In Debatten rund um das Thema "Geschlecht" kommt es immer wieder zu Missverständnissen – nicht zuletzt deshalb, weil verschiedene Ebenen miteinander vermischt werden: biologische, soziale, entwicklungsbezogene und kulturelle. Häufig wird "Geschlecht" dabei gleichgesetzt mit seiner sichtbaren Ausprägung, mit Identität oder mit Rollenbildern. Für eine sachlich fundierte Diskussion ist es jedoch unerlässlich, präzise zu unterscheiden – vor allem zwischen der ontogenetischen Entwicklung eines Individuums und der phylogenetischen Entstehung von Geschlecht als evolutionäres Prinzip.
Die biologische Definition von Geschlecht
Bereits mehrfach erklärt (ausführlich hier), an dieser Stelle erneut wiederholt: In der Biologie ist die Einteilung in männlich und weiblich universell und eindeutig über die Art der Geschlechtszellen (Gameten) definiert:
- Männlich ist das Geschlecht, das Mikrogameten produziert – kleine, zumeist bewegliche Gameten in Form von Spermien.
- Weiblich ist das Geschlecht, das Makrogameten bereitstellt – große, nährstoffreiche, zumeist unbewegliche Gameten in Form von Eizellen.
Die ungleiche Morphologie der Gametentypen nennt man Anisogamie, das Vorhandensein von Eizellen und Spermien (wie im Falle des Menschen) ist eine spezielle Untervariante der Anisogamie namens Oogamie. Die Anisogamie ist ein zentraler Mechanismus in der Evolution der Geschlechter. Dabei ist nicht entscheidend, ob sich diese Geschlechter auf unterschiedliche Individuen (Gonochoristen) oder in einem einzigen Organismus (Hermaphroditen) wiederfinden. Die Binarität bleibt erhalten, da stets zwei Gametentypen beteiligt sind. Auch die Unfähigkeit, funktionstüchtige Gameten zu produzieren (Sterilität) – sei es aufgrund Entwicklungsstörungen, äußerer Einflüsse oder des natürlichen Entwicklungsstadiums – stellt das zugrundeliegende binäre Konzept nicht infrage. Ein steriler Organismus bleibt biologisch männlich oder weiblich, je nachdem, für welchen Gametentyp er grundsätzlich angelegt ist. Die Fortpflanzungsfähigkeit ist keine Voraussetzung für die geschlechtliche Einordnung, sondern betrifft lediglich die Funktionalität innerhalb des bestehenden Systems.
In manchen einzelligen Eukaryoten, wie bestimmten Algen oder Pilzen, findet die sexuelle Fortpflanzung nicht über unterschiedlich große Gameten, sondern über gleich große, morphologisch ähnliche Gameten statt – ein Vorgang, der als Isogamie bezeichnet wird. Auch hier sind die Gameten jedoch in unterschiedliche Paarungstypen (mating types) unterteilt, die sich molekular oder genetisch unterscheiden und nur paarweise fusionieren können. Paarungstypen sind zwar keine Geschlechter im eigentlichen Sinne, sie organisieren die Fortpflanzung aber auch in isogamen Systemen binär, obwohl keine äußerlich sichtbare Geschlechtsdifferenz vorliegt.
Das Geschlecht eines Organismus ergibt sich also nicht aus äußeren Merkmalen, sondern aus der Funktion in der Fortpflanzung. Sexuelle Reproduktion bei mehrzelligen Eukaryoten beruht nach aktuellen Stand der Forschung ausnahmslos auf der Fusion zweier Zellen unterschiedlicher Funktion. Das macht Geschlecht als solches (also das Tool der geschlechtlichen Fortpflanzung) funktional binär.
Ontogenese vs. Phylogenese
Die Ontogenese (oder Ontogenie) beschreibt die individuelle Entwicklung eines Organismus vom Embryo, über geschlechtsreife Erwachsene bis hin zum Tod. In Bezug auf das Geschlecht betrifft dies die Entstehung der primären Geschlechtsorgane, der sekundären Geschlechtsmerkmale und der physiologischen Prozesse wie beispielsweise die hormonelle Regulation.
Die Phylogenese (oder Phylogenie) hingegen bezieht sich auf die stammesgeschichtliche Entwicklung von Arten über Generationen hinweg. Im Kontext der Sexualbiologie bedeutet das: Welche Formen der Fortpflanzung und Geschlechterverhältnisse haben sich evolutionär herausgebildet und warum?
Die ontogenetische Ausprägung
Betrachten wir hier mal den Menschen als Modellorganismus: Wie sich die geschlechtliche Funktion in einem Individuum manifestiert – also welche phänotypischen Merkmale im Laufe der Entwicklung entstehen – ist Gegenstand der Ontogenese. Dabei kann es zu Variationen und Abweichungen kommen, etwa durch hormonelle Einflüsse, genetische Mutationen oder andere Entwicklungsstörungen. Die menschliche Geschlechtsentwicklung ist ein komplexes System mit vielen Stellschrauben, was jedoch nichts an der zugrundeliegenden binären Logik der Gametenproduktion und damit des Geschlechts an sich ändert.
Hier liegt ein häufiges Missverständnis: Die phänotypische Ausprägung eines Geschlechts auf ontogenetischer Ebene wird fälschlich mit dem Geschlecht selbst gleichgesetzt. Tatsächlich muss man klar unterscheiden zwischen:
- Geschlecht: eine funktionale, phylogenetisch definierte Reproduktionsrolle (Gametenproduktion)
- Geschlechtsausprägung: das individuelle, ontogenetisch entwickelte Erscheinungsbild eines Organismus in Bezug auf geschlechtsspezifische Merkmale
Erst durch diese Unterscheidung wird verständlich, warum ein männlich entwickelter Mensch mit atypischer Ausprägung (z. B. Mikropenis, Hodenhochstand) dennoch männlich bleibt, weil er (potenziell) Mikrogameten produziert bzw. die genetisch-hormonelle Architektur einzig und allein darauf ausgelegt ist.
DSD zeigen Diversität innerhalb der Binarität
Disorders of Sex Development (DSD) sind entwicklungsbiologische Konstellationen, bei denen die Geschlechtsentwicklung atypisch verläuft. Solche Fälle zeigen, dass die Ausprägung geschlechtlicher Merkmale vielfältig sein kann. Sie stellen die grundsätzliche binäre Geschlechterordnung auf Basis der Gametenproduktion allerdings nicht infrage. DSD sind Variationen innerhalb eines binären Systems, nicht außerhalb davon.
In diesem Zusammenhang zeigt sich auch die Bedeutung der Quigley-Skala, die verschiedene Ausprägungsformen bei Androgenresistenz klassifiziert – von vollständig männlich erscheinender Anatomie bis hin zu typisch weiblichen Merkmalen [1]:
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| Aus Quigley et al.: Androgen Receptor Defects: Historical, Clinical, and Molecular Perspectives (Endocrine Reviews 16, 1995) |
Sie macht deutlich, dass z. B. ein Genital nicht allein durch seine äußere Beschaffenheit als "männlich" oder "weiblich" einzuordnen ist. Ob etwa eine vergrößerte Klitoris oder ein Mikropenis vorliegt, hängt nicht von der strukturellen Beschaffenheit des Genital selbst ab, sondern davon, in welchem geschlechtlichen Körper dieses Merkmal auftritt. Die Bewertung erfolgt also relativ zur zugrundeliegenden sexuellen Entwicklungsrichtung, nicht isoliert anhand der Anatomie.
Diese Relativität der Geschlechtsausprägung hängt eng mit dem strukturellen Bipotenzial des embryonalen Körpers zusammen. In der frühen Embryonalentwicklung besitzen alle Menschen zunächst geschlechtsneutrale Anlagen, aus denen sich sowohl männliche als auch weibliche Strukturen entwickeln können – etwa das sogenannte genitale Tuberkel, das sich je nach hormoneller Prägung entweder zur Klitoris oder zum Penis weiterentwickelt.
Ebenso existieren zu Beginn sowohl Müller-Gänge (Vorläufer weiblicher innerer Geschlechtsorgane) als auch Wolff-Gänge (männliche Entsprechung). Erst durch gezielte hormonelle Signale werden diese Strukturen entweder aktiviert oder zurückgebildet. Dieses (zumindest auf anatomischer Ebene) gemeinsame Ausgangsmaterial erklärt, warum sich bestimmte körperliche Merkmale (insbesondere im Fall von DSD) nicht eindeutig als "männlich" oder "weiblich" klassifizieren lassen, ohne den Kontext des Gesamtorganismus zu betrachten. Das Genital ist also nicht von sich aus geschlechtlich bestimmt, sondern Ergebnis einer entwicklungsbiologischen Richtung, die wiederum auf der genetisch-hormonellen Grundlage eines männlichen oder weiblichen Organismus beruht.
Diese Prozesse sind somit keine isolierten Einzelphänomene, sondern direkte Konsequenzen der zugrundeliegenden geschlechtlichen Organisation. Die geschlechtsspezifischen Hormone – etwa Androgene oder Östrogene – sind keine zufälligen biochemischen Gimmicks, sondern entstehen als funktionale Folge der binären Differenzierung. Sexuell reproduktive Organismen entwickeln ihre Körper nicht nach einem neutralen Baukastensystem, in dem Geschlechtlichkeit beliebig hinzugefügt oder weggelassen werden könnte. Vielmehr organisiert sich die gesamte geschlechtliche Entwicklung um die jeweilige Gametenproduktion – männlich oder weiblich. Physiologie und Anatomie stehen dabei in einem integralen Zusammenhang mit der übergeordneten Fortpflanzungsstruktur und folgen einer Entwicklungslogik, die auf die effiziente Erfüllung der geschlechtsspezifischen reproduktiven Rolle ausgerichtet ist.
Missverständnisse im Alltagskontext
In der öffentlichen Diskussion werden Begriffe wie "Geschlecht" und "Geschlechtsausprägung" oft durcheinandergebracht oder synonym verwendet. Das führt dazu, dass individuelle Ausprägungen oder gar subjektive Empfindungen als Argumente gegen die biologische Binarität von Geschlecht ins Feld geführt werden. Doch solche Argumente verfehlen den Kern dessen, was in der Biologie unter "Geschlecht" verstanden wird.
Während Biologen in diesem Zusammenhang zumeist (aber nicht ausschließlich) auf Ebene der Phylogenese argumentieren – also in Bezug auf reproduktive Funktionen, Gametentypen und evolutionäre Entwicklungslinien –, betrachten Humanmediziner, Soziologen und identitätspolitisch motivierte Laien die Geschlechtsbiologie des Menschen primär auf Ebene der Ontogenese. Was dabei oft untergeht, ist die Tatsache, dass die ontogenetischen Faktoren zwar relevant für das persönliche Erleben und soziale Zusammenleben sind, aber nicht die biologischen Grundlagen geschlechtlicher Klassifikation verändern.
In der Evolutions- und Sexualbiologie ist Geschlecht ausschließlich eine reproduktive Kategorie, keine soziale oder gefühlte. Die ontogenetische Entwicklung eines Körpers (etwa mit einem ungewöhnlichen Genital oder hormonellen Ungleichgewicht) kann selbstverständlich variieren. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern Naturforschern im Grunde genommen seit Anbeginn der Naturkunde bewusst. Aber diese Variation findet innerhalb eines phylogenetisch binären Systems statt. Wird diese begriffliche Unterscheidung nicht getroffen, entsteht ein Trugschluss: Dass Vielfalt in der Ausprägung automatisch Vielfalt in der Kategorie bedeute. Genau das ist aber nicht der Fall.
Ein weiteres Missverständnis liegt in der Annahme, biologische Systeme müssten "schön" binär oder "komplett eindeutig" sein, um gültig zu sein. Biologen, die an der objektiv beobachtbaren Realität der Zweigeschlechtlichkeit festhalten, wird häufig unterstellt, sie würden Geschlecht künstlich in zwei streng getrennte Kategorien pressen. Doch diese Unterstellung verkennt, dass kein seriöser Biologe ernsthafter behaupten würde, dass alle Lebewesen Gonochoristen sind – also getrenntgeschlechtlich im Sinne klar verteilter männlicher und weiblicher Individuen. Die Existenz von Hermaphroditismus, Überlappungen im sexuellen Dimorphismus, Geschlechtsdetermination aufgrund von Umweltbedingungen oder auch wechselseitiger Geschlechterwechsel (z. B. bei einigen Fischen) ist seit Langem bekannt und gut dokumentiert. Was all diese Varianten jedoch nicht infrage stellen, ist die grundlegende Struktur der Binarität auf Gametenebene – also die funktionale Unterscheidung zwischen Mikro- und Makrogameten, unabhängig davon, wie diese in einem Organismus verteilt sind.
Das biologische Verständnis von Geschlecht ist also weder naiv vereinfachend noch blind gegenüber Varianz, sondern beruht auf der Beobachtung, dass die sexuelle Fortpflanzung bei eukaryotischen Organismen auf zwei funktional verschiedenen Geschlechtszellen basiert und diese Zweiteilung sich als äußerst stabiler evolutionärer Standard durchgesetzt hat.
Fazit
Das Geschlecht ist kein Spektrum, sondern eine funktionale Kategorie, die sich phylogenetisch aus der Anisogamie ableitet und binär strukturiert ist: Mikro- oder Makrogameten. Die individuelle Ausprägung dieses Geschlechts – also wie ein Mensch sich entwickelt, aussieht oder fühlt – kann ontogenetisch sehr unterschiedlich sein und als Spektrum modelliert werden. Doch diese Vielfalt betrifft bloß die Erscheinungsformen, nicht die Grundstruktur. Die Sexualbiologie kennt Varianz. Doch solche "Ausnahmen" setzen eine Regel voraus. Die Existenz von Entwicklungsvarianten widerlegt nicht die binäre Struktur von Geschlecht. Sie belegt vielmehr, wie robust und gleichzeitig anpassungsfähig dieses System ist.
Für eine sachliche Debatte braucht es deshalb die klare Unterscheidung zwischen Geschlecht (als funktionales, phylogenetisches Prinzip) und Geschlechtsausprägung (als individueller, ontogenetischer Entwicklungsprozess). Nur so können wir biologische Realität und individuelle Lebenswirklichkeit differenziert und respektvoll betrachten.
Quellen
[1] Charmian A. Quigley, Alessandra de Bellis, Keith B. Marschke, Mostafa K. El-Awady, Elizabeth M. Wilson, Frank S. French, Androgen Receptor Defects: Historical, Clinical, and Molecular Perspectives, Endocrine Reviews, Volume 16, Issue 3, 1 June 1995, Pages 271–321, https://doi.org/10.1210/edrv-16-3-271
