Kallmann-Syndrom: DSD oder nicht?

Das Kallmann-Syndrom ist eine seltene Ursache ausbleibender Pubertät und korreliert häufig mit fehlendem Geruchssinn. Es tritt bei beiden Geschlechtern auf. Doch wo genau verortet sich diese Erkrankung in der Systematik menschlicher Geschlechtsentwicklung? Gehört sie zu den Disorders of Sex Development (DSD) oder handelt es sich um eine rein endokrine Störung? Diese Frage ist nicht nur medizinisch relevant, sondern berührt auch gesellschaftliche Debatten über geschlechtliche Norm und Abweichung. Besonders spannend wird es, wenn wir die Perspektive der Geschlechterforscherin Anne Fausto-Sterling einbeziehen, die mit ihrer radikal erweiterten Definition von "Intersexualität" den medizinischen Konsens seit Jahrzehnten herausfordert.
 

Medizinischer Konsens: Kallmann ist keine DSD

Der aktuelle medizinische Standard – etwa formuliert im Chicago-Konsens von 2006 [1] – definiert DSD als angeborene Zustände mit atypischer Entwicklung der chromosomalen, gonadalen oder anatomischen Geschlechtsmerkmale. Beispiele sind die kongenitale adrenale Hyperplasie (CAH), das Androgeninsensitivitätssyndrom (AIS) oder ovotestikuläre DSD. Das Kallmann-Syndrom passt nicht in dieses Schema. Es handelt sich um eine Form des hypogonadotropen Hypogonadismus (HH) – also einer Unterfunktion der Geschlechtsdrüsen (Gonaden), die durch einen Mangel an stimulierenden Hormonen aus dem Gehirn entsteht – mit zusätzlicher Anosmie (vollständiger Verlust des Geruchssinns) oder Hyposmie (verminderte Riechfähigkeit). Ursache ist eine fehlgeschlagene Migration von GnRH-produzierenden Neuronen und Riechnervzellen während der Embryonalentwicklung. Genitalanatomie und Karyotyp (46,XX oder 46,XY) sind hierbei typisch für das jeweiligen Geschlecht. Betroffen ist demnach nicht die primäre Geschlechtsdifferenzierung, sondern die Pubertätsinduktion durch fehlende hormonelle Stimulation. 
 
Das Kallmann-Syndrom ist gemäß des medizinischen Konsens somit eine endokrine Störung der Pubertät, keine DSD.
 

Kallmann-Syndrom als Teil eines "Geschlechtsspektrums"?

Ganz anders sieht es aus der Perspektive von Anne Fausto-Sterling. In Werken wie "The Five Sexes" (1993) und "Sexing the Body" (2000) kritisiert sie die enge medizinische Definition von "Intersexualität" als künstliche Begrenzung [2][3]. Für sie zählt jede Abweichung vom platonischen Ideal binärer Geschlechter – sei es chromosomal, gonadal, genital oder hormonell – als Form von "Intersex". Das Kallmann-Syndrom wird von ihr zwar nicht explizit genannt, fällt aber klar in ihre Kategorie hormoneller Variationen. Durch den GnRH-Mangel kommt es zu einer ausbleibenden oder unvollständigen Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale (z. B. fehlende Menarche, ausbleibender Stimmbruch, reduzierte Körperbehaarung). Dies stellt aus ihrer Sicht eine Abweichung vom "normativen Geschlechtsentwurf" dar – vergleichbar mit dem Turner-Syndrom (gonadale Dysgenesie; 45,X (oder 45,X0)) oder dem Klinefelter-Syndrom (47,XXY), die sie ebenfalls als "Intersex"-Varianten klassifiziert. 
 
Fausto-Sterling schätzt die Häufigkeit solcher "intersexuellen" Zustände auf bis zu 1,7 % aller Geburten – eine Zahl, die Kritiker wie Leonard Sax (2002) auf 0,018 % reduzieren, indem sie nur Fälle mit ambigen Genitalien oder Chromosomen-Phänotyp-Diskordanz zählen [4] (siehe Wie häufig ist "Intersexualität"?). Das Kallmann-Syndrom würde in dieser engen Zählung herausfallen – für Fausto-Sterling ist genau das der Punkt: Die Medizin schafft angeblich "künstliche Grenzen", um Abweichungen unsichtbar zu machen. Fausto-Sterling argumentiert hier aus einer aktivistischen Perspektive, was nich unproblematisch ist. 
 

Unsere Position

Die Frage, ob das Kallmann-Syndrom eine DSD ist oder nicht, ist keine bloße Nomenklaturdebatte. Eine falsche Zuordnung hätte praktische Konsequenzen – vor allem für die Betroffenen. Denn diese brauchen keine interdisziplinären DSD-Teams mit Kinderurologie, Kinderpsychiatrie und Ethikkommission. Sie profitieren vielmehr von einer klaren endokrinologischen und neurologischen Betreuung. Die Einbindung in DSD-Strukturen hätte keinen medizinischen Mehrwert.

Der Chicago-Konsens von 2006 hat die DSD-Definition bewusst eng gefasst, um nicht-konsensuelle operative Eingriffe auf die tatsächlich betroffenen Kinder mit ambigen Genitalien oder schwerwiegenden hormonellen Risiken (z. B. Salzverlust-CAH) zu beschränken. Zustände wie Kallmann, Klinefelter oder Turner-Syndrom werden deshalb bewusst nicht als klassische DSD geführt – gerade weil hier keine kosmetisch-funktionellen Genitaloperationen im Kindesalter indiziert sind.

Die von Fausto-Sterling und manchen Aktivisten genannte Zahl von 1,7 % "Intersex" entsteht nur, wenn man sehr unterschiedliche Zustände zusammenzählt. Diese Zahl wird häufig verwendet, um gegen "Genitalverstümmelung" und für weitere Sonderschutzrechte zu argumentieren – obwohl die allermeisten der einbezogenen Patienten nie operiert werden. Die Vermischung verwischt die tatsächlichen Probleme (z. B. irreversible Eingriffe bei CAH oder AIS) und erschwert eine sachliche Debatte.

Fazit

Das Kallmann-Syndrom ist medizinisch kein DSD, sondern eine endokrine Entwicklungsstörung mit neurologischem Ursprung. Die klare Trennung zwischen primären Störungen der Geschlechtsentwicklung und sekundären endokrinen Störungen wie dem Kallmann-Syndrom ist medizinisch sinnvoll und patientenzentriert. Sie verhindert eine unangemessene Gleichsetzung von sehr unterschiedlichen Erkrankungen und schützt vor einer Übertragung von Schutzmaßnahmen (die bei echten DSD lebenswichtig sein können) auf Gruppen, die sie nicht benötigen. 
 

Quellen

[1] Peter A. Lee, Christopher P. Houk, S. Faisal Ahmed, Ieuan A. Hughes, in collaboration with the participants in the International Consensus Conference on Intersex organized by the Lawson Wilkins Pediatric Endocrine Society and the European Society for Paediatric Endocrinology; Consensus Statement on Management of Intersex Disorders. Pediatrics August 2006; 118 (2): e488–e500. DOI: 10.1542/peds.2006-0738
 
[2] Fausto-Sterling, A. (1993), THE FIVE SEXES. The Sciences, 33: 20-24. https://doi.org/10.1002/j.2326-1951.1993.tb03081.x
 
[3] Fausto-Sterling, A. (2000). Sexing the Body: Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York: Basic Books.
 
[4] Sax, L. (2002). How common is lntersex? A response to Anne Fausto‐Sterling. The Journal of Sex Research, 39(3), 174–178. https://doi.org/10.1080/00224490209552139

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