Ameisen faszinieren Biologen seit Jahrhunderten. Bereits für Charles Darwin war die Existenz von Arbeiterinnen, die ihr Leben lang schuften, aber niemals eigene Nachkommen zeugen, besonders rätselhaft. Wie konnte eine solche Form der Sterilität durch die Evolution entstehen, die sich doch eigentlich durch die Weitergabe der eigenen Gene auszeichnet? Eine neue großangelegte Genomstudie mit 163 Ameisenarten liefert nun tiefere Einblicke in dieses Paradoxon und zeigt, wie Sexualbiologie und Arbeitsteilung in den Ameisenstaaten untrennbar miteinander verknüpft sind [1].
Der Ameisenstaat als Superorganismus
Ameisenkolonien entstanden vor rund 150 Millionen Jahren. Von Anfang an lebten sie in enger Verwandtschaftsgemeinschaft. Eine Königin gründete den Staat, indem sie sich einmalig paarte und ein Leben lang Söhne und Töchter produzierte. Diese Töchter, die Arbeiterinnen, verzichteten meist vollständig auf eigene Fortpflanzung und widmeten ihr Leben dem Aufbau der Kolonie. Evolutionsbiologisch lässt sich dies mit dem Konzept des Superorganismus erklären: Die Königin übernimmt die Rolle der Keimbahn, die Arbeiterinnen die Rolle des Körpers. So wie in einem Tier Körperzellen keine eigenen Nachkommen hervorbringen, erfüllen die Arbeiterinnen ihre Funktion nur im Dienste des Ganzen.
Der Verlust der Fruchtbarkeit als wiederkehrendes Muster
Die neue Studie von Vizueta et al. (2025) zeigt, dass die Sterilität der Arbeiterinnen nicht nur einmal, sondern mehrfach unabhängig im Laufe der Evolution der Ameisen entstanden ist. Besonders in der artenreichen Unterfamilie der Knotenameisen (Myrmicinae) haben Arbeiterinnen häufig ihre Eierstöcke stark reduziert oder ganz verloren. In vielen anderen Linien sind die Samentaschen der Arbeiterinnen nicht mehr funktionsfähig, sodass sie sich ohnehin nicht mehr verpaaren könnten. Manche Arbeiterinnen besitzen zwar noch rudimentäre Eierstöcke und können unbefruchtete Eier legen, die zu Männchen werden, doch die Tendenz geht klar in Richtung vollständiger Sterilität.
Im Erbgut spiegelt sich dieser Wandel deutlich wider. Gene, die bei anderen Insekten für die Bildung von Eiern oder die Entwicklung der Ovarien wichtig sind, unterliegen bei Ameisen-Arbeiterinnen kaum noch einem Selektionsdruck. Die Studie beschreibt dies als "entspannte Selektion". Wenn eine Funktion nicht mehr gebraucht wird, verlieren die entsprechenden Gene allmählich an evolutionärer Bedeutung. Ein Beispiel ist das Gen otu, das bei Fruchtfliegen die Eibildung steuert. Bei Ameisen wird es in Königinnen weiterhin stark aktiviert, während es in Arbeiterinnen nur schwach oder gar nicht mehr zum Einsatz kommt. So entsteht ein genetisches Gefälle zwischen reproduktiven und nicht-reproduktiven Kasten.
Der Übergang zur Sterilität ist jedoch nicht nur eine Frage verlorener Gene, sondern auch eine Frage hormoneller Steuerung. Juvenilhormon, Insulin-Signalwege und die MAPK-Signalkaskade (MAPK = mitogen-activated protein kinase) spielen eine entscheidende Rolle bei der Frage, ob eine Larve zur Königin oder zur Arbeiterin wird. Kleine Unterschiede in der Ernährung oder in hormonellen Impulsen können bestimmen, ob ein Tier später Eier legen kann oder nicht. Hier zeigt sich, wie Sexualbiologie und soziale Organisation zusammenwirken. Der Fortpflanzungsstatus einer Ameise ist keine individuelle Eigenschaft, sondern wird im Interesse des gesamten Staates festgelegt.
Evolution durch Verwandtschaft
Warum aber sollte eine Ameisenlarve ihr eigenes Fortpflanzungspotenzial aufgeben? Die Antwort liegt in der Verwandtenselektion. Arbeiterinnen sind eng mit den anderen Mitgliedern ihres Staates verwandt – oft enger, als sie es mit eigenen Nachkommen wären. Indem sie ihre Schwestern und Brüder großziehen, verbreiten sie ihre Gene indirekt genauso effektiv, manchmal sogar effizienter, als wenn sie selbst Nachwuchs hätten. Der Verzicht auf eigene Sexualität ist also kein Nachteil, sondern eine raffinierte Strategie, um im Rahmen des Superorganismus das eigene Erbgut weiterzugeben.
Die scheinbare Paradoxie der sterilen Ameisenarbeiterinnen löst sich damit auf. Ihr Verlust der Fruchtbarkeit ist keine Laune der Natur, sondern eine tiefgreifende Anpassung, die es Ameisen ermöglicht hat, eine der erfolgreichsten Tiergruppen der Erde zu werden. Die neue Genomstudie zeigt, wie eng genetische Veränderungen, hormonelle Signalwege und die Logik der Verwandtschaft in diesem Prozess zusammenwirken. Für die Sexualbiologie ist das ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Fortpflanzung nicht immer auf individuelle Gene übertragen werden muss – manchmal reicht es, Teil eines größeren Ganzen zu sein.
Quellen
[1] Joel Vizueta et al., Adaptive radiation and social evolution of the ants, Cell, Volume 188, Issue 18, 2025, Pages 4828-4848.e25, ISSN 0092-8674, https://doi.org/10.1016/j.cell.2025.05.030.

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