Die Vorstellung, wie sich das Geschlecht eines Menschen entwickelt, scheint auf den ersten Blick klar: Wer ein Y-Chromosom trägt, entwickelt sich typischerweise männlich. Wer zwei X-Chromosomen besitzt, entwickelt sich in aller Regel weiblich. Entscheidend ist hierbei die sogenannte "Sex determining region of Y" – kurz SRY. Wie der Name schon sagt liegt diese genetische Region normalerweise auf dem Y-Chromosom des Mannes. Doch es gibt Ausnahmen von dieser Regel. Ein von Xu et al. (2025) in der Open-Access-Fachzeitschrift ‚Genetics in Medicine Open‘ publizierter Fallbericht beschreibt eine Familie, die gleich mehrere Rätsel zugleich aufwirft und unser Verständnis von Geschlechtsentwicklung auf den Prüfstand stellt [1].
Es geht um den Fall einer 46,XX-Person mit delokalisiertem SRY-Gen – ein Befund, der normalerweise zu einer männlichen Entwicklung führen würde. Bemerkenswert ist hierbei allerdings, dass es sich bei der betroffenen Person um eine gesunde, fruchtbare Frau und Mutter handelt. Noch ungewöhnlicher: Sie hat männliche Söhne, die dasselbe genetische Muster geerbt haben.
Ein genetisches Paradox: 46,XX, aber SRY-positiv
Bei den beiden Brüdern, die im Bericht vorgestellt werden, stand zunächst ein Verdacht auf Klinefelter-Syndrom (47,XXY) im Raum. Erst weiterführende Chromosomenanalysen wie Karyogramm und FISH (Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung; ein Nachweis von Chromosomenanomalien, die nicht im Karyogramm sichtbar sind) zeigten, dass beide Jungen keine Y-Chromosomen hatten, sondern ein derivatives X-Chromosom, auf das Y-Material einschließlich des SRY-Gens übertragen worden war.
Damit hatten beide Jungen einen 46,XX-Chromosomensatz, allerdings mit einem "eingebauten" Schalter für den männlichen Entwicklungspfad. Dieses "XX-Mann"-Phänomen ist keine medizinische Neuheit, tritt aber äußerst selten auf. In der Regel führt eine SRY-positive XX-Chromosomenkombination zu einer männlichen Entwicklung mit typischerweise bestehender Unfruchtbarkeit. Genau das erwartet man bei sogenannten 46,XX testikulären DSD.
Doch dieses Mal war ein Detail anders…
Die vielleicht seltenste Person in der Geschichte der Sexualbiologie
Der wahre wissenschaftliche Paukenschlag ist die Mutter der beiden Jungen. Auch sie trägt 46,XX, SRY+, also denselben genetischen Mechanismus wie ihre Söhne – jedoch ohne männliche Entwicklung und ohne Unfruchtbarkeit. Sie ist eine der ganz wenigen dokumentierten Personen, die trotz eines intakten männlichen Schaltergens ein vollständig weibliches und fruchtbares Leben führen. Der Bericht erwähnt, dass bisher lediglich eine einzige andere Familie bekannt sei, in der gesunde Frauen mit SRY+ beschrieben wurden – allerdings dort unter völlig anderen genetischen Bedingungen [2].
Die Forscher vermuten, dass bei der Mutter das SRY-Gen funktionell ausgeschaltet sein muss, vermutlich über X-Chromosom-Inaktivierung oder andere genetische Modifikatoren. Bei ihren Söhnen dagegen ist dieses SRY aktiv – sie entwickeln sich männlich, wie man es bei SRY erwarten würde. Die große Frage lautet nun: Wie kann dasselbe SRY-Gen in derselben Familie einmal ausgeschaltet und einmal aktiv sein?
Um diese Frage zu beantworten, empfehlen die Autoren weitere Analysen, etwa X-Inaktivierungsstudien und umfassende DSD-Panel- oder Genomsequenzierungen, um mögliche regulatorische Gene aufzuspüren, die SRY beeinflussen könnten.
Bedeutung für die Sexualbiologie
Das SRY-Gen wird häufig als der zentrale "Startknopf" für die männliche Entwicklung beschrieben. Sobald SRY aktiv wird, beginnt die Hodenentwicklung; ohne SRY setzen typische weibliche Entwicklungspfade ein. Doch dieser Fall verdeutlicht, dass beim Menschen die Expression des SRY-Gens entscheidend für den männlichen Entwicklungsweg ist, nicht dessen bloßes Vorhandensein. Es reicht nicht, SRY zu besitzen – entscheidend ist, ob und wie es reguliert wird.
Die Mutter in diesem Fall zeigt eindrucksvoll, dass ein vollständig weiblicher, fruchtbarer Phänotyp möglich ist, selbst wenn SRY vorhanden ist, sofern es durch genetische, epigenetische oder strukturelle Mechanismen deaktiviert wird. Gleichzeitig zeigen die 46,XX-Söhne, dass exakt dieses SRY wieder aktiv sein kann, wenn es vererbt wird – ein Hinweis darauf, dass die Silencing-Mechanismen selbst vererbbar oder variabel sind. Damit eröffnet dieser Fall eine Reihe neuer Forschungsfelder mit bemerkenswertem Erkenntnispotenzial: Wie wird SRY in solchen Fällen ausgeschaltet? Welche Gene kontrollieren die SRY-Aktivität? Welche Rolle spielen epigenetische Vorgänge? Gibt es unbekannte regulatorische Netzwerke, die Geschlechtsentwicklung beeinflussen?
Auch für die Humanmedizin liefert der Fall neue Perspektiven. Die Jungen wurden zunächst aufgrund ihrer Entwicklungsverzögerungen und körperlichen Auffälligkeiten medizinisch betreut. Empfohlen wurden Physio- und Sprachtherapie, Wachstumsmonitoring und vor allem eine endokrinologische Betreuung mit Blick auf Wachstumshormone insbesondere Testosteron. Für die gesamte Familie wurden genetische Beratung und auch psychologische Unterstützung empfohlen, da die genetischen Befunde nicht nur medizinische, sondern auch soziale und psychologische Implikationen haben.
Fazit
Der hier vorgestellte Fall ist wie ein Fenster in die verborgene Komplexität der biologischen Geschlechtsentwicklung. Eine fruchtbare Frau mit SRY-Gen, zwei Söhne mit identischer, aber aktivierter SRY-Variante, und ein noch unbekannter Mechanismus. Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig es in der Humanmedizin ist, die mit der Geschlechtsentwicklung des Menschen zusammenhängenden Vorgänge nicht als starres System zu sehen. Fälle wie dieser zeigen eindrucksvoll, dass die natürliche Diversität innerhalb der menschlichen Zweigeschlechtlichkeit weit größer ist, als lange angenommen.
Quellen
[1] Xinxiu Xu, Rebecca Smith, Meng-Chang Hsiao, Ashwini Yenamandra, Angela Grochowsky, Dorothea Siebold, Mackenzie Mosera, Rhonda Bacman, Monica Guardado, Christine Stowe, P779: SRY positive 46,XX: A unique family with fertile female mother and male children challenging the dogma of sex determination, Genetics in Medicine Open, Volume 3, Supplement 2, 2025, 103148, ISSN 2949-7744, https://doi.org/10.1016/j.gimo.2025.103148.
[2] Politi C, Grillone K, Nocera D, Colao E, Bellisario ML, Loddo S, Catino G, Novelli A, Perrotti N, Iuliano R, et al. Non-Invasive Prenatal Test Analysis Opens a Pandora’s Box: Identification of Very Rare Cases of SRY-Positive Healthy Females, Segregating for Three Generations Thanks to Preferential Inactivation of the XqYp Translocated Chromosome. Genes. 2024; 15(1):103. https://doi.org/10.3390/genes15010103
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen