Eine im Fachjournal Science Advances veröffentlichte Studie mit dem Titel "Is sex at birth a biological coin toss?" wirft Zweifel daran auf, ob die Verteilung von männlich und weiblich bei Geburten tatsächlich dem sprichwörtlichen 50:50-Münzwurf entspricht [1].
Doch was genau wurde untersucht und wie belastbar sind die Ergebnisse?
Der Kern der Studie
Die Forscher werteten über 146.000 Schwangerschaften von rund 58.000 US-amerikanischen Krankenschwestern im Zeitraum von rund 60 Jahren (1956–2015) aus. Auffällig war dabei, dass in vielen Familien überdurchschnittlich häufig Kinder desselben Geschlechts zur Welt kamen. Dieses Muster wich deutlich von dem ab, was man bei einem reinen Zufallsprozess (wie einem Münzwurf) erwarten würde.
Das Forschungsteam entwickelte daraufhin ein sogenanntes "weighted coin"-Modell: Eine "gewichtete Münze", bei der einige Eltern offenbar eine systematische Tendenz für ein bestimmtes Geschlecht zeigen (58 % Wahrscheinlichkeit für ein weiteres Mädchen nach drei Töchtern bzw. 61 % für einen vierten Jungen nach drei Jungen).
Was könnte dahinterstecken?
Die Studie nennt zwei potenzielle Einflussfaktoren:
Das Alter der Mutter beim ersten Kind: Frauen, die mit über 28 Jahren erstmals gebären, bekommen häufiger Kinder desselben Geschlechts – eine mögliche Folge hormoneller Veränderungen oder altersbedingter physiologischer Prozesse.
Genetische Veranlagung: In einer genomweiten Assoziationsanalyse (GWAS) wurden zwei Genorte identifiziert, die mit einer einseitigen Geschlechtsverteilung assoziiert sein könnten.
So spannend die Hypothese einer "gewichteten Münze" auch klingen mag, die Schlussfolgerungen sind mit Vorsicht zu genießen. Denn obwohl das Geschlecht eines Kindes maßgeblich vom Gonosom (Geschlechtschromosom) des Vaters abhängt (X oder Y), wurden väterliche Informationen in der Studie gar nicht erfasst. Das ist eine erhebliche Lücke, gerade bei genetisch bedingten Effekten.
Die Assoziationen im GWAS sind zwar statistisch interessant, aber weit entfernt von einem Beweis. Ohne funktionelle Studien bleibt unklar, ob die gefundenen Gene tatsächlich eine Rolle spielen oder nur zufällig mitspielen.
Die Kohorte bestand außerdem ausschließlich aus US-amerikanischen Krankenschwestern. Das ist weder sozial noch ethnisch repräsentativ. In großen Stichproben finden sich darüber hinaus fast immer "auffällige" Muster. Ob diese wirklich biologisch bedeutsam sind oder nur ein Artefakt der Datenmenge darstellen, bleibt offen. Die Vorstellung, dass biologische Prozesse wie die Geschlechtsverteilung bei der Geburt mehr als bloß Zufall sind, ist verführerisch. Doch zwischen auffälligen Datenmustern und soliden biologischen Erklärungen liegt ein weiter Weg.
Obwohl die Studie nahelegt, dass es auf individueller oder familiärer Ebene eine Tendenz zu mehr Kindern eines bestimmten Geschlechts geben kann, bedeutet das nicht, dass sich dieses Muster auf die gesamte Bevölkerung überträgt. In einer großen, zufällig durchmischten Population gleichen sich solche individuellen Verschiebungen in der Regel aus: Familien mit einem "Mädchenüberschuss" werden statistisch durch Familien mit einem "Jungenüberschuss" ausgeglichen. So bleibt das durchschnittliche Verhältnis von Geburten weltweit weiterhin erstaunlich stabil bei ungefähr 50:50.
Fazit
Die Studie liefert interessante Hypothesen. Sie wirft wichtige Fragen auf, kann sie jedoch bislang nicht überzeugend beantworten. Die Rolle des väterlichen Beitrags bleibt völlig offen und auch die gefundenen genetischen Hinweise sind vorerst spekulativ. Wer Sexualbiologie ernst nimmt, sollte in dieser Studie keine Revolution, sondern einen spannenden, aber unvollständigen Mosaikstein sehen. Dass der Geburtssexus nicht immer rein zufällig verteilt ist, könnte stimmen, aber wir wissen noch längst nicht, warum.
Quellen
[1] Siwen Wang et al., Is sex at birth a biological coin toss? Insights from a longitudinal and GWAS analysis. Sci. Adv. 11, eadu7402 (2025). DOI: 10.1126/sciadv.adu7402

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