Sonntag, 29. Juni 2025

Kritische Diskussion: Queerness in der Natur

Immer wieder wird in gesellschaftspolitischen Debatten auf die Natur verwiesen, um bestimmte Verhaltensweisen, Identitäten oder soziale Strukturen zu begründen oder zu legitimieren. Ein aktuelles Beispiel dafür ist eine Bilderserie der österreichischen Partei "Die Grünen", die auf Instagram unter dem Titel "Das Natürlichste der Welt? Queer sein" acht Beispiele aus der Tier- und Pilzwelt präsentiert, um auf die Vielfalt sexueller Ausdrucksformen hinzuweisen – mit dem impliziten oder expliziten Ziel, "queere" Identitäten auch im menschlichen Kontext als "natürlich" darzustellen:


Solche Argumentationen sind auf den ersten Blick wohlmeinend und sollen Akzeptanz fördern, bergen aber auch die Gefahr, biologisch komplexe Phänomene zu vereinfachen oder falsch zu deuten. Insbesondere rücken sie die Naturwissenschaften in eine politische Rolle, die ihnen nicht immer gerecht wird. Biologische Diversität wird hier zum Argument für gesellschaftliche Diversität gemacht – ein Schritt, der sowohl aus naturwissenschaftlicher als auch aus philosophischer Sicht kritisch zu hinterfragen ist.

In diesem Artikel nehmen wir die acht Beispiele der Bilderserie genauer unter die Lupe: Was zeigen sie tatsächlich aus biologischer Sicht? Was sagen sie über Sexualität, Geschlecht und Verhalten in der Natur aus? Und inwiefern lassen sich solche Beobachtungen sinnvoll (oder überhaupt) auf den Menschen übertragen? Dabei wird auch auf den Unterschied zwischen deskriptiver Naturbeschreibung und normativer Argumentation eingegangen, um naturalistischen Fehlschlüssen vorzubeugen.

1. "Schwule Pinguinpaare" und das Ausbrüten verlassener Eier

Die Beobachtung, dass gleichgeschlechtliche, insbesondere männliche Pinguinpaare gemeinsam Eier ausbrüten oder Aufzuchtverhalten zeigen, ist vielfach dokumentiert worden [1]. Berühmt wurden Fälle aus Zoos, etwa das Paar "Roy und Silo" im Central Park Zoo in New York, das in den frühen 2000ern ein Ei erfolgreich auszubrüten begann. Solche Beispiele werden oft medial als Beleg für "Homosexualität" oder "Queerness" in der Tierwelt herangezogen. Doch wie belastbar ist diese Interpretation aus biologischer Sicht?

Beobachtungen in Gefangenschaft vs. freier Wildbahn

Zwar wurden gleichgeschlechtliche Brutpaare bei Pinguinen auch in der freien Natur beobachtet. die meisten dokumentierten Fälle stammen jedoch aus Haltungen in menschlicher Obhut. Diese Umgebung unterscheidet sich jedoch erheblich von natürlichen Habitaten – sowohl in Bezug auf Partnerverfügbarkeit als auch auf soziale Dynamiken. Studien an Säugetieren weisen darauf hin, dass gleichgeschlechtliches Paarungsverhalten in Gefangenschaft oft als kompensatorisches Verhalten auftritt, etwa bei unausgeglichenem Geschlechterverhältnis oder mangelnder Verfügbarkeit gegengeschlechtlicher Partner [2].

Paarbindung und Dauerhaftigkeit

Es gibt Hinweise darauf, dass männlich-männliche Paare bei Pinguinen über längere Zeiträume zusammenbleiben können – sogar über mehrere Brutperioden hinweg. Dennoch ist nicht abschließend geklärt, ob diese Bindungen dieselbe Funktion haben wie gegengeschlechtliche Paarungen. Viele Forscher vermuten, dass das Verhalten eher sozial kompensatorisch oder reproduktiv opportunistisch motiviert ist, z. B. durch Bruttrieb ohne verfügbaren Fortpflanzungspartner.

Übertragbarkeit auf den Menschen

Auch wenn gleichgeschlechtliche Interaktionen bei Pinguinen insbesondere in Gefangenschaft, aber auch in der Natur vorkommen und evolutionäre Vorteile haben können (z. B. soziale Stabilität, Adoption verwaister Eier), ist es problematisch, daraus direkte Parallelen zur menschlichen erotischen Veranlagung oder zu "queeren" Identitätsformen zu ziehen. Das Verhalten lässt sich evolutionär oft besser durch soziale Bindung, kompensatorische Brutpflege oder Reaktion auf Umweltbedingungen erklären als durch eine dauerhafte gleichgeschlechtliche Präferenz im Sinne des Menschen. Es ist ein wertvolles Argument für die Natürlichkeit von gleichgeschlechtlichen Interaktionen, aber kein direkter Spiegel menschlicher Verhaltensweisen. 

2. "Viele Schneckenarten haben mehrere Geschlechter gleichzeitig": Was Simultanzwitter wirklich sind

In der Bilderserie wird das Paarungsverhalten von Landlungenschnecken als Beispiel für "mehrere Geschlechter gleichzeitig" angeführt. Diese Aussage ist in ihrer Formulierung jedoch biologisch falsch und führt leicht zu Fehlinterpretationen über Geschlechtervielfalt im Tierreich.

Zwei Geschlechter in einem Individuum

Viele Schneckenarten, insbesondere Landlungenschnecken (Pulmonata), sind Simultanzwitter [3]. Sie besitzen gleichzeitig funktionstüchtige männliche und weibliche Fortpflanzungsorgane und können bei der Paarung sowohl Spermien abgeben als auch Eizellen bereitstellen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie "mehrere" (im Sinne von "mehr als zwei") Geschlechter besitzen – im Gegenteil: Die biologische Grundlage bleibt die klassische Zweigeschlechtlichkeit, die durch Anisogamie definiert ist – die Unterscheidung in kleine, bewegliche Gameten (Spermien) und große, unbewegliche Gameten (Eizellen).
 
Wichtig: Es existieren zwei reproduktive Geschlechter. Diese können in einem Organismus vereint sein, aber das bedeutet nicht, dass es "mehrere" (im Sinne von drei oder mehr) Geschlechter gäbe.

Warum sind Schnecken Zwitter?

Bei vielen Landlungenschnecken ist die Wahrscheinlichkeit, einen geeigneten Paarungspartner zu treffen, aufgrund ihrer langsamen Fortbewegung und oft solitären Lebensweise gering. Simultanzwittertum stellt in diesem Kontext einen evolutionären Vorteil dar: Jeder beliebige Artgenosse ist grundsätzlich ein potenzieller Fortpflanzungspartner, was eine statistische Verdopplung der Reproduktionschancen darstellt. Bei einem Treffen können sich beide Individuen gegenseitig befruchten, was ihre Fitness erhöht.

Auch die in der Fotostrecke der Grünen genannten Liebespfeile (Calcareous darts; Gypsobelum), die bei bestimmten Arten während der Paarung eingesetzt werden, sind keine Zeichen "romantischer Vielfalt", sondern Teil eines Fortpflanzungskonflikts: Die Pfeile beeinflussen hormonell die Spermaspeicherung im Körper des Partners und erhöhen die eigene Befruchtungschance. Sie sind damit ein Beispiel für sexuellen Konflikt [4].

Keine Infragestellung, sondern Bestätigung der Zweigeschlechtlichkeit

Simultanzwitter wie Schnecken zeigen, dass es in der Natur zwei reproduktive Geschlechter gibt, die in manchen Arten nicht auf zwei Individuen verteilt, sondern in einem Körper vereint sind. Das stellt das bipolare Geschlechtersystem nicht infrage, sondern bestätigt es sogar auf besonders interessante Weise.

Daraus lassen sich keine Rückschlüsse auf menschliche Geschlechtsidentität oder -diversität ziehen, denn:
  • Die Existenz simultaner Fortpflanzungsorgane ist keine Parallele zu inter- oder transgeschlechtlichen Menschen.
  • Die Kategorie "Geschlecht" im biologischen Sinne bezieht sich auf Gametenproduktion, nicht auf Identität oder Rollenverhalten.
 

3. Schwarznasenschaf: "Etwa 6 % der Schafböcke haben ausschließlich Bock auf andere Böcke"

Dieses Beispiel bezieht sich auf Beobachtungen bei domestizierten Hausschafen (Ovis aries), insbesondere bei Rassen wie dem amerikanischen Rocky-Mountain-Bighorn-Schaf oder dem europäischen Schwarznasenschaf. Dort wurde dokumentiert, dass ein kleiner Prozentsatz männlicher Tiere dauerhaft auf gleichgeschlechtliche Partner fixiert ist und Weibchen konsequent ignoriert [5].

Einzigartig – aber erklärungsbedürftig

Tatsächlich gelten Hausschafe als eine der wenigen dokumentierten Tierarten, bei denen bestimmte männliche Individuen über längere Zeiträume ausschließlich gleichgeschlechtliches Sexualverhalten zeigen – auch dann, wenn fruchtbare Weibchen verfügbar sind. Das macht sie zu einer Ausnahme im Tierreich, denn bei den meisten dokumentierten "homoerotischen" Tierverhalten handelt es sich um temporäre Verhaltensweisen, nicht um dauerhafte Orientierung im menschlichen Sinne.

Domestikation als Defektsituation?

Aus unserer Sicht handelt es sich bei diesen Beobachtungen um Verhalten unter Bedingungen der Gefangenschaft oder Domestikation, d. h. in einem durch künstliche Selektion, Haltung und Zucht beeinflussten Kontext. Solche Bedingungen können biologische Gleichgewichte etwa durch Fehlprägung in frühen Lebensphasen, Reizentzug oder Reizverschiebung in isolierten Herden oder durch ungewollte Selektion auf Verhaltensmerkmale, die in freier Wildbahn nicht überlebensfähig wären, verschieben. In Wildpopulationen wurden solche fixierten homoerotischen Präferenzen nicht beobachtet, auch nicht bei den nah verwandten Wildschafen oder Mufflons.

Kein klarer Analogieschluss möglich

Auch wenn es bei Hausschafböcken interessante Befunde zum Sexualverhalten gibt, ist Vorsicht geboten, diese als Bestätigung menschlicher erotischer Veranlagungen "in der Natur" zu deuten. Die Beobachtungen stammen aus nicht natürlichen Lebensräumen und die neurologischen Korrelate, so interessant sie sein mögen, erklären noch keine bewusste Identitätsbildung. Die Existenz gleichgeschlechtlichen Verhaltens bei Tieren legitimiert menschliche Homoerotik nicht, macht sie aber auch nicht erklärungsbedürftig. Die moralische Akzeptanz menschlicher Vielfalt sollte nicht von Tiervergleichen abhängig gemacht werden, insbesondere dann nicht, wenn diese wissenschaftlich umstritten sind.
 

4. Clownfische: "Wenn das dominante Weibchen stirbt, wird das ranghöchste Männchen zum Weibchen"

Dieses Beispiel beschreibt korrekt ein faszinierendes Phänomen aus der Biologie vieler Fischarten: den Geschlechterwechsel [6], hier konkret bei Clown- bzw. Anemonenfischen (Amphiprioninae). Dabei handelt es sich um eine Form von Konsekutivzwittertum, also einen zeitlich nacheinander erfolgenden Wechsel des funktionellen Geschlechts. Clownfische sind proterandrisch, das heißt: sie sind zunächst männlich und können sich später in funktionelle Weibchen umwandeln.

Wechsel zwischen zwei, nicht mehr Geschlechtern

Beim proterandrischen Geschlechterwechsel durchläuft ein Individuum eine klare, gerichtete Transition: vom männlichen zum weiblichen Fortpflanzungsstatus. Dabei verändern sich nicht nur hormonelle Zustände und Geschlechtsdrüsen (Gonaden), sondern auch Verhalten und soziale Stellung. 
 
Wichtig: Es existieren weiterhin nur zwei biologische Geschlechter (Männchen und Weibchen) und jedes Individuum nimmt zeitlich nacheinander genau eine dieser beiden Rollen ein.

Der Geschlechtswechsel erfolgt somit innerhalb einer binären Matrix, es entsteht kein "drittes" oder "weiteres" Geschlecht, das System bestätigt die Zweigeschlechtlichkeit auf funktioneller Ebene, erweitert lediglich deren dynamische Flexibilität.

Evolutionäre Optimierung

Bei Clownfischen lebt eine Gruppe meist in einer Anemone, bestehend aus einem dominanten Weibchen, einem aktiven Männchen und mehreren nicht-fortpflanzenden juvenilen Männchen. Stirbt das Weibchen, steigt das ranghöchste Männchen auf und übernimmt die weibliche Rolle, während ein juveniles Männchen in die aktive Männchenposition nachrückt. Diese durch hormonelle Gradienten aufgrund des Sozialgefüges ausgelöste Strategie minimiert die Zeit, die ohne fortpflanzungsfähiges Weibchen vergeht und ist ein evolutionär optimierter Fortpflanzungsmechanismus [7].
 
Der Grund, warum solche Geschlechtswechsel bei Fischen biologisch möglich sind, liegt unter anderem in ihrer Fortpflanzungsweise: Fische befruchten ihre Eier in der Regel äußerlich, das heißt außerhalb des Körpers. Dadurch müssen keine komplexen anatomischen Strukturen wie Gebärmutter, Plazenta oder äußere Genitalien umgebaut werden. Der Wechsel betrifft primär gonadale Strukturen. Bei Säugetieren hingegen, die sich durch innere Befruchtung und eine hochspezialisierte Fortpflanzungsphysiologie auszeichnen, wäre ein Geschlechtswechsel deutlich komplexer. Die Umstrukturierung von Fortpflanzungsorganen, sekundären Geschlechtsmerkmalen und hormonellen Steuerungen wäre biologisch extrem aufwendig und in der Regel nicht vereinbar mit der Fortpflanzungsstrategie der Art. Deshalb kommt ein natürlicher Geschlechterwechsel bei Säugetieren nicht vor.

Dynamik ≠ Auflösung der Zweigeschlechtlichkeit

Clownfische und andere konsekutive Zwitter zeigen eindrucksvoll, dass Geschlecht im Tierreich plastisch reguliert werden kann, z. B. durch soziale Reize oder Umweltbedingungen. Doch der Geschlechtswechsel bewegt sich stets zwischen zwei funktionalen Endpunkten. Biologische Geschlechterflexibilität ist daher kein Beleg für eine Auflösung der Binarität, sondern im Gegenteil ein Beweis für die funktionale Notwendigkeit und Komplementarität zweier Geschlechter im Reproduktionssystem.
 

5. "Männliche Löwen kuscheln und reiben sich aneinander"

In der Tierverhaltensforschung wurde tatsächlich beobachtet, dass männliche Löwen insbesondere innerhalb von sogenannten Koalitionen Körperkontakt suchen, sich aneinander reiben und gelegentlich aufspringen, ein Verhalten, das dem Geschlechtsakt ähnelt [8]. Solche Verhaltensweisen wurden sowohl in Gefangenschaft als auch in freier Wildbahn dokumentiert.
 
Diese gleichgeschlechtlichen Verhaltensweisen treten vor allem in Männchen-Koalitionen auf, also Gruppen von Brüdern oder "befreundeten" Löwenmännchen, die sich zusammentun, um ein Rudel zu übernehmen. In diesem Kontext haben die beobachteten Verhaltensweisen vermutlich mehrere Funktionen: 
  • Soziale Bindung und Koordination innerhalb der Koalition
  • Hierarchieetablierung, also Dominanzverhalten ohne tödliche Kämpfe
  • Stressreduktion in enger Rudelhaltung
Dieses Verhalten stellt jedoch keine dauerhafte erotische Präferenz im menschlichen Sinne, ein Paarungssystem zur Fortpflanzung oder Ausdruck einer Identität dar. Auch wenn erotische Elemente beobachtet werden, handelt es sich in der Regel um situatives Verhalten innerhalb sozialer Dynamiken – vergleichbar mit Rangkämpfen, Imponierverhalten oder Spielhandlungen.

Zirkelschluss: Was bedeutet das für den Menschen?

Wer aus solchen Beobachtungen ableitet, dass menschliche Homoerotik "natürlich" sei, begeht einen klassischen naturalistischen Fehlschluss: Aus dem "Sein" in der Natur wird auf ein "Sollen" in der Gesellschaft geschlossen. Ebenso ließe sich dann argumentieren, dass Kindstötung beim Menschen "natürlich" sei, denn männliche Löwen töten häufig die Jungen eines Rudels, wenn sie die Kontrolle übernehmen, um ihre eigenen Gene durchzusetzen. Diese biologische Realität hat jedoch keinen ethischen oder normativen Wert für den Menschen – ebenso wenig wie gleichgeschlechtliche Verhaltensweisen.

6. Laysan-Albatrosse: "Auf Hawaii ziehen Weibchen-Paare gemeinsam Küken groß"

Diese Beobachtung stammt aus einer vielbeachteten Studie an einer Kolonie von Laysan-Albatrossen (Phoebastria immutabilis) auf Oʻahu, Hawaii [9]. Dort wurde festgestellt, dass in bestimmten Jahren bis zu 31 % der Brutpaare aus zwei Weibchen bestanden, die gemeinsam ein Jungtier aufzogen (female-female pairing).

Eine pragmatische Lösung des Fortpflanzungsproblems

Der entscheidende Kontext: In dieser Population herrschte ein starker Männchenmangel (Verhältnis ca. 59 % Weibchen zu 41 % Männchen). Da Albatrosse sehr langlebig sind und langfristige Paarbindungen eingehen, fanden viele Weibchen keinen männlichen Partner.

Statt gar keine Nachkommen zu haben, gingen einige Weibchen eine kooperative Partnerschaft mit einem anderen Weibchen ein, wobei zumindest eine zuvor durch ein Männchen außerhalb der Paarbindung befruchtet wurde (extra-pair copulation). Das gemeinsam aufgezogene Küken stammte also trotz gleichgeschlechtlicher Brutpflege aus einer heterosexuellen Befruchtung.
 
Derartige Weibchenpaare hatten eine geringere Reproduktionsrate als gemischtgeschlechtliche Paare, aber mehr Fortpflanzungserfolg als Weibchen, die keine Jungen aufzogen.

Keine homoerotische Orientierung, sondern soziale Kooperation

Auch wenn manche Kommentatoren solche Weibchenpaare als "lesbisch" oder "homosexuell" etikettieren, ist dies biologisch und ethologisch nicht haltbar. Es handelt sich nicht um sexuelle Partnerschaften, sondern um strategische Kooperation zur Brutpflege, ausgelöst durch demografische Engpässe in der Partnerverfügbarkeit. Solche Formen der alloparentalen Brutpflege (Kooperation außerhalb klassischer Paarbindung) sind in der Tierwelt nicht selten und entstehen meist aus Notwendigkeit, nicht aus erotischer Präferenz.
 
Eine vergleichbare Dynamik findet sich auch in der menschlichen Geschichte – etwa nach dem Zweiten Weltkrieg: In vielen Regionen Europas bildeten sich Frauengemeinschaften, in denen Mütter, Großmütter, Tanten, Nachbarinnen oder Freundinnen in Abwesenheit der Männer (durch Krieg, Gefangenschaft oder Tod) gemeinsam für Kinder sorgten, Haushalte organisierten und familiäre Strukturen aufrechterhielten. Diese Gemeinschaften basierten auf sozialer Notwendigkeit und Solidarität, nicht auf sexueller Partnerschaft oder homoerotisch-lesbischer Orientierung.

Die Situation bei den Albatrossen ähnelt somit eher solchen überlebensorientierten Kooperationsmodellen als einem Hinweis auf "Queerness" in der Tierwelt.
 

7. "Pilze haben tausende Geschlechter. Binarität ist eine Illusion"

In der öffentlichen Debatte wird häufig das Fortpflanzungssystem bestimmter Pilze wie etwa von Ständerpilzen (Basidiomycota) angeführt, um die biologische Binarität von Geschlechtern infrage zu stellen. Die Aussage: "Einige Pilzarten haben tausende von Geschlechtern" wirkt auf den ersten Blick spektakulär, ist aber ein Kategorienfehler, der grundlegende biologische Begriffe vermischt.

Kreuzungstypen sind keine Geschlechter

Was Pilze tatsächlich besitzen, sind keine "Geschlechter" im engeren Sinne, sondern eine hohe Anzahl an mating types (Kreuzungstypen), genauer gesagt Paarungskompatibilitätstypen. Beim weit verbreiteten Hutpilz Schizophyllum commune gibt es beispielsweise über 28.000 verschiedene Kreuzungstypen [10]. Diese entstehen durch zwei unabhängig vererbte genetische Loci, an denen jeweils viele Allele existieren. Zwei Pilze können sich nur dann sexuell vereinen, wenn sich beide Loci unterscheiden.
 
Diese Kreuzungstypen sind keine Geschlechter im Sinn der Fortpflanzungsbiologie. Es gibt keine Unterscheidung in Gametengröße oder Fortpflanzungsrolle, wie sie für die Definition von Geschlechtern ausschlaggebend ist. Pilzen bringen entweder morphologisch identische Gameten hervor (Isogamie) oder es erfolgt gar keine Gametogenese im klassischen Sinn, sondern die Fortpflanzung erfolgt über hyphenbasierte Zellfusionen, bei denen ebenfalls keine morphologische Unterscheidung in Makro- und Mikrogameten (und somit in Geschlechter) vorliegt.
 
Mit anderen Worten: Pilze zeigen keine biologischen Geschlechter, sondern ein komplexes Kompatibilitätssystem, das nicht auf die menschliche oder tierische Sexualbiologie übertragbar ist.

Kein Argument gegen Binarität

Das Fortpflanzungssystem mancher Pilze ist hochkomplex, ja – aber es hat nichts mit Geschlecht im tierischen oder menschlichen Sinne zu tun. Es existieren keine zwei (oder mehrere) funktionale Geschlechter, sondern zig genetische Kombinationsmöglichkeiten zur Paarungskompatibilität. Pilze sind in diesem Aspekt eine völlig andere biologische Domäne. Ihre "mating types" sind mit Geschlechtern so wenig vergleichbar wie Blutgruppen mit Persönlichkeitsmerkmalen. Nicht umsonst sind Pilze in der Biologie so seltsam, dass sie neben Tieren und Pflanzen ein eigenes Reich begründen. Wer das Pilzsystem als Beleg gegen die biologische Binarität beim Menschen heranzieht, begeht einen Kategorienfehler.
 

8. Delfine: "Tümmler-Männchen haben Sex"

Es stimmt: In vielen Populationen bilden männliche Große Tümmler (Tursiops truncatus) enge, langanhaltende Sozialbündnisse, sogenannte Allianzen, oft aus zwei bis drei Individuen [11]. Diese Allianzen verfolgen gemeinsam Ziele wie Zugang zu Weibchen, Verteidigung gegen rivalisierende Männchen und soziale Stabilität innerhalb der Gruppe. In diesem sozialen Kontext wurden auch erotisch konnotierte Verhaltensweisen zwischen Männchen dokumentiert (z. B. das gegenseitige Reiben an den Genitalien, Peniskontakt oder das Aneinanderreiben des Bauches).

Was ist "Sex" aus biologischer Sicht?

Im biologischen Sinne meint "Sex" bzw. konkret "sexuelle Reproduktion" die Verschmelzung zweier Gameten (Spermium + Eizelle) zur Bildung einer Zygote. Die beobachteten Handlungen zwischen männlichen Delfinen sind keine sexuelle Reproduktion, sondern fallen unter erotisch konnotiertes Spielverhalten. Ähnlich wie bei Bonobos dient dieses Verhalten vermutlich der sozialen Bindung, Stressreduktion und Koalitionsbildung.

Erotisches Verhalten ≠ sexuelle Orientierung

Die Verhaltensweisen männlicher Tümmler sind ein Beispiel für die Vielgestaltigkeit sozialer Interaktion bei intelligenten Tieren. Es handelt sich jedoch nicht um Sex im biologischen Sinn (keine Gametenkopulation), es ist nicht exklusiv "homosexuell" (Paarung mit Weibchen findet statt) und ist deshalb nicht mit menschlicher Homoerotik gleichzusetzen.
 

9. "Kinder-Vergewaltigung" durch Orang-Utans

In der letzten Kachel ihrer Bilderstrecke fragen die Grünen nach weiteren Beispielen. Ein solches wollen wir an dieser Stelle gerne liefern, um den naturalistischen Fehlschluss ihrer Argumentation aufzuzeigen:
 
 
In der Primatenforschung wird immer wieder das aggressive und sexualisierte Verhalten von männlichen Orang-Utans gegenüber weiblichen Jungtieren dokumentiert. So beschreiben Muller und Wrangham (2009) in ihrem umfassenden Werk "Sexual Coercion in Primates and Humans" (sowie speziell C. D. Knott im genannten Sammelband) Fälle, in denen geschlechtsreife Männchen in freier Wildbahn gezielt erzwungene Kopulationen mit noch nicht voll entwickelten Weibchen vollziehen [12].

Dieses Verhalten ist in der Natur keine Seltenheit. Es dient der maximalen Fortpflanzungserfolgssicherung für dominante Männchen, geht jedoch einher mit physischem und psychischem Stress für die Weibchen und steht exemplarisch für eine Seite der Evolution, die nicht als moralisches Vorbild dienen kann.

Warum dieses Beispiel wichtig für die Diskussion ist

Viele Menschen neigen dazu, aus natürlichen Verhaltensweisen der Tierwelt eine normative Legitimation abzuleiten: "Wenn schwule Pinguine und lesbische Albertrosse Jungtiere aufziehen, dann legitimiert dies das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Menschenpaare." Genauso ließe sich argumentieren: "Wenn Orang-Utan-Männchen so handeln, dann sind aggressive erotische Handlungen an Kindern natürlich und somit für Menschen akzeptabel." Dies wäre ein klassischer naturalistischer Fehlschluss. Das Beschreiben, wie etwas in der Natur ist, erlaubt keineswegs die Schlussfolgerung, dass es auch so sein sollte. Die Natur ist kein moralischer Maßstab.

Die Tatsache, dass sexuelle Nötigung bei Orang-Utans vorkommt, kann also nicht als Rechtfertigung für menschliches Fehlverhalten dienen. Das Übertragen tierischer Verhaltensweisen auf menschliche Gesellschaften als "natürliche Norm" ignoriert die vielschichtigen sozialen, kulturellen, kognitiven und ethischen Dimensionen menschlichen Zusammenlebens.
 

Fazit

Die Vielzahl an Beispielen aus der Tierwelt zeigt eindrücklich, wie komplex und vielfältig biologisches Fortpflanzungs- und Sozialverhalten sein kann [13]. Wichtig ist jedoch die klare Einordnung des Menschen als anisogamen Gonochoristen, der sich nur mittels Heterosex fortpflanzen kann und (abgesehen von domestizierten Schafen) offenbar als einzige Spezies eine dauerhafte homoerotische Veranlagung ausbilden kann. Der Mensch ist weder ein Konsekutivzwitter, noch ein Simultanzwitter, noch ein Organismus mit komplexen Kreuzungstypen. Diese biologische Grundlage muss bei jeder Diskussion über Geschlecht, Sexualität, Erotik und deren Übertragbarkeit auf gesellschaftliche Konzepte berücksichtigt werden.
 
Natürliche Verhaltensweisen direkt als normative Vorgaben für den Menschen zu interpretieren, ist ein naturalistischer Fehlschluss, indem vom "Ist" auf das "Soll" geschlossen wird. Solche Übertragungen sind in beide Richtungen (zustimmend bzw. ablehnend gegenüber Abweichungen von der Heteronormalität) möglich, verkennen jedoch, dass der Mensch als soziales und kulturelles Wesen über eine einzigartige Fähigkeit zur Reflexion, Moralbildung und ethischen Gestaltung seiner Lebenswelt verfügt. Was in der Tier- und Pilzwelt evolutionär funktional ist, muss für menschliches Zusammenleben weder "richtig" bzw. wünschenswert noch "falsch" bzw. unerwünscht sein. Biologische Beobachtungen dürfen daher nie als normative Legitimierung für soziale oder politische Positionen missbraucht werden. Vielmehr sollten sie als informationsreiche Perspektiven dienen, die im Zusammenspiel mit Ethik, Kultur und Gesellschaft differenziert bewertet werden.
 

Quellen

[1] Levick, G. M. (1915). Natural History of the Adelie Penguin. British Antarctic Expedition.
 
[2] Dagg, Anne. (2008). Homosexual behaviour and female-male mounting in mammals - A first survey. Mammal Review. 14. 155 - 185. 10.1111/j.1365-2907.1984.tb00344.x
 
[3] Janet L. Leonard, Sexual selection: lessons from hermaphrodite mating systems, Integrative and Comparative Biology, Volume 46, Issue 4, August 2006, Pages 349–367, https://doi.org/10.1093/icb/icj041
 
[4] Koene, J.M., Schulenburg, H. Shooting darts: co-evolution and counter-adaptation in hermaphroditic snails. BMC Evol Biol 5, 25 (2005). https://doi.org/10.1186/1471-2148-5-25
 
[5] Charles E. Roselli, Fred Stormshak, The neurobiology of sexual partner preferences in rams, Hormones and Behavior, Volume 55, Issue 5, 2009, Pages 611-620, ISSN 0018-506X, https://doi.org/10.1016/j.yhbeh.2009.03.013.
 
[6] Philip L. Munday, Peter M. Buston, Robert R Warner, Diversity and flexibility of sex-change strategies in animals, Trends in Ecology & Evolution, Volume 21, Issue 2, 2006, Pages 89-95, ISSN 0169-5347, https://doi.org/10.1016/j.tree.2005.10.020.
 
[7] John Godwin, Social determination of sex in reef fishes, Seminars in Cell & Developmental Biology, Volume 20, Issue 3, 2009, Pages 264-270, ISSN 1084-9521, https://doi.org/10.1016/j.semcdb.2008.12.003.
 
[8] Schaller, G. B. (1972). The Serengeti Lion: A Study of Predator-Prey Relations.
 
[9] Young Lindsay C, Zaun Brenda J and VanderWerf Eric A 2008Successful same-sex pairing in Laysan albatrossBiol. Lett.4323–325. https://doi.org/10.1098/rsbl.2008.0191
 
[10] Erika Kothe, Mating Types and Pheromone Recognition in the Homobasidiomycete Schizophyllum commune, Fungal Genetics and Biology, Volume 27, Issues 2–3, 1999, Pages 146-152, ISSN 1087-1845, https://doi.org/10.1006/fgbi.1999.1129.
 
[11]  Richard C. Connor, Michael Krützen, Male dolphin alliances in Shark Bay: changing perspectives in a 30-year study, Animal Behaviour, Volume 103, 2015, Pages 223-235, ISSN 0003-3472, https://doi.org/10.1016/j.anbehav.2015.02.019.

[12] Muller, M. N., & Wrangham, R. W. (2009). Sexual coercion in primates and humans: An evolutionary perspective on male aggression against females. Harvard University Press.

[13] Nathan W. Bailey, Marlene Zuk, Same-sex sexual behavior and evolution, Trends in Ecology & Evolution, Volume 24, Issue 8, 2009, Pages 439-446, ISSN 0169-5347, https://doi.org/10.1016/j.tree.2009.03.014.

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