Samstag, 2. November 2024

35. Jubiläum: Autogynophilie im Wandel der Zeit

Autogynophilie beschreibt die Neigung eines Mannes, durch die Vorstellung oder das Bild seiner selbst als Frau erregt zu werden. Seit der Psychologe Ray Blanchard den Begriff 1989 prägte, wird dieses Konzept in der Sexualwissenschaft und insbesondere in der Diskussion um Transgeschlechtlichkeit kontrovers bewertet. Die Ärztin und Autorin Anne A. Lawrence widmet sich in ihrem aktuellen Essay "Autogynephilia at 35" der Frage, welche Bedeutung das Konzept nach 35 Jahren wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Debatte heute noch hat [1].

Zusammenfassung

Lawrence beschreibt, dass das Phänomen der Autogynophilie zwar seit Langem existiert, aber erst spät als wissenschaftlicher Begriff Eingang in die Fachliteratur fand. Sie betont, dass ein erheblicher Teil männlicher Personen – schätzungsweise bis zu 3 % – autogynophile Fantasien erlebt. Während die Existenz solcher Erlebnisse kaum bestritten werde, sei der Begriff selbst stark umstritten, insbesondere in transaktivistischen Kreisen. Sie kritisiert, dass Autogynophilie aus ideologischen Gründen aus der modernen Diagnostik (DSM-5-TR) weitgehend verschwunden sei und sieht in der Leugnung des Phänomens eine Form der Verdrängung innerhalb der transaffirmativen Bewegung. Zugleich bemängelt sie die Sensationslust konservativer und feministischer Kritiker, die Autogynophilie zur Diskreditierung aller transgeschlechtlichen Personen nutzten.

In ihrer Schlussfolgerung plädiert Lawrence für die uneingeschränkte Verfügbarkeit medizinisch verschriebener Pubertätsblocker und gegengeschlechtlicher Hormontherapien für schwer geschlechtsdysphorische Jugendliche und insbesondere für autogynophile – ein Standpunkt, den sie als moralische Notwendigkeit bezeichnet. Darüber hinaus prognostiziert sie, dass Autogynophilie künftig als "atypische sexuelle Orientierung" in Bildungsprogramme integriert werden könnte, ähnlich wie die sogenannte "Homosexualität".

Diskussion

Anne A. Lawrence ist promovierte Ärztin und Psychologin und beschreibt sich als transgeschlechtliche und autogynophile "Sexologin". Sexologie ist eine interdisziplinäre, häufig psychosozial orientierte Disziplin, die sich von der naturalistisch-biologischen Sexualwissenschaft deutlich unterscheidet. Sie arbeitet oft mit normativen, subjektiv erfahrungsbasierten Ansätzen und stellt das individuelle Empfinden in den Vordergrund. Die naturwissenschaftliche Sexualbiologie hingegen orientiert sich an empirisch überprüfbaren, biologischen Grundlagen. Diese Unterscheidung ist wichtig, um zu verstehen, dass Lawrence’ Argumentation weniger aus naturwissenschaftlicher als vielmehr aus anthropozentrisch-psychosozialer Perspektive erfolgt. Ihre Positionen können und sollten daher kritisch im Lichte biologischer Erkenntnisse reflektiert werden.

Die klare Differenzierung verschiedener Trans-Phänomene und die Abgrenzung zwischen Geschlechtsdysphorie und Autogynophilie ist zunächst klar zu befürworten. Aus medizinischer Perspektive handelt es sich bei Autogynophilie um eine paraphile Störung, die in ihrem Wesen nicht primär geschlechtsidentitär, sondern erotisch motiviert ist. Diese Unterscheidung ist wichtig, um die unterschiedlichen Mechanismen und Verläufe zu verstehen. Während die intrinsische Geschlechtsdysphorie meist frühkindlich auftritt und mit einem konsistenten Identitätserleben über die Pubertät hinaus einhergeht, manifestiert sich Autogynophilie häufig erst nach der Pubertät und steht im Zusammenhang mit erotisierten Selbstbildern. Es besteht hier in der Tat erheblicher Forschungsbedarf. Insbesondere sollten neurobiologische, hormonelle und psychologische Korrelate weiter untersucht werden, um Missverständnisse und politische Instrumentalisierungen zu vermeiden. Denn wir teilen die Beobachtung der Autorin zur gesellschaftlichen Ignoranz bzw. Überhöhung des Phänomens durch verschiedene ideologisch motovierte Lager.

Dennoch schwingen in dem Essay Töne mit, die kritisch kommentiert werden müssen. So schreibt Lawrence: "Finally, we should advocate for the unrestricted availability of medically prescribed puberty-blocking and crossgender hormone therapy for severely gender dysphoric adolescents and especially for autogynephilic ones, who will almost certainly prove to be the best candidates." ("Schließlich sollten wir uns für die uneingeschränkte Verfügbarkeit medizinisch verschriebener Pubertätsblocker und gegengeschlechtlicher Hormontherapie für stark geschlechtsdysphorische Jugendliche und insbesondere für autogynophile einsetzen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als die besten Kandidaten erweisen werden.") Diese Schlussfolgerung teilen wir ausdrücklich nicht. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist die kindliche und jugendliche Identität hochgradig formbar. Eine transaffirmative medizinische Behandlung in dieser Phase birgt das Risiko, natürliche Entwicklungsprozesse irreversibel zu unterbrechen. Wir vertreten daher die vorsichtigere Position, dass Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie ergebnisoffen begleitet, aber nicht vorschnell medizinisch affirmativ behandelt werden sollten. Zahlreiche Studien belegen, dass ein erheblicher Anteil sogenannter "Trans-Kinder" nach Abschluss der Pubertät eine homoerotische Neigung ausprägt und die frühere Identifikation als transgeschlechtlich aufgibt – ein Prozess, der als "Desistenz" bezeichnet wird. Diese Entwicklungsmöglichkeit sollte respektiert und durch therapeutische Begleitung offen gehalten werden, anstatt sie durch irreversible medizinische Maßnahmen zu blockieren.

Ein weiterer problematischer Punkt findet sich in Lawrences Aussage: "Modern educational systems realize the importance of teaching children about another atypical sexual orientation, homosexuality, before they enter secondary school, because the cost of ignorance is too high." ("Moderne Bildungssysteme erkennen die Bedeutung, Kinder noch vor der weiterführenden Schule über eine weitere atypische sexuelle Orientierung, die Homosexualität, zu unterrichten, da die Kosten der Unwissenheit zu hoch sind.") Lawrence überträgt diesen Gedanken auf Autogynophilie und schlägt vor, dass künftig auch über dieses Phänomen bereits im Kindesalter aufgeklärt werden solle. Als IG Sexualbiologie lehnen wir eine derartige Frühsexualisierung entschieden ab. Sexualaufklärung ist zwar wichtig, sie muss aber altersgerecht erfolgen. Im Grundschulalter sollte es vorrangig um grundlegende biologische Fragen gehen (z. B. "Wie entstehen Babys?"), nicht um komplexe oder gar paraphile Themen wie Autogynophilie. Eine Aufklärung über solche Inhalte kann sinnvoll in der weiterführenden Schule erfolgen, wenn Jugendliche kognitiv und emotional in der Lage sind, solche Inhalte reflektiert zu verarbeiten. Eine differenzierte Aufklärung, welche Ursachen einer vermeintlichen Trans-Identität zugrunde liegen können, halten wir für durchaus wichtig. Frühkindliche Überforderung führt hingegen eher zu Verwirrung als zu Verständnis.

Darüber hinaus bezeichnet Lawrence Autogynophilie in ihrem Text ausdrücklich als "paraphilic sexual orientation" – also als eine Form "sexueller Orientierung" (erotischer Veranlagung), vergleichbar mit "Homosexualität" (Homoerotik). Aus sexualbiologischer Sicht ist diese Gleichsetzung nicht haltbar. Die erotische Präferenz (Andro-, Gyno- oder Ambiphilie) richtet sich auf andere Personen, während Autogynophilie eine autoerotische Paraphilie ist, da sie sich auf das eigene Selbstbild als Frau bezieht. Sie ist damit nach Blanchard (1991) ein "Erotic Target Location Error" und gehört funktional in den Bereich der Paraphilien, nicht der umgangssprachlichen "sexuellen Orientierungen" [2]. Lawrence’ Plädoyer, Autogynophilie nicht zu stigmatisieren, sondern gesellschaftlich zu normalisieren, ist eine Gratwanderung. Die Entpathologisierung an sich ist nachvollziehbar, aber eine unkritische Normalisierung würde die klinischen und partnerschaftlichen Herausforderungen dieses Erlebens unter den Tisch kehren. Die Autorin erwähnt nur kurz, dass Autogynophilie für Entscheidungen über Ehe und Elternschaft relevant sei. Sexualbiologisch betrachtet wäre hier eine vertiefte Analyse der Paarungsstrategien und der sexuellen Motivation interessant: Inwiefern beeinflusst autogynophile Erregung das Bindungsverhalten, die Partnerwahl und die Reproduktionsmotivation? Diese Fragen sind bislang kaum empirisch untersucht und stellen ein lohnendes Forschungsfeld dar.

Lawrence kritisiert die ROGD-Hyopthese und argumentiert, dass vermeintlich schnell einsetzende Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen Ausdruck einer schon früh vorhandenen autogynophilen "Orientierung" sei. Damit wird ein komplexer Entwicklungsprozess zu stark vereinfacht. Die Hypothese, dass ROGD bloß die Entfaltung einer angeborenen Autogynophilie sei, ignoriert psychosoziale und mediale Einflussfaktoren auf die Konditionierung Jugendlicher.

Fazit

Anne A. Lawrence’ Essay ist ein aufschlussreiches Zeitdokument zur Entwicklung des Begriffs und Konzepts der Autogynophilie. Er zeigt zugleich die anhaltende Spannung zwischen wissenschaftlicher Analyse und ideologisch gefärbter Identitätspolitik. Wir befürworten eine offene, evidenzbasierte Erforschung des Phänomens, lehnen jedoch vorschnelle politische oder medizinische Schlüsse – insbesondere bei Minderjährigen – entschieden ab. Autogynophilie verdient sachliche Untersuchung, nicht Tabuisierung. Doch Aufklärung und Forschung müssen auf einem Fundament biologischer Realität menschlicher Entwicklung beruhen, nicht auf moralischer oder ideologischer Agenda.

Quellen

[1] Lawrence, A. A. (2024). Autogynephilia at 35 (pdf-Download)

[2] Blancard, R. (1991). Clinical observations and systematic studies of autogynephilia. Journal of Sex & Marital Therapy, 17(4), 235–251. https://doi.org/10.1080/00926239108404348

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