Wann setzt das "Trans-Bewusstsein" ein?

Die Frage, wann Menschen erstmals merken, dass ihre Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt festgestellten Geschlecht übereinstimmt, ist in den letzten Jahren mehrfach wissenschaftlich untersucht und in Hinblick auf die umstrittene Hypothese der Rapid-Onset Gender Dysphoria (ROGD) kontrovers diskutiert worden.

Umfangreiche Untersuchungen von Zaliznyak et al. aus den Jahren 2020 [1] und 2021 [2], bei denen Transgender-Erwachsenen nach dem Einsetzen ihres "Trans-Bewusstseins" befragt wurden, legen nahe, dass erste Erfahrungen von Geschlechtsdysphorie bereits im Vorschul- bzw. frühen Schulalter (vor dem 8. Lebensjahr; durchschnittlich im Alter zwischen 6 und 7 Jahren) erlebt werden. Diese Erkenntnisse werden von Erhebungen in den USA [3] und Berichten aus Deutschland [4] gestützt. Viele Betroffene geben jedoch an, noch einige Jahre bis zur ersten Offenlegung ihres Geschlechtsempfindens gegenüber anderen abgewartet zu haben. Vor allem Männer berichten von einer mehrjährigen Zeitspanne zwischen der ersten inneren Gewissheit und dem Moment, in dem sie sich gegenüber Familie oder Freundeskreis öffneten. In einzelnen Studien lag der Median dieser Verzögerung bei mehreren Jahren, teils bis ins frühe Erwachsenenalter hinein [5]. Hier spielen gesellschaftliche Faktoren, Ängste vor Ablehnung und die Verfügbarkeit von Informationen und Vorbildern eine entscheidende Rolle.

Gleichzeitig ist es wichtig, methodische Unsicherheiten im Blick zu behalten. Die meisten Daten stammen aus retrospektiven Befragungen. Erwachsene Transgender wurden also gebeten, sich an das Alter ihrer ersten Bewusstwerdung zurückzuerinnern. Solche Angaben sind naturgemäß anfällig für Erinnerungslücken oder nachträgliche Deutungen. Zudem unterscheiden Studien oft zwischen verschiedenen Meilensteinen – etwa zwischen dem "ersten Empfinden von Geschlechtsdysphorie", "innerem Bewusstwerden" und "externer Offenlegung". Je nachdem, welche Definition zugrunde gelegt wird, können die Altersangaben variieren.

Genau an dieser Stelle entsteht ein Spannungsfeld zur ROGD-Hypothese, welche erst im späteren Lebensverlauf – meist in der Pubertät und hier eher bei jugendlichen Mädchen – aufgrund von "sozialer Ansteckung" auftritt. Denn ob es sich in solchen Fällen um eine extrinsisch verursachte Identitätsstörung oder um ein spätes Outing einer bereits zuvor empfundenen Geschlechtsdysphorie handelt, ist für Außenstehende kaum festzustellen. Wenn Betroffene berichten, dass sie schon in der Kindheit erste Gefühle des "Andersseins" hatten, ist normalerweise von einer intrinsischen Geschlechtsdysphorie auszugehen. Ob solche Berichte jedoch der Wahrheit entsprechen oder von Jugendlichen nur behauptet werden, um in ihrer irrtümlich angenommenen oder gar bewusst selbstgewählten Transidentität bestätigt zu werden, bleibt fraglich.

Mit Blick auf die wissenschaftliche Literatur deutet aber vieles darauf hin, dass die Mehrheit der (valide) transidenten Menschen bereits in der Kindheit eine erste Ahnung ihrer abweichenden Geschlechtsidentität hat. Diese Beobachtung wird vom Einzelfall David "Brenda" Reimer gestützt (siehe Der John/Joan-Fall). Der Weg bis zum offenen Umgang mit dem eigenen Geschlechterwissen ist jedoch häufig deutlich länger und wird von sozialen Kontexten stark beeinflusst. Genau diese Spannweite zwischen frühem inneren Wissen und späterer äußerer Umsetzung ist bei Debatten rund um die ROGD-Hypothese zu beachten. Ein scheinbar plötzliches Auftreten von Transidentität im Jugendalter kann mehrere Ursachen haben.

Ein Blick in ältere Daten zeigt, wie stark gesellschaftliche Rahmenbedingungen die Biografien transidenter Menschen prägen. So untersuchten Landén, Wålinder und Lundström in Schweden alle Personen, die zwischen 1972 und 1992 eine geschlechtsangleichende Behandlung beantragten [6]. Diese Kohorte entstand lange bevor Social Media oder digitale Peer-Communities überhaupt existierten. Auffällig ist, dass viele der Befragten bereits in der Kindheit geschlechtsuntypisches Verhalten zeigten, während der formale Antrag auf Transition häufig erst deutlich später erfolgte. Genau das macht die Studie im Kontext der ROGD-Debatte interessant. Sie dokumentiert Transbiografien aus einer Zeit, in der ein "Anstecken" über Online-Gruppen schlicht nicht in der heutigen Form möglich war. Damit liefert sie eine Art historische Vergleichsbasis. Unterschiede zwischen damaligen und heutigen Verläufen lassen sich also nicht automatisch als Beleg für oder gegen die Hypothese einer aufgrund von sozialen Faktoren oder individuellen Bewältigungsstrategien geprägten Geschlechtsidentitätsstörung deuten.

Eine weitere interessante Perspektive bietet eine US-amerikanische Langzeitstudie von Olson und Kollegen [7]. Die Forscher begleiteten über 300 Kinder, die bereits im Grundschulalter sozial transitioniert waren, also im Alltag einen anderen Namen, andere Pronomen und ein anderes Erscheinungsbild lebten. Nach fünf Jahren zeigte sich ein klares Bild: Die allermeisten hielten an ihrer Transidentität fest (94 %). Nur ein kleiner Anteil hatte diese wieder geändert. Das spricht dafür, dass frühe und konsistente Transidentität bei Kindern in den meisten Fällen stabil ist und widerlegt damit die verbreitete Annahme, solche Kindheitsäußerungen seien bloß "eine Phase". Zugleich muss man aber betonen, dass diese Studie sich ausschließlich auf Kinder bezieht. Sie liefert daher keine direkte Antwort auf die ROGD-Hypothese, die sich auf Jugendliche und junge Erwachsene bezieht, bei denen Transidentität plötzlich und ohne frühere Anzeichen im Kindesalter auftritt.

Fazit

Aus unserer Sicht bedarf es einer differenzierten Betrachtung: Wer bereits in der Kindheit eine anhaltende Geschlechtsdysphorie verspürt hat, ist auch dann valide, wenn er dies erst Jahre später nach außen kommuniziert. Gleichzeitig ist nicht auszuschließen, dass es auch Menschen gibt, die sich in bestimmten Lebensphasen aus anderen Gründen mit einer Trans-Identität identifizieren, ohne dass dem eine dauerhafte Geschlechtsdysphorie zugrunde liegt. Anzuerkennen, dass beides vorkommen kann, bedeutet weder, die Belange von Transgendern generell zu delegitimieren, noch jede Selbstbeschreibung unkritisch zu übernehmen – sondern schlicht, die Vielfalt menschlicher Entwicklungswege objektiv zu betrachten und ernst zu nehmen.

Quellen

[1] Zaliznyak M, Bresee C, Garcia MM. Age at First Experience of Gender Dysphoria Among Transgender Adults Seeking Gender-Affirming Surgery. JAMA Netw Open. 2020;3(3):e201236. doi:10.1001/jamanetworkopen.2020.1236

[2] Michael Zaliznyak, Nance Yuan, Catherine Bresee, Andrew Freedman, Maurice M. Garcia, How Early in Life do Transgender Adults Begin to Experience Gender Dysphoria? Why This Matters for Patients, Providers, and for Our Healthcare System, Sexual Medicine, Volume 9, Issue 6, December 2021, Page 100448, https://doi.org/10.1016/j.esxm.2021.100448

[3] Herman, J.L., Flores, A.R., Brown, T.N.T., Wilson, B.D.M., & Conron, K.J. (2017). Age of Individuals who Identify as Transgender in the United States. Los Angeles, CA: The Williams Institute


[5] Jack L. Turban, Brett Dolotina, Thomas M. Freitag, Dana King, Alex S. Keuroghlian, Age of Realization and Disclosure of Gender Identity Among Transgender Adults, Journal of Adolescent Health, Volume 72, Issue 6, 2023, Pages 852-859, ISSN 1054-139X, https://doi.org/10.1016/j.jadohealth.2023.01.023.

[6] Landén, M., Wålinder, J. and Lundström, B. (1998), Clinical characteristics of a total cohort of female and male applicants for sex reassignment: a descriptive study. Acta Psychiatrica Scandinavica, 97: 189-194. https://doi.org/10.1111/j.1600-0447.1998.tb09986.x

[7] Kristina R. Olson, Lily Durwood, Rachel Horton, Natalie M. Gallagher, Aaron Devor; Gender Identity 5 Years After Social Transition. Pediatrics August 2022; 150 (2): e2021056082. DOI: 10.1542/peds.2021-056082

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