Samstag, 26. Juli 2025

Apotheken Umschau postuliert Geschlechterspektrum

Vor kurzem ist in der Apotheken Umschau ein ausführlicher Beitrag mit dem Titel "Mehr als Frau und Mann? Warum die Biologie vom Geschlecht als Spektrum spricht" erschienen. Der Artikel möchte zeigen, dass die klassische Zweigeschlechtlichkeit nur ein grobes Raster sei und die biologische Realität viel bunter und vielfältiger aussehe. Das klingt auf den ersten Blick modern und inklusiv. Wer sich jedoch mit Evolutionsbiologie im Allgemeinen und Entwicklungs- bzw. Sexualbiologie im Speziellen ein wenig auskennt, wird beim Lesen schnell merken: Der Artikel beginnt zwar mit einem absolut korrekten Grundsatz, entfernt sich dann aber Schritt für Schritt von dem, was die Biologie tatsächlich über „Geschlecht" aussagt.

Der einzige biologische Geschlechtsbegriff: Anisogamie

Gleich zu Beginn zitiert der Artikel die Biologin Nadine Hornig mit einem Satz, der eigentlich nicht besser formuliert werden könnte:

„In der Biologie definiert man das Geschlecht häufig über die Geschlechtszellen, also die Eizellen und Spermien. Menschen mit Eizellen sind demnach als Frauen definiert, Menschen mit Spermien als Männer“, sagt die Biologin Nadine Hornig, Leiterin der Forschungsgruppe für Geschlechtsentwicklung am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.

Genau das ist die Kern-Definition, auf die sich die gesamte Evolutionsbiologie seit über hundert Jahren einigt – und sie ist bemerkenswert robust [1][2]. Sie beruht auf der Anisogamie. Bei praktisch allen Lebewesen, die sich sexuell fortpflanzen (also von Algen über Insekten bis zum Menschen), gibt es genau zwei Typen von Gameten: nährstoffreiche, meist unbewegliche Makrogameten in Form von Eizellen und kleine, nährstoffarme Mikrogameten in Form von Spermazellen – bei Tieren als bewegliche Spermien (Spermatozoen) ausgebildet. Dazwischen gibt es nichts. Keine dritte Gametenart, kein Kontinuum, kein Spektrum. Wer sagt, "die Biologie" kenne nur zwei Geschlechter, sagt deshalb nichts Ideologisches – er wiederholt lediglich die einzige objektive, operationalisierbare und universell gültige Definition von Geschlecht, die wir haben. Alles andere – Chromosomen, Hormone, äußere oder innere Genitalien, Gehirnstrukturen oder subjektive Identität – sind sekundäre Merkmale, die sich evolutionär entwickelt haben, um die Produktion genau dieser einen oder anderen Gametenart zu ermöglichen oder zu unterstützen.

Dass die Apotheken Umschau diesen Punkt im Ansatz korrekt darstellt, ist deshalb ausdrücklich lobenswert. Leider wird genau diese klare Definition im weiteren Verlauf des Artikels wieder verwässert. Zunächst bleibt festzuhalten: Solange es nur zwei Gametentypen gibt, gibt es aus rein biologischer Sicht genau zwei Geschlechter. Punkt.
 
Mehr zum Thema: Was sind Geschlechter?

Wenn aus einer klaren Definition plötzlich ein "Spektrum" wird

Kaum hat der Artikel die einzig korrekte biologische Definition von Geschlecht genannt, wird sie sofort wieder relativiert. Die Biologin zitierend heißt es:

„Das ist aber eine starke Vereinfachung. Letztendlich ist die Geschlechtsentwicklung genetisch, hormonell und durch Umweltfaktoren beeinflusst“, so Hornig. Dadurch komme es eher zu einem individuellen Geschlecht, das von Person zu Person anders ausgeprägt sein kann. 

Das ist ein klassischer Ebenenwechsel, der in solchen populären Texten immer wieder vorkommt. Ja, die Geschlechtsentwicklung beim Menschen (und bei vielen anderen Arten) ist komplex und kann durch genetische Varianten, Hormonstörungen oder Umwelteinflüsse gestört werden. Das betrifft aber nicht die Kategorie "Geschlecht" selbst, sondern nur die sekundäre Geschlechtsausprägung eines individuellen Organismus. Geschlecht als biologische Kategorie ist keine artspezifische Eigenschaft des Menschen – sie gilt für alle anisogamen, gonochoristischen Arten (also praktisch das gesamte Tierreich und viele Pflanzen). Man kann sie deshalb nicht über die konkrete Ausprägung von Hormonrezeptoren, Genitalmorphologie oder sekundären Geschlechtsmerkmalen beim Homo sapiens definieren. Das wäre, als würde man die Kategorie "Säugetier" über die Frage definieren, ob ein Tier vier oder fünf Zehen hat. Die grundlegende Definition bleibt: große Gameten → weiblich, kleine Gameten → männlich. Alles andere ist nachgeordnet.

Direkt im Anschluss fällt dann der Satz, der dem Artikel seinen Titel gibt:

In der Wissenschaft sprechen wir deshalb oft auch von Geschlecht als Spektrum“, sagt Hornig.

Das ist schlicht falsch. Ein echtes Spektrum würde ein Kontinuum oder zumindest mehrere Zwischenformen der Gameten erfordern. Genau das gibt es nicht. Es gibt weltweit keine dokumentierte dritte Gametenmorphologie und auch keine fließenden Übergänge zwischen Eizelle und Spermium. Selbst bei den extrem seltenen ovotestikulären Störungen der Geschlechtsentwicklung (früher "echter Hermaphroditismus" genannt), bei denen ein Individuum sowohl ovariales als auch testikuläres Gewebe besitzt, werden weiterhin nur die zwei bekannten Gametentypen gebildet – oder gar keine funktionsfähigen. Ein "drittes Geschlecht" oder eine "Zwischen-Gamete" existiert auch hier nicht. Die Kategorie bleibt binär.
 
Mehr zum Thema: Geschlecht ist nicht gleich Geschlechtsausprägung

Das Beispiel Androgenresistenz

Als Beleg für die angebliche Uneindeutigkeit wird dann die komplette Androgeninsensitivität (CAIS) angeführt:

„Menschen mit kompletter Androgenresistenz können XY-Chromosomen haben, also chromosomal männlich sein, aber äußerlich von Geburt an trotzdem dem weiblichen Bild entsprechen. […] Sie haben jedoch keine Eierstöcke, sondern innenliegende Hoden. In solchen Fällen muss man sich schon fragen, was der ausschlaggebende biologische Faktor sein soll, der das Geschlecht eindeutig zuordnet.“, so Hornig.

Die Antwort ist eigentlich einfach und wird in der Fachliteratur seit Jahrzehnten einheitlich gegeben: CAIS ist eine Störung der Geschlechtsentwicklung des männlichen Geschlechts (46,XY DSD). Die Betroffenen entwickeln Hoden (wenn auch oft unvollständig abgestiegen) und produzieren potenziell Spermien-Vorläuferzellen. Sie besitzen keinerlei ovarielles Gewebe. Der Entwicklungspfad ist von Anfang an männlich – nur die androgenabhängige Ausprägung der äußeren und einiger innerer Strukturen bleibt aus. Biologisch gesehen ist das Geschlecht deshalb eindeutig männlich. Dass diese Personen aufgrund ihres weiblichen Erscheinungsbildes zum Zeitpunkt der Geburt meist als Mädchen aufwachsen und sich auch so identifizieren, ist psychologisch und sozial verständlich – ändert aber nichts an der zugrundeliegenden biologischen Kategorie. Die primären Geschlechtsorgane (Gonaden) und das potenzielle Gametenprofil sind männlich, und zwar ausschließlich männlich. Eine "Uneindeutigkeit" gibt es hier nicht – nur eine seltene Entwicklungsstörung innerhalb einer der beiden existierenden Kategorien.

Genau hier wird der entscheidende Fehler vieler populärer Darstellungen sichtbar: Man verwechselt die Ebene der Gameten (die das Geschlecht definiert) mit der Ebene des Phänotyps (der in den allermeisten Fällen, aber eben nicht immer mit dem Geschlecht korreliert). Das ist verständlich, wenn man anthropozentrische Medizin oder Psychologie im Blick hat – aus rein biologisch-naturalistischer Sicht jedoch nicht haltbar.
 
Mehr zum Thema: Olympia: Der Fall Imane Khelif

Gravierende Falschbehauptung über "menschliche Zwitter"

Der Artikel wird an einer Stelle leider mehr als nur ungenau:

Manche Menschen haben sowohl Eierstöcke als auch Hoden, sowohl Eizellen als auch Spermien, wieder andere nichts von beidem.

Das ist so nicht korrekt – und zwar aus einem sehr einfachen Grund: Bis heute ist kein einziger Fall eines erwachsenen Menschen dokumentiert, der gleichzeitig funktionsfähige Eizellen und funktionsfähige Spermien produziert hat. Bei den extrem seltenen ovotestikulären Störungen der Geschlechtsentwicklung (Ovotesticular DSD, früher wie gesagt als "echter Hermaphroditismus" bezeichnet, jedoch kein funktionaler Hermaphroditismus im evolutionsbiologischen Sinne) findet man tatsächlich in ein und derselben Person sowohl ovariales als auch testikuläres Gewebe. Bei der lateralen Variante in der Tat getrennt auf zwei Gonaden (also ein Eierstock und ein Hoden). Das ist soweit richtig. Aber in der überwiegenden Mehrzahl dieser Fälle ist nur eines der beiden Gewebe fertil – meist das ovariale. Simultane Produktion reifer Eizellen und reifer Spermien beim selben Individuum ist beim Menschen nicht bekannt. Selbst in den wenigen publizierten Fällen, in denen beide Gewebe vorhanden waren, lagen meist schwere Keimzell-Schäden vor, sodass zumindest präoperativ keine fertilen Gameten beider Typen gebildet wurden.

Entscheidend ist aber ohnehin etwas anderes: Selbst wenn es einmal einen Menschen gäbe, der tatsächlich beide Gametenarten produzieren könnte (A + B), wäre das immer noch kein drittes Geschlecht C. Es wäre schlicht ein extrem seltener Fall von gleichzeitiger Zugehörigkeit zu beiden existierenden Geschlechtern – also eine besondere Form der Geschlechtsorganisation (simultaner Hermaphroditismus), aber keine neue Kategorie jenseits der beiden Gametentypen resp. Geschlechter.

Das völlige Fehlen funktionsfähiger Gonaden oder Keimzellen (wie etwa bei manchen Formen von Gonadendysgenesie) begründet erst recht kein zusätzliches Geschlecht. Der Entwicklungspfad ist auch dann entweder primär weiblich oder primär männlich – nur eben gestört.
 
Mehr zum Thema: Ovotestikuläre DSD: Grenzen der Schubladen

Transgeschlechtlichkeit und das "Gehirn-Geschlecht"

Der Artikel schwenkt dann auf Transgeschlechtlichkeit:

Trans-Frauen sind Personen, die sich als Frauen identifizieren, denen bei der Geburt aufgrund von äußerlichen Merkmalen aber das männliche Geschlecht zugeordnet wurde. Gehirn und der restliche Körper könnten demnach in ihrer Geschlechtlichkeit voneinander abweichen.

Auch hier wird wieder eine Ebene mit einer anderen vermischt. Selbst wenn man der derzeit populären Hypothese folgt, dass das Empfinden der eigenen Geschlechtsidentität durch eine partiell abweichende pränatale Hirnentwicklung entsteht (z. B. ein "nicht ausreichend maskulinisiertes" Gehirn bei einem ansonsten männlichen Körper), ändert das nichts an der biologischen Definition von Geschlecht. Ein "nicht ausreichend maskulinisiertes" Gehirn ist nämlich genau dasselbe Phänomen wie "nicht ausreichend maskulinisierte" Genitalien bei kompletter Androgeninsensitivität – nur auf einer anderen Organisationsebene. In beiden Fällen bleibt der Organismus biologisch männlich, weil die Gonaden (bzw. das Gonadenpotenzial) und damit der Gametentyp eindeutig männlich sind oder wären. Die Zuordnung "männlich" bei der Geburt erfolgt also nicht nur "aufgrund äußerlicher Merkmale", wie der Artikel suggeriert, sondern weil der gesamte reproduktive Entwicklungsweg – von den Gonaden bis zur Gametenproduktion – männlich ist. Subjektive Identität oder neuronale Muster mögen psychologisch und klinisch hochrelevant sein, für die biologische Kategorie "Geschlecht" sind sie jedoch irrelevant.

Kurz gesagt: Auch wenn das Gehirn in manchen Fällen eine andere "Geschlechtlichkeit" signalisiert als der Körper – die binäre Geschlechtsdefinition bleibt davon unberührt.
 
Mehr zum Thema: Das "Transgender-Gehirn"

"Geschlecht kann sich im Laufe der Zeit verändern" – wirklich?

In dem Artikel wird ein Postulat aufgestellt, das auf den ersten Blick spektakulär klingt:

„Geschlecht kann sich durchaus auch im Laufe der Zeit verändern“, sagt Prof. Dr. Olaf Hiort, Leiter des Hormonzentrums für Kinder- und Jugendliche am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein."

Der Artikel relativiert zwar sofort, dass dies "meist nicht in Bezug auf die grundlegenden Geschlechtsorgane" geschehe, sondern vor allem hormonell und bei sekundären Merkmalen – doch dann folgt trotzdem die Behauptung, die Geschlechtlichkeit ginge "dadurch auch in einen Zwischenraum".

Das ist irreführend formuliert und basiert ebenfalls auf einem Kategorienfehler. Auf der einzigen Ebene, auf der „"Geschlecht" biologisch definiert wird (falls noch nicht erwähnt: Gametenproduktion bzw. dem zugrundeliegenden reproduktiven Entwicklungspfad) gibt es keinen Zwischenraum und bei landlebenden Organismen mit innerer Befruchtung wie Säugetieren (Mammalia) und Reptilien inkl. Vögeln (Sauropsida) keine Veränderung im Lebensverlauf (sequenzieller Hermaphroditismus), weil bei ihnen das gesamte Fortpflanzungssystem, von den Gonaden bis zu den äußeren Geschlechtsmerkmalen stark ausdifferenziert ist. Eine Umstrukturierung würde massive hormonelle und anatomische Veränderungen erfordern, die biologisch extrem aufwendig und riskant wären.

Das Säugetier Mensch, dessen Gonaden sich einmal in Richtung Hoden entwickelt haben, kann daher nie funktionsfähige Eizellen produzieren, und umgekehrt. Weder Hormone, noch sog. "Pubertätsblocker" oder Operationen können diesen Entwicklungspfad nachträglich umkehren. Das primäre biologische Geschlecht (männlich oder weiblich) bleibt von der 6.–8. Schwangerschaftswoche bis zum Tod unveränderlich festgelegt. Was sich verändern kann, sind sekundäre und tertiäre Merkmale wie Brustwachstum, Stimmbruch, Fettverteilung, Muskelmasse, Behaarung usw. Das ist medizinisch hochrelevant – aber es macht aus einem Mann keine Frau und aus einer Frau keinen Mann. Ein "Zwischenraum" entsteht hier ausschließlich auf der anthropozentrischen Ebene der menschlichen Phänotyp-Ausprägung, nicht auf der universellen Ebene des Geschlechts. Diese beiden Ebenen zu vermischen ist der Kern vieler Missverständnisse.
 
Mehr zum Thema: Sex Reversal: Wenn Männchen zu Weibchen werden – und umgekehrt

Medizin braucht Präzision – keine neue Ontologie

Im weiteren Artikelverlauf wird ein wichtiges Argument der Medizin ins Feld geführt:

„Es ist ein Riesenfehler, wenn ich die Behandlung nur grob nach männlich und weiblich einteile. Ich muss genauer hinsehen“, sagt Hiort.

Hier stimmt jedes Wort – nur die Schlussfolgerung des Artikels ist falsch. Natürlich braucht die Medizin ein extrem differenziertes Verständnis von Hormonwirkungen, Rezeptorfunktionen, Metabolisierungswegen und individuellen Variationen innerhalb der beiden Geschlechter. DSD-Patienten, Menschen mit Hormonstörungen oder Geschlechtsdysphorie benötigen maßgeschneiderte Therapien. Aber genau dafür muss man das primäre "biologische" Geschlecht erst recht präzise kennen. Je genauer man die zugrundeliegende Kategorie "männlich" oder "weiblich" auf Basis des Entwicklungspfads in Richtung der Produktion einer von beiden Gameten bestimmt, desto besser kann man Abweichungen und individuelle Besonderheiten behandeln. Ein "breiteres Verständnis von Geschlecht" bedeutet also nicht, die binäre Grundkategorie aufzugeben, sondern sie als unverrückbare Basis zu nutzen, auf der man dann alle weiteren Variationen kartiert.

Die Medizin braucht keine neuen Geschlechter – sie braucht bessere Landkarten der Variationen innerhalb der beiden existierenden.

Anne Fausto-Sterling und die Erfindung neuer Geschlechter

Ein Klassiker darf natürlich nicht fehlen:

Die Biologin Anne Fausto-Sterling schlug im Jahr 1993 drei zusätzliche Geschlechter zu weiblich und männlich vor. Später ergänzte sie, dass auch das wohl noch zu stark vereinfacht sei und ein Spektrum der Realität wohl näherkomme.

Was der Artikel verschweigt: Fausto-Sterlings "Vorschlag" von 1993 ('The Five Sexes' [3]) war von Anfang an ein bewusst provokatives, feministisch-politisches Manifest, kein ernsthafter biologischer Beitrag. Sie erfand die Kategorien "herms", "merms" und "ferms" schlicht, indem sie klinische Syndrome der Geschlechtsentwicklung (DSD) zu eigenständigen "Geschlechtern" hochstilisierte – ein Kategorienfehler erster Güte. Später räumte sie selbst ein, dass der Text satirisch überzeichnet war, wurde aber trotzdem zur meistzitierten Quelle für die Behauptung, die Biologie kenne mehr als zwei Geschlechter. In Wahrheit hat sie nie einen einzigen Fall einer dritten Gametenart oder eines neuen reproduktiven Rollen-Typs beschrieben. Ihr "Spektrum" ist deshalb kein biologisches, sondern ein politisches Konstrukt.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass der Apotheken-Umschau-Artikel die naturwissenschaftlichen Gefilde endgültig verlassen hat und stattdessen in ideologische Narrative abdriftet.
 
Mehr zum Thema: Wie häufig ist "Intersexualität"?

Strohmann: Das binäre Modell schließe Menschen aus

Es folgt der unvermeidliche Appell an die Gefühle:

„Es ist wichtig, weiter daran zu forschen, weil es Menschen gibt, die durch das binäre Modell medizinisch und gesellschaftlich ausgeschlossen werden“, sagt Hornig.

Das ist ein Strohmann-Argument! Das "binäre Modell" der Biologie – also die einfache Tatsache, dass es zwei Gametentypen gibt – schließt niemanden aus. Jeder Mensch, ausnahmslos jeder, gehört diesem Modell an. Entweder sein reproduktiver Entwicklungspfad zielt auf kleine Gameten ab (männlich) oder auf große Gameten (weiblich) – oder er hat eine Störung dieses Pfades, bleibt aber trotzdem in einer der beiden Kategorien oder deckt in extrem seltenen Fällen beide ab (ovotestikuläre DSD) und bestätigen damit die Binarität. Denn "Ausnahmen" (die streng genommen gar keine sind) bestätigen die Regel. Menschen mit DSD sind daher nicht "außerhalb" der Binarität, sie sind seltene Variationen innerhalb der beiden Geschlechtskategorien. Wer behauptet, sie würden durch das binäre Modell "ausgeschlossen", hat entweder die Biologie nicht verstanden oder will sie bewusst politisch delegitimieren.

Was wir brauchen, ist nicht die Abschaffung der Binarität, sondern ihre kluge Anwendung: die volle gesellschaftliche und medizinische Anerkennung eines breiten, vielfältigen Spektrums männlicher und weiblicher Ausprägungen – bei gleichzeitiger Beibehaltung der klaren biologischen Grundkategorie.
 
Mehr zum Thema: Wenn Biologie zur Bedrohung wird

Claire Ainsworth und das erfundene Sex-Spektrum

Zum Schluss wird noch ein oft missbrauchter Nature-Artikel erwähnt:

Immer wieder wird in der Diskussion um die Zahl der Geschlechter ein Aufsatz der Wissenschaftsjournalistin und Biologin Claire Ainsworth herangezogen, der vermeintlich von mehr als zwei biologischen Geschlechtern spricht. Sie stellte später jedoch klar, dass sie von der Existenz nur zweier biologischer Geschlechter ausgehe, „mit einem Kontinuum anatomischer und physiologischer Variationen“. Das kann man auch als Spektrum zwischen den zwei Fixpunkten männlich und weiblich verstehen.

Dass die Apotheken Umschau Ainsworths eigene Klarstellung überhaupt erwähnt, ist erfreulich und selten. Dass dann sofort wieder "zwischen den zwei Fixpunkten" dazu gedichtet wird, ist jedoch irreführend. Ainsworth hat in 'Sex redifined' (2015) nie von einem Kontinuum zwischen männlich und weiblich gesprochen, sondern ausdrücklich von Variationen der beiden Geschlechter [4]. 
 
Die Hintergründe eines "bimodalen Modells" werden von Laien häufig missverstanden. Wenn man in einem Plot beispielsweise Körpergröße, Testosteronspiegel oder Klitoris-/Penislänge aufträgt, erhält man zwei überlappende Normalverteilungen für die beiden, zuvor auf Basis der Anisogamie definierten Geschlechter und kann daraus eine bimodale Verteilungen berechnen – also ein breites Spektrum männlicher und weiblicher Ausprägungen. Ein echtes Kontinuum zwischen den Geschlechtern würde aber bedeuten, dass man mit dem geschlechtsdefinierenden Merkmal (Gametenmorphologie) ebenfalls ein Kontinuum erhält. Doch hierbei gibt es genau zwei diskrete Klassen ohne jeden Übergang. Deshalb ist Geschlecht als biologische Kategorie kein Spektrum. Die "Fixpunkte" selbst sind die einzigen Punkte, die es gibt.
 
Mehr zum Thema: Warum "Geschlecht" kein Spektrum ist

Fazit

Die Biologie spricht nicht vom Spektrum – sie spricht Klartext! Der Apotheken-Umschau-Artikel beginnt mit einer mustergültigen, korrekten Definition von Geschlecht, verlässt sie dann jedoch Schritt für Schritt zugunsten modischer Formulierungen. Variationen in der Geschlechtsentwicklung sind real. Sie sind medizinisch, psychologisch und menschlich bedeutsam. Aber sie schaffen weder ein Spektrum der Geschlechter noch dritte oder zwischengeschlechtliche Kategorien. Solange es nur zwei Gametentypen gibt – und das wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern –, bleibt die biologische Antwort eindeutig: zwei Geschlechter. Alles andere ist Variation innerhalb dieser beiden Kategorien, keine Aufhebung der Kategorien selbst. Wer Inklusion und Präzision wirklich ernst nimmt, sollte deshalb nicht das binäre Fundament verwässern, sondern darauf aufbauen. Das ist die ehrlichste, menschlichste und respektvollste Position gegenüber Natur und Mensch gleichermaßen.

Quellen

[1] D. Speijer, J. Lukeš, & M. Eliáš, Sex is a ubiquitous, ancient, and inherent attribute of eukaryotic life, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 112 (29) 8827-8834, https://doi.org/10.1073/pnas.1501725112 (2015).

[2] Goymann, W., Brumm, H., & Kappeler, P. M. (2023). Biological sex is binary, even though there is a rainbow of sex roles. BioEssays, 45, e2200173. https://doi.org/10.1002/bies.202200173

[3] Fausto-Sterling, A. (1993), THE FIVE SEXES. The Sciences, 33: 20-24. https://doi.org/10.1002/j.2326-1951.1993.tb03081.x

[4] Ainsworth, C. Sex redefined. Nature 518, 288–291 (2015). https://doi.org/10.1038/518288a

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