Besonders heftig entzündet sich der Streit um das "biologische" Geschlecht des Menschen an sogenannten Disorders of Sex Development (DSD) – also Störungen der geschlechtlichen Entwicklung, die auf ersten Blick nicht dem Normalzustand von eindeutig männlich oder weiblich entsprechen. Ein häufig von biologisch durchaus versierten Kritikern des Genderismus vorgebrachtes Argument in dieser Debatte ist, dass sich sämtliche dieser DSD-Fälle letztlich dem funktional näherstehenden Geschlecht und damit binär zuordnen lassen – basierend auf der Anisogamie, also der Tatsache, dass es genau zwei Typen von Geschlechtszellen (Gameten) gibt. Da es sich hierbei um die gültige Geschlechtsdefinition handelt, ist dieser Standpunkt evolutionsbiologisch stichhaltig und für die allermeisten DSD in der Tat zutreffend. Dennoch sind wir der Ansicht, dass damit ein allzu vereinfachendes Kategoriensystem verteidigt wird – die berühmten "zwei Schubladen", in die angeblich jeder Mensch einsortiert werden könne. Dieses "Schubladenmodell" führt letzten Endes nämlich in eine Argumentationsfalle. Wir möchte daher spezifische Fälle vorstellen, die das Schubladendenken ins Wanken bringen.
Wie Eierstöcke und Hoden unterschieden werden
Die Unterscheidung zwischen Eierstock- und Hodengewebe erfolgt sexualbiologisch – d. h. Taxon übergreifend – primär durch eine histologische Untersuchung, also die mikroskopische Analyse von entnommenem Gewebe der Geschlechtsdrüsen (Gonaden). In der Humanmedizin erfolgt dies z. B. bei einer Gonadenbiopsie oder nach operativer Entfernung der Gonaden. In der medizinischen Praxis kommen außerdem bildgebende Verfahren (Ultraschall, MRT), hormonelle Analysen und genetische Tests zum Einsatz, doch erst die histologische Diagnostik liefert in der Regel die eindeutige gonadale Zuordnung.
Hodengewebe zeigt dabei u. a. Samenkanälchen (Tubuli seminiferi) mit Sertoli-Zellen (diese produzieren Nährstoffe und Wachstumsfaktoren während der Spermatogenese), Testosteron produzierende Leydig-Zellen und je nach Funktionalität bereits reifende Spermatozyten (Vorläuferzellen der Spermien).
Eierstockgewebe zeigt hingegen Follikel in unterschiedlichen Entwicklungsstadien (Primär-, Sekundärfollikel etc.) sowie gelegentlich ein Corpus luteum oder Corpus albicans (Gelbkörper bzw. ihr bindegewebig degeneriertes Endstadium).
Ovotestes und ovotestikuläre DSD
Als Ovotestis bezeichnet man eine Gonade, die sowohl Eierstock- als auch Hodengewebe enthält (Eierstock = Ovar; Hoden = Testis). In der Tierwelt kommen sie häufiger vor, etwa bei bestimmten Weichtieren, Fischen oder Ringelwürmern, und erfüllen dort eine reproduktiv-funktionale Rolle im Rahmen des echten Hermaphroditismus. Beim Menschen hingegen gelten Ovotestes als entwicklungsbiologische Anomalie, also als eine Form der Disorders of Sex Development.
Im klinischen Kontext spricht man bei Menschen mit Ovotestes daher von einer ovotestikulären Störung der Geschlechtsentwicklung. Deren Häufigkeit wird auf etwa 1/100.000 Lebendgeburten (0,001 %) geschätzt [1][2]. Bis 1992 wurden nur etwa 500 Fälle in der medizinischen Fachliteratur dokumentiert [2][3]. Histologisch lassen sich in einem solchen Organ typischerweise Strukturen wie Samenkanälchen und Follikelanlagen gleichzeitig nachweisen. Entweder als indifferentes Mischgewebe (mixed type) oder getrennt nebeneinander (bipolar type), wobei an der Übergangszone häufig ebenfalls Mischgewebe aufritt:
#Pathology #PediPath #Uropath #DSD 18 MO baby, amb, genitalia, 46XX: bilateral bipolar ovotestes. pic.twitter.com/piexCVyRO3
— Miguel Reyes-Múgica (@mreyesm) May 21, 2016
Für einen vertiefenden Einblick in die Histologie von ovotestikulärem Gewebe siehe Baskin et al. (2025) [4].
Bei der ovotestikulären DSD lassen sich drei Hauptvarianten unterscheiden:
Unilaterale ovotestikuläre DSD
Auf einer Körperseite befindet sich ein Ovotestis, auf der anderen eine normale Gonade (entweder ein Eierstock oder ein Hoden). Diese Form kommt innerhalb der ovotestikulären DSD vergleichsweise häufig vor (ca. 63 % der Fälle) [5]. Die unterschiedliche Funktion und Struktur beider Seiten kann erhebliche diagnostische und therapeutische Implikationen wie u. a. ein erhöhtes Krebsrisiko sowie einen untypischen Hormonhaushalt haben.
Bilaterale ovotestikuläre DSD
Beide Körperseiten weisen je einen Ovotestis auf. Diese Variante ist besonders selten (nur ca. 6 % der Fälle), aber in der Fachliteratur dokumentiert. Bilaterale Ovotestes zeigen die maximale gonadale Ambiguität im Menschen, wobei funktionale Gametenproduktion äußerst selten beobachtet wird. In der Regel sind Betroffene unfruchtbar.
Laterale ovotestikuläre DSD
Auf einer Seite befindet sich ein histologisch eindeutig identifizierbarer Hoden, auf der anderen ein ebenso klar abgegrenzter Eierstock. Diese Variante (ca. 31 % der Fälle) ist ungewöhnlich, da die Gonaden nicht hybrid, sondern jeweils rein männlich oder weiblich sind – nur eben in einem Körper nebeneinander. Auch hier sind Patienten meist steril und von erhöhten gesundheitlichen Risiken betroffen. Über einen seltenen Fall (den bis dahin gerade mal fünften) einer solchen Störung mit gleichzeitigem Auftreten eines Klinefelter-Syndrom Mosaizismus (46, XX/47, XXY) berichten Talreja et al. (2015) [6].
In allen drei Varianten können zusätzlich uneindeutige äußere Genitalien, Mischformen innerer Strukturen (z. B. Müller- und Wolff-Gänge) sowie ein intermediärer Hormonhaushalt auftreten. Die chromosomale Ausstattung der Betroffenen variiert. Es gibt dokumentierte Fälle mit 46,XX, 46,XY, aber auch Mosaiken oder Chimären. Die ovotestikuläre DSD ist damit ein Beispiel dafür, wie komplex die geschlechtliche Entwicklung des Menschen verlaufen kann und warum einfache Kategorisierungen biologisch nicht immer ausreichen.
"Hermaphroditismus des Menschen"
Das Vorhandensein von histologisch nachweisbarem Hoden- und Eierstockgewebe in einem menschlichen Organismus ist ein besonders spannendes Phänomen. Während man die anderen DSD noch relativ eindeutig dem jeweils funktional näherstehenden Geschlecht zuordnen kann, ist dies bei den ovotestikulären DSD nicht ohne zusätzliche Annahmen möglich, die jedoch streng genommen den Rahmen der biologischen Geschlechtsdefinition verlassen. In medizinischen Fallberichten wird dieses Phänomen deshalb gelegentlich (wenn auch zunehmend unüblich gemäß der Chicago-Klassifikation von 2006 [7]) als "echter Hermaphroditismus" des Menschen bezeichnet.
Dagegen wird oft eingewendet, dass menschliche Ovotestes nicht in beiderlei Art funktionsfähig seien, weshalb man die betroffene Person zumindest im Falle einer funktionalen Gametenproduktion trotzdem eindeutig einem der beiden Geschlechter zuordnen könnte. Andererseits sind viele eindeutig als männlich oder weiblich eingeordnete Menschen ebenfalls unfruchtbar. Funktionalität ist biologisch relevant, aber kein notwendiges Kriterium zur Geschlechtszugehörigkeit. Darüber hinaus gibt es dokumentierte Fälle, in denen die verbliebene Gonade nach Entfernung eines Ovotestis plötzlich funktionale Gameten produzierte. Die Gonade, die hierbei am wahrscheinlichsten funktioniert, ist der Eierstock, weshalb in schätzungsweise 80 % der Fälle nach der Operation der verbliebene Eierstock fruchtbare Eizellen produzieren kann [8][9]. Und selbst das Ovargewebe in Ovotestes zeigt in etwa 50 % der Fälle zumindest Anzeichen eines Eisprungs (Ovulation) [10]. Spermatogenese in Ovotestes wurde hingegen bis 1994 in nur in zwei von 283 Fällen (0,7 %) nachgewiesen [11].
Nach unserem Kenntnisstand wurde bislang in der Tat noch nie ein Fall beobachtet, in dem eine Person gleichzeitig beide Gametentypen hervorbrachte. Aber der Umstand, dass zumindest beide gonadalen Anlagen potenziell funktional sein können, bleibt biologisch bemerkenswert und rechtfertigt eine Einordnung als "echte", wenn auch nicht funktionale Zweigeschlechtlichkeit. Andererseits beschreibt Hermaphroditismus eine evolutionär stabile Fortpflanzungsstrategie innerhalb einer Art, was bei einer Entwicklungsstörung wie der ovotestikulären DSD eindeutig nicht der Fall ist. Und auch Selbstbefruchtung ist beim Menschen lediglich ein hypothetisches Szenario, bei dem ein Chimären-Embryo aus der Verschmelzung einer männlichen und einer weiblichen Zygote entsteht, ein individuelles funktionsfähiges Gonadengewebe beider Typen bildet und die jeweils produzierten Geschlechtszellen miteinander fusionieren [12]. Derartiges wurde beim Menschen zwar noch nicht beobachtet, allerdings bei Hauskaninchen, die ebenfalls keine "echten Hermaphroditen" im evolutionsbiologischen Sinne sind [13].
Zwischen Binarität und Realität
Alle diese Beobachtungen stellen die biologische Binarität des Geschlechts im Sinne der Anisogamie ausdrücklich nicht infrage! Es gibt nur zwei Gametentypen (beim Menschen in Form von Eizellen und Spermien) und damit auch nur zwei Geschlechter. Die Existenz einer klar identifizierbaren Hoden-Ovar-Kombination innerhalb eines einzigen Körpers zeigt dennoch, dass die metaphorischen "Schubladen" nicht sauber trennen, was biologisch vorkommen kann. Denn wohin sortiert man eine Person, die sowohl eine potenziell Oogenese-fähige Ovarseite als auch eine potenziell Spermatogenese-fähige Hodenseite besitzt? In welche Schublade gehört ein Mensch, dessen primäre Geschlechtsorgane sich nicht auf ein eindeutiges Fortpflanzungssystem festlegen lassen?
Die Realität der Biologie ist komplexer als es simple Kategorisierungen suggerieren. Die Binarität der Fortpflanzungslogik bleibt zwar als objektiv beobachtbare Naturkonstante bestehen, aber die Vorstellung, dass sich am Ende jede einzelne DSD-Ausprägung in eine von zwei Schubladen pressen ließe, ist wissenschaftlich fragwürdig und aus unserer Sicht nicht ohne willkürliche Annahmen und Kategorisierungen vertretbar. Beispielsweise könnte man über die jeweilige Chromosomenkombination eine Geschlechtszuordnung vornehmen. Da jedoch das Geschlecht nicht auf Basis seiner Determinierungsmechanismen in einer willkürlich gewählten Klasse von Wirbeltieren definiert wird und außerdem andere DSD diesen Ansatz konterkarieren [14], ist er aus unserer Sicht ungültig.
Statt einer schwarz-weißen Schubladenmetapher plädieren wir daher eher für eine schwarz-weiße "Spielsteinmetapher": Die allermeisten Menschen haben entweder nur schwarze oder nur weiße Spielsteine gezogen, es gibt jedoch auch ein paar wenige, die beide gezogen haben. Es gibt in diesem Modell keine grauen Zwischenstufen und kunterbunte Regenbogensteine sucht man ebenfalls vergeblich. Die mögliche sexuelle Vielfalt wird hierbei aber dennoch berücksichtigt.
Fazit
Die Binarität bleibt das übergeordnete Prinzip der menschlichen Fortpflanzung. Die verschiedenen Varianten der ovotestikulären Störung der Geschlechtsentwicklung sind somit kein Gegenbeweis zur biologischen Zweigeschlechtlichkeit (im Gegenteil!) und auch kein Beleg für das häufig behauptete "Geschlechterspektrum". Aber sie sind sehr wohl der Endgegner einer binären Schubladenmetapher, da sie zeigen, dass diese nicht immer trennscharf ist, ohne normative Zusatzannahmen zu treffen.
Quellen
[1] Mona K. Mekkawy, Alaa K. Kamel, Nabil Dessouky, Mohamed Elgharbawy, Inas Mazen; Cytogenetic Spectrum of Ovotesticular Difference of Sex Development (OT DSD) among a Large Cohort of DSD Patients and Literature Review. Sex Dev 26 October 2020; 13 (5-6): 221–227. https://doi.org/10.1159/000508153
[2] Nistal M, Paniagua R, González-Peramato P, Reyes-Múgica M. Perspectives in Pediatric Pathology, Chapter 7. Ovotesticular DSD (True Hermaphroditism). Pediatric and Developmental Pathology. 2015;18(5):345-352. doi:10.2350/14-04-1466-PB.1
[3] Eberenz W, Rosenberg HK, Moshang T, Chatten J, Keating MA. True hermaphroditism: sonographic demonstration of ovotestes. Radiology. 1991 May;179(2):429-31. https://doi.org/10.1148/radiology.179.2.2014286
[4] Laurence Baskin, Mei Cao, Yi Li, Linda Baker, Christopher Cooper, Gerald Cunha, Is it possible to separate the testicular and ovarian components of an ovotestis?, Journal of Pediatric Urology, 2025, ISSN 1477-5131, https://doi.org/10.1016/j.jpurol.2025.04.009.
[5] Ndèye Aby Ndoye, Lissoune Cissé, Chérif Mouhamed Moustapha Dial, Abdou Magib Gaye, Abibatou El Fecky Agne, Hatem Elfeki, Youssouph Diedhiou, Faty Balla Lo, Ndèye Fatou Seck, Aloïse Sagna, Oumar Ndour, Gabriel Ngom, Ovotesticular Disorders of Sexual Development: Diagnostic, Therapeutic, and Evolutionary Aspects, Journal of Pediatric Surgery, Volume 60, Issue 4, 2025, 162187, ISSN 0022-3468, https://doi.org/10.1016/j.jpedsurg.2025.162187.
[6] Talreja, Shyam M.; Banerjee, Indraneel; Yadav, Sher Singh; Tomar, Vinay. A rare case of lateral ovotesticular disorder with Klinefelter syndrome mosaicism 46, XX/47, XXY: An unusual presentation. Urology Annals 7(4):p 520-523, Oct–Dec 2015. | DOI: 10.4103/0974-7796.164855
[7] I.A. Hughes, C. Houk, S.F. Ahmed, P.A. Lee, Consensus statement on management of intersex disorders, Journal of Pediatric Urology, Volume 2, Issue 3, 2006, Pages 148-162, ISSN 1477-5131, https://doi.org/10.1016/j.jpurol.2006.03.004.
[8] Wynbrandt, James; Ludman, Mark D. (2010-05-12). The Encyclopedia of Genetic Disorders and Birth Defects. Infobase Publishing. ISBN 978-1-4381-2095-9.
[9] Hutson, John M.; Warne, Garry L.; Grover, Sonia R. (2012-02-02). Disorders of Sex Development: An Integrated Approach to Management. Springer Science & Business Media. pp. 84–85. ISBN 978-3-642-22963-3.
[10] Bhattacharya, Niranjan; Stubblefield, Phillip G. (2016-05-17). Human Fetal Growth and Development: First and Second Trimesters. Springer. ISBN 978-3-319-14874-8.
[11] Krob, G., Braun, A. & Kuhnle, U. True hermaphroditism: Geographical distribution, clinical findings, chromosomes and gonadal histology. Eur J Pediatr 153, 2–10 (1994). https://doi.org/10.1007/BF02000779
[12] M. Kemal Irmak, Self-fertilization in human: Having a male embryo without a father, Medical Hypotheses, Volume 75, Issue 5, 2010, Pages 448-451, ISSN 0306-9877, https://doi.org/10.1016/j.mehy.2010.04.021.
[13] Frankenhuis MT, Smith-Buijs CM, de Boer LE, Kloosterboer JW. A case of combined hermaphroditism and autofertilisation in a domestic rabbit. Vet Rec. 1990 Jun 16;126(24):598-9. PMID: 2382355.
[14] Miroslav Dumic, Karen Lin-Su, Natasha I. Leibel, Srecko Ciglar, Giovanna Vinci, Ruzica Lasan, Saroj Nimkarn, Jean D. Wilson, Ken McElreavey, Maria I. New, Report of Fertility in a Woman with a Predominantly 46,XY Karyotype in a Family with Multiple Disorders of Sexual Development, The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism, Volume 93, Issue 1, 1 January 2008, Pages 182–189, https://doi.org/10.1210/jc.2007-2155