Freitag, 3. Oktober 2025

Systemischer Sexismus in der Wissenschaft?

Die Benachteiligung von Personen aufgrund ihres Geschlechts ist kein neues Phänomen in der Wissenschaft, doch die Diskussion darüber hat in den letzten Jahren an Dringlichkeit gewonnen. Eine kürzlich in BioScience veröffentlichter Meinungsbeitrag von Olivia del Giorgio, Gabriela Fontanarrosa, Silvia Lomáscolo und María Piquer-Rodríguez (2025) beleuchtet das Thema aus der Sicht junger Forscherinnen, die am Beginn ihrer akademischen Laufbahn stehen [1]. Sie berichten von strukturellen Benachteiligungen und subtilen wie auch offensichtlichen Formen der Diskriminierung, die sich in fast allen Phasen der Karriere bemerkbar machen. Diese Erfahrungen sind nicht nur individuelle Belastungen, sondern Ausdruck systemischer Mechanismen, die den Zugang zu akademischem Erfolg erschweren.

Hürden und Folgen

Die Autorinnen beschreiben verschiedene wiederkehrende Muster, die sie und viele andere Kolleginnen in der frühen Karrierephase erleben. Dazu gehören:
  • Intellektuelle Unsicherheit: Viele Forscherinnen werden regelmäßig in Gesprächen von männlichen Kollegen bevormundet, unterbrochen oder unterschätzt. Selbst wenn dieses "Mansplaining" vermeintlich gut gemeint ist, führe es zu einem Verlust an intellektuellem Selbstvertrauen und zu dem Phänomen der "Impostorisierung" – einer systematisch erzeugten Selbstabwertung, die über das klassische Impostor-Syndrom hinausgeht.
  • Exklusion vom "Boys’ Club": Netzwerke, in denen Unterstützung, Ideen und Publikationsmöglichkeiten entstehen, sind oft männlich dominiert. Frauen werden von informellen Gesprächen oder Kooperationen ausgeschlossen, was ihre Sichtbarkeit und Karrierechancen schmälert.
  • Besondere Belastungen im Feld: Feldforschung ist für viele Disziplinen zentral. Für Wissenschaftlerinnen bedeutet sie jedoch ein erhöhtes Sicherheitsrisiko – von Belästigung bis hin zu sexualisierter Gewalt. Hinzu kommt, dass sie ihre Sicherheitsvorkehrungen häufig gegenüber männlichen Kollegen rechtfertigen müssen, was zusätzlichen Druck erzeugt.
  • Tradierte Rollen und Care-Arbeit: Trotz Fortschritten tragen Frauen in der Wissenschaft weiterhin überdurchschnittlich viel Verantwortung für Haushalt und Familie. Diese "mentale Last" führt zu ständigen Zielkonflikten zwischen Forschung und Privatleben sowie zwischen Karriereambitionen und gesellschaftlichen Rollenerwartungen.
Die Folgen dieser Hürden sind laut den Autorinnen gravierend. Statt kreativer Entfaltung erleben viele junge Akademikerinnen ständige Überlastung, Unsicherheit und das Gefühl, doppelt so viel leisten zu müssen wie ihre männlichen Kollegen. Dieses Ungleichgewicht trage zum kontinuierlichen Verlust weiblicher Fachkräfte auf dem Weg zu höheren akademischen Positionen bei.

Lösungsansätze

Die Autorinnen machen deutlich, dass individuelle Resilienz nicht ausreicht, um diese systemischen Probleme zu überwinden. Sie fordern institutionelle und kulturelle Veränderungen auf drei Ebenen:
  • Repräsentation und faire Verfahren: Frauen müssen stärker in Führungspositionen gelangen. Dazu braucht es transparente Auswahlprozesse, die frei von impliziten Bias sind. Maßnahmen wie anonymisierte Peer-Reviews, genderbalancierte Kommissionen und Quotenregelungen können helfen.
  • Strukturelle Unterstützung: Akademische Karrieren müssen so gestaltet sein, dass sie nicht automatisch Männer bevorzugen. Dazu gehören gleich lange und bezahlte Elternzeiten für beide Geschlechter, flexible Arbeitsmodelle, institutionalisierte Kinderbetreuung sowie die Anerkennung von bislang "unsichtbarer" Arbeit wie Mentoring und Servicefunktionen.
  • Kultureller Wandel: Antidiskriminierungsrichtlinien dürfen nicht nur auf dem Papier stehen. Sie brauchen klare Sanktionsmechanismen und eine konsequente Umsetzung. Ebenso wichtig ist die alltägliche Praxis: echte Verbündete im Kollegenkreis, die zuhören, unterstützen und Machtmissbrauch nicht tolerieren.


Diskussion

Die von den Autorinnen skizzierten Maßnahmen zeigen, wie groß der Wunsch nach Veränderung in der akademischen Welt ist. Allerdings bleiben ihre Vorschläge nicht frei von Problemen. Manche Forderungen – etwa Quotenregelungen – stehen in einem Spannungsverhältnis zu Grundsätzen von Leistungsgerechtigkeit und individueller Freiheit. Wer Stellen oder Fördermittel nach Geschlecht verteilt, benachteiligt zwangsläufig andere Bewerber aufgrund ihres Geschlechts, selbst wenn diese im Einzelfall besser qualifiziert sind. Vermeintlichen Sexismus mit umgekehrtem Sexismus zu bekämpfen, erscheint widersprüchlich.

Darüber hinaus ist fraglich, ob strukturelle Ungleichheiten allein auf Diskriminierung zurückzuführen sind. Etliche wissenschaftliche Studien zeigen, dass biologische und psychologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowohl in der Berufswahl als auch im individuellen Durchsetzungsvermögen eine Rolle spielen. Statistisch gesehen streben Männer aufgrund ihrer technisch/objektbezogenen Interessen häufiger nach Führungspositionen oder MINT-Karrieren, während viele Frauen aufgrund ihrer "menschenbezogenen/sozialen" Interessen stärker Wert auf Familie und soziale Sicherheit legen. Diese Präferenzen können nicht einfach durch kulturelle Interventionen "wegprogrammiert" werden. Eine faire Wissenschaftskultur sollte diese Unterschiede respektieren, anstatt sie vollständig nivellieren zu wollen.

Ein radikaler kultureller Wandel, der traditionelle Lebensentwürfe abwertet und alle Unterschiede als "konstruierte" Gesellschaftsphänomene betrachtet, birgt Risiken. Er kann Menschen bevormunden und dazu führen, dass individuelle Lebensentscheidungen weniger respektiert werden. Für eine nachhaltige Gleichberechtigung wäre es daher entscheidend, sowohl die realen Unterschiede zwischen Männern und Frauen anzuerkennen als auch sicherzustellen, dass individuelle Talente unabhängig vom Geschlecht die bestmöglichen Chancen erhalten.

Fazit

Sexismus in der Wissenschaft ist aus Sicht vieler junger Forscherinnen nach wie vor ein relevantes Thema. Ihre Erfahrungen verdeutlichen, wie sich bestimmte Strukturen und Verhaltensweisen belastend auf Karrierewege auswirken können. Zugleich muss jedoch bedacht werden, dass einige vorgeschlagene Lösungen selbst neue Ungleichheiten schaffen können und nicht unbedingt dem Ideal der Leistungsgerechtigkeit entsprechen.

Der Weg nach vorn liegt vermutlich in einer Balance: Diskriminierende Strukturen müssen abgebaut werden, zugleich sollten individuelle Leistungen und persönliche Entscheidungen unabhängig vom Geschlecht geachtet und gefördert werden. Nur so entsteht eine akademische Welt, die Vielfalt zulässt, Exzellenz belohnt und die Selbstbestimmung aller Beteiligten wahrt.

Quellen

[1] Olivia del Giorgio, Gabriela Fontanarrosa, Silvia Lomáscolo, María Piquer-Rodríguez, Systemic sexism in academia: an early-career viewpoint, BioScience, Volume 75, Issue 8, August 2025, Pages 612–614, https://doi.org/10.1093/biosci/biaf076

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