störungen der männlichen Geschlechtsentwicklung, weshalb Betroffene biologisch männlich einzustufen sind. In der Pubertät, die sich bei AIS-Betroffenen oft verzögert, können unterschiedliche Manifestationen auftreten, abhängig von der Schwere der Resistenz.
  • Genotyp: 46,XY SRY+ (genetisch männlich)
  • Hormonspiegel: Testosteron normal oder erhöht, DHT normal – aber Zielzellen reagieren nicht
  • Empfindlichkeit gegenüber Androgenen: Gestört oder vollständig blockiert
  • CAIS: Keine Androgenwirkung → Körper entwickelt sich äußerlich weiblich
  • PAIS: Uneindeutige Genitalien
  • Äußere Merkmale bei Geburt: Weiblich bei CAIS, uneindeutig bei PAIS
  • Pubertät: Keine Menstruation, keine Gebärmutter, aber weibliche Brustentwicklung (weil Testosteron in Östrogen umgewandelt wird)
  • Innere Geschlechtsorgane: Hoden vorhanden, keine Gebärmutter
  • Fruchtbarkeit: Unfruchtbar
Kurz: Die Androgene sind da, aber der Körper kann sie nicht nutzen, weil die Rezeptoren defekt sind.

Was ist ein 5α-Reduktase-2-Mangel?

Hierbei handelt es sich um einen Enzymdefekt (Mutation im SRD5A2-Gen), der die Umwandlung von Testosteron in Dihydrotestosteron (DHT) verhindert [2]. DHT ist eine besonders wirksame Form von Testosteron, notwendig für die Entwicklung der äußeren männlichen Genitalien während der Embryonalentwicklung.
  • Genotyp: 46,XY SRY+ (genetisch männlich)
  • Hormonspiegel: Testosteron normal oder erhöht, DHT stark vermindert
  • Empfindlichkeit gegenüber Androgenen: Normal – der Körper reagiert auf Testosteron, wenn es vorhanden ist
  • Äußere Merkmale bei Geburt: Weiblich oder uneindeutig, da DHT für die Ausbildung eines Penis notwendig ist
  • Pubertät: Durch steigendes Testosteron kann eine Vermännlichung einsetzen (Stimmbruch, Muskelaufbau, Wachstum des Phallus)
  • Innere Geschlechtsorgane: Hoden vorhanden, keine Gebärmutter
  • Fruchtbarkeit: Unfruchtbar
Kurz: Die Androgene wirken, aber das wichtige DHT fehlt – daher mangelhafte Entwicklung der äußeren männlichen Genitalien trotz männlichem Hormonprofil.

Anzumerken ist außerdem, dass viele Patienten mit einem 5α-Reduktase-2-Mangel zwar bei der Geburt als weiblich eingeordnet werden, später jedoch eine männliche Geschlechtsidentität entwickeln. Mendonca et al. (2016) betonen in einem umfangreichen Review-Paper die zentrale Rolle einer pränatalen und pubertären Androgenwirkung auf das Gehirn und die daraus resultierende Ausbildung einer männlichen Geschlechtsidentität [3].

Faszinierend ist in diesem Kontext das Phänomen der sogenannten "Guevedoces". Es tritt hauptsächlich in der Dominikanischen Republik auf und beschreibt männliche Menschen, die bei der Geburt weiblich erscheinen, da ihre äußeren Geschlechtsmerkmale aufgrund eines 5α-Reduktase-2-Mangels noch nicht vollständig entwickelt sind. In der Pubertät, wenn der Testosteronspiegel stark ansteigt, entwickeln sich bei den Betroffenen dann doch männliche Merkmale wie Penis und Hoden, was zu einer sichtbaren Geschlechtsveränderung führt. Der Name "Guevedoces" stammt aus dem Spanischen und bedeutet sinngemäß "Penis mit zwölf" – ein Hinweis auf das Alter, in dem die Veränderung meist auftritt.

Was ist das Swyer-Syndrom?

Der Vollständigkeit halber soll noch das Swyer-Syndrom (auch bekannt als 46,XY-Gonadendysgenesie) erwähnt werden, bei dem ebenfalls eine typisch männliche 46,XY-Chromosomenkombination bei weiblichem Erscheinungsbild vorliegt. Anders als die oben genannten Anomalien wird dieses Syndrom allerdings nicht dem männlichen, sondern dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, weil der Genotyp (46,XY SRY-) aufgrund einer Mutation oder Deletion des SRY-Gens (Sex determining region of Y), dem Masterkontrollgen für die männliche Geschlechtsentwicklung bei Säugetieren, als weiblich definiert wird. Die Geschlechtsdrüsen (Gonaden) sind unterentwickelt und daher nicht funktionsfähig. In der medizinischen Praxis ordnet man solche Fälle dem nächstliegenden funktionalen Geschlecht zu – in diesem Fall ebenfalls dem weiblichen Geschlecht, weil die äußeren und inneren Geschlechtsmerkmale weiblich ausgeprägt sind, da keine funktionellen Hoden und in der Folge keine Testosteron vorhanden sind.
 
Einen Überblick inklusive einer anschaulichen schematischen Darstellung der Entwicklungschritte der drei genannten Anomalien der Geschlechtsentwicklung liefern Reyes et al. (2023) [4].

Testosteron und körperliche Vorteile

Im Fall von Khelif sind ein 46,XY-Karyotyp sowie erhöhte Testosteronwerte bekannt (siehe Exklusivinterview mit Khelifs Trainer Georges Cazorla in 'Le Point'). Ebenso kann aufgrund ihrer phänotypischen Merkmale das Einsetzen einer männlichen Pubertät und demnach ein Vorhandensein des SRY-Gens angenommen werden. Dies deutet auf eine partielle Androgenresistenz, einen Steroid-5α-Reduktase-Mangel Typ 2 oder eine vergleichbare Störung der männlichen Geschlechtsentwicklung hin, bei der die Wirkung von Testosteron in der Fetal- oder Pubertätsphase zumindest teilweise funktionierte. Das Swyer-Syndrom kann demnach mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Während der Pubertät bewirkt Testosteron bei XY-Personen eine tiefgreifende Veränderung:
  • Zunahme der Muskelmasse
  • Vergrößerung von Herz und Lunge
  • dichtere Knochenstruktur
  • höhere Hämoglobinwerte (bessere Sauerstoffversorgung)
  • schnellerer Kraftaufbau
Diese Effekte sind irreversibel, auch wenn später hormonelle Eingriffe vorgenommen werden. Studien wie die von Handelsman et al. (2018) bestätigen, dass die körperlichen Vorteile durch Testosteron-Exposition dauerhaft sind und in Kraft-, Ausdauer- und Explosivsportarten eine signifikante Rolle spielen [5]. Im Kontext des Boxens ist eine Arbeit von Morris et al. (2020) interessant, die zeigte, dass die Kraft der Arme bei Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen bei männlichen Studienteilnehmern gegenüber weiblichen Teilnehmerinnen um 162 % (also etwa das Zweieinhalbfache) erhöht ist [6].

Identität vs. Biologie

Die Entscheidung des IOC, sich in Teilen stärker auf die (angebliche) Selbstidentifikation zu stützen als auf biologische Grundlagen, führt zu einem Widerspruch zu Prinzipien sportlicher Fairness. Imane Khelifs Identität ist grundsätzlich zu respektieren und persönliche Diffamierungen lehnen wir entschieden ab. Es ist allerdings unbekannt, welche Geschlechtsidentität Khelif tatsächlich intrinsisch ausgebildet hat und ob diese ihrer nach außen präsentierten sozialen Geschlechterrolle entspricht, die womöglich im privaten Umfeld eine andere sein könnte als im sportlichen Kontext. Der Leistungssport beruht jedoch unabhängig davon auf objektiv messbaren Voraussetzungen wie Gewichtsklassen, Altersgruppen und Geschlechtertrennung, nicht auf subjektiven Empfindungen.

Wenn eine biologisch männliche Person, die von einer maskulinisierenden Pubertät profitiert hat, gegen biologische Frauen antritt, ist das nicht nur unfair, sondern untergräbt das Vertrauen in die Integrität des Sports. Das IOC scheint hier zunehmend ideologischen Druck über wissenschaftliche Erkenntnisse zu stellen.

Hinweise auf ein stillschweigendes Wissen?

Bei Olympia fällt Khelif durch außergewöhnliche Leistungen auf – etwa einem schnellen Sieg während ihres Auftaktkampfes gegen ihre italienische Gegnerin Angela Carini, die nach 46 Sekunden aufgeben musste. Sportliche Dominanz an sich ist zwar kein Beweis für biologische Vorteile, doch kombiniert mit dem XY-Befund ergibt sich ein konsistentes Bild.

Auch kulturelle Beobachtungen geben Anlass für Fragen: In Algerien ist es für Frauen unüblich, von Männern öffentlich umarmt oder gar körperlich gefeiert zu werden. Dennoch zeigen Aufnahmen, wie Khelif von männlichen Trainern und Betreuern emotional und körperlich gefeiert wird, als gäbe es keine Zweifel an ihrem Geschlecht und als wüssten alle Beteiligten stillschweigend um ihre biologische Männlichkeit.

Kritik an Khelifs Verhalten wäre somit zwar berechtigt, verlagert die Debatte jedoch auf den falschen Adressaten. Getreu dem Motto "Blame the game, not the player" sollte sich die Kritik in erster Linie auf das IOC konzentrieren. Verwiesen sei an dieser Stelle auf eine umfangreiche Stellungnahme renommierter Mediziner und Sportwissenschaftler im 'Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports', die betonen, dass die IOC-Statuten zu "Fairness, Inklusion und Nichtdiskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität und geschlechtlichen Variationen" die Fairness gegenüber Athletinnen in keiner Weise schützen [7].

Ein Aufruf zur Rückkehr zur Wissenschaft

Wir als Interessengemeinschaft eines naturalistischen Verständnisses der menschlichen Sexualbiologie empfehlen:
  • Eine klare und faire Einhaltung biologischer Kriterien bei der Geschlechtereinteilung im Sport.
  • Einen respektvollen, aber faktenbasierten Diskurs über DSD-Athleten ohne ideologische Scheuklappen.
  • Schutzräume für den Frauenleistungssport, in dem keine Athletin durch männliche Konkurrenz benachteiligt wird.
Denn Biologie ist keine Meinung. Sie ist Grundlage unserer körperlichen Realität – auch, wenn das manchmal unbequem ist.

Quellen

[1] Hughes IA, Davies JD, Bunch TI, Pasterski V, Mastroyannopoulou K, MacDougall J. Androgen insensitivity syndrome. Lancet. 2012 Oct 20;380(9851):1419-28. doi: 10.1016/S0140-6736(12)60071-3. Epub 2012 Jun 13. PMID: 22698698

[2] Okeigwe I, Kuohung W. 5-Alpha reductase deficiency: a 40-year retrospective review. Curr Opin Endocrinol Diabetes Obes. 2014 Dec;21(6):483-7. doi: 10.1097/MED.0000000000000116. PMID: 25321150.

[3] Berenice B. Mendonca, Rafael Loch Batista, Sorahia Domenice, Elaine M.F. Costa, Ivo J.P. Arnhold, David W. Russell, Jean D. Wilson, Steroid 5α-reductase 2 deficiency, The Journal of Steroid Biochemistry and Molecular Biology, Volume 163, 2016, Pages 206-211, ISSN 0960-0760, https://doi.org/10.1016/j.jsbmb.2016.05.020.

[4] Reyes, A.P., León, N.Y., Frost, E.R. et al. Genetic control of typical and atypical sex development. Nat Rev Urol 20, 434–451 (2023). https://doi.org/10.1038/s41585-023-00754-x

[5] David J Handelsman, Angelica L Hirschberg, Stephane Bermon, Circulating Testosterone as the Hormonal Basis of Sex Differences in Athletic Performance, Endocrine Reviews, Volume 39, Issue 5, October 2018, Pages 803–829, https://doi.org/10.1210/er.2018-00020
 
[6] Jeremy S. Morris, Jenna Link, James C. Martin, David R. Carrier; Sexual dimorphism in human arm power and force: implications for sexual selection on fighting ability. J Exp Biol 15 January 2020; 223 (2): jeb212365. doi: https://doi.org/10.1242/jeb.212365
 
[7] Lundberg, T.R., Tucker, R., McGawley, K., Williams, A.G., Millet, G.P., Sandbakk, Ø., Howatson, G., Brown, G.A., Carlson, L.A., Chantler, S., Chen, M.A., Heffernan, S.M., Heron, N., Kirk, C., Murphy, M.H., Pollock, N., Pringle, J., Richardson, A., Santos-Concejero, J., Stebbings, G.K., Christiansen, A.V., Phillips, S.M., Devine, C., Jones, C., Pike, J. and Hilton, E.N. (2024), The International Olympic Committee framework on fairness, inclusion and nondiscrimination on the basis of gender identity and sex variations does not protect fairness for female athletes. Scand J Med Sci Sports, 34: e14581. https://doi.org/10.1111/sms.14581

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