Sonntag, 6. April 2025

Biologen auf Abwegen

In der aktuellen Debatte um Geschlecht, Sexualität und biologische Grundlagen mischen sich zunehmend Stimmen, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit ideologischen Deutungen überlagern. Ein Beispiel dafür liefert ein jüngst erschienender MDR-Artikel, in dem Prof. Heinz-Jürgen Voß von der Hochschule Merseburg die Auffassung vertritt, es gäbe "mehr als zwei Geschlechter": Biologe und Sexualforscher: "Es gibt mehr als zwei Geschlechter"
 
Die IG Sexualbiologie hat bereits mehrfach klargestellt, dass Geschlecht biologisch eindeutig über Anisogamie definiert ist – also über die Produktion von großen (Eizellen) bzw. kleinen (Spermien) Geschlechtszellen. Diese klare Zweiteilung bildet die Basis für geschlechtliche Fortpflanzung und ist nicht variabel. Dennoch behauptet Voß, die Binarität sei biologisch nicht haltbar – eine These, die einer kritischen Überprüfung aus naturwissenschaftlicher Perspektive nicht standhält.
 

"Es gibt mehr als zwei Geschlechter" 

Voß erklärt im MDR-Interview, die biologische Forschung habe gezeigt, dass "Geschlechtsentwicklung vielfältig" sei und es daher "absurd" wäre, wenn Evolution nur zu zwei Geschlechtern geführt hätte. Diese Argumentation verkennt jedoch die fundamentale Logik der Evolution. Sexuelle Fortpflanzung beruht gerade auf der Spezialisierung zweier Sexualzelltypen. Variationen in der Geschlechtsentwicklung (etwa Störungen der hormonellen Regulation oder genetische Besonderheiten) stellen keine eigenständigen Geschlechter dar, sondern seltene Abweichungen innerhalb der klaren zweigeschlechtlichen Grundstruktur, nicht außerhalb oder dazwischen.

Besonders problematisch ist Voß’ Angabe, rund 1,7% der Bevölkerung seien "intergeschlechtlich". Diese Zahl wird seit Jahren unkritisch in medialen und aktivistischen Kontexten wiederholt, ist aber wissenschaftlich nicht haltbar. Der Mediziner Leonard Sax (2002) zeigte, dass echte "Intersexualität" – also Fälle, in denen das Geschlecht auf chromosomaler, gonadaler und phänotypischer Ebene nicht eindeutig bestimmbar ist – mit etwa 0,018% extrem selten ist (siehe Wie häufig ist "Intersexualität"?). Damit liegt die reale Häufigkeit um den Faktor 100 niedriger als von Voß behauptet.

Auch die von Voß angeführten 4% "divers" aus Umfragen sind kein biologisches Argument, sondern spiegeln Selbstwahrnehmung und soziale Kategorien wider. Subjektive Identitätsangaben lassen sich nicht mit naturwissenschaftlicher Taxonomie verwechseln. Sie sind eine Frage soziokultureller Zuschreibungen, nicht der Biologie.

Ein Blick auf Voß’ wissenschaftlichen Hintergrund verdeutlicht zudem, warum seine Aussagen weniger biologischer Fachmeinungen entsprechen als vielmehr gesellschaftstheoretischen Deutungen. Seine Professur für "Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung" ist an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Hochschule Merseburg angesiedelt. Seine Dissertation erfolgte im Fach Soziologie, seine Forschungsschwerpunkte liegen in Queer Theory, Intersektionalität und sexueller Bildung – nicht in Zoologie, Genetik oder Evolutionsbiologie. Wenn Voß also behauptet, die Biologie habe mehr als zwei Geschlechter nachgewiesen, so handelt es sich nicht um eine naturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern um eine geisteswissenschaftliche Interpretation. Diese ist legitim, sollte jedoch als solche gekennzeichnet werden.

Damit wird klar: Die These "Es gibt mehr als zwei Geschlechter" ist nicht durch biologische Daten gedeckt, sondern entspringt einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Geschlecht. Für die Sexualbiologie bleibt das Geschlecht – trotz aller Variation und Einzelfälle – binär definiert. Wenn also ein Biologe eine solche These vertritt, spricht das nicht für die wissenschaftliche Korrektheit der These, sondern schlicht und ergreifend gegen den Biologen.
 
Heinz-Jürgen Voß ist hierbei kein Einzelfall. Immer wieder finden sich Personen mit biologischer Ausbildung oder Titel, die Thesen vertreten, die mit naturwissenschaftlicher Methodik und den etablierten Ergebnissen der Biologie nicht übereinstimmen. Der akademische Hintergrund wird dabei häufig genutzt, um einer ideologisch oder weltanschaulich motivierten Position vermeintliche Autorität zu verleihen. Weitere prominente Beispiele zeigen, dass ein Abschluss in Biologie keineswegs ein Garant für fachliche Richtigkeit ist.

"Viren gibt es nicht"

Obwohl er promovierter Biologe ist und in der Vergangenheit an Viren geforscht hat, vertritt Stefan Lanka seit Jahren die These, Viren existierten überhaupt nicht, sondern seien lediglich Abbauprodukte von Zellen. Diese Position steht im eklatanten Widerspruch zu hunderttausenden Publikationen aus Virologie, Medizin und Molekularbiologie, die Viruspartikel, deren Genomsequenzen sowie Replikationszyklen detailliert beschreiben und ihre Existenz mittels "Scheininfektion" (Mock-Infektion) nachgewiesen haben. Lankas Zweifel an der Existenz von Viren ist nicht nur wissenschaftlich unbegründet, sondern auch gesellschaftlich gefährlich, da sie Impfskeptikern pseudowissenschaftliche Argumentationsmuster liefert. Hier zeigt sich deutlich: Ein akademischer Abschluss in Biologie schützt nicht vor der Verbreitung biologisch falscher Behauptungen. 

"Am 6. Tag schuf Gott der intelligente Designer die Grundtypen"

Ein ähnliches Muster findet sich bei Siegfried Scherer, Biologe mit Schwerpunkt in molekularer und mikrobieller Ökologie, und Reinhard Junker, der u.a. Biologie für das Lehramt an Gymnasien studierte. Ihr gemeinsames Wirken in der evangelikalen "Studiengemeinschaft Wort und Wissen" ist geprägt von der Verteidigung eines kreationistischen Weltbildes, das unter dem Label "Intelligent Design" vermarktet wird. Anstatt evolutionsbiologische Erkenntnisse anzuerkennen, versuchen sie, die Entstehung biologischer Komplexität durch einen "intelligenten Designer" zu erklären und dem christlichen Schöpfungsmythos im Biologieunterricht zumindest genauso viel Raum einzuräumen, wie der Tatsache Evolution. Diese Argumentation widerspricht jedoch der modernen Evolutionsbiologie und bedient sich selektiver Darstellungen, die von der Fachwissenschaft längst widerlegt wurden. Auch hier zeigt sich: Selbst naturwissenschaftlich ausgebildete Personen können aus offenbar weltanschaulichen Gründen Positionen vertreten, die mit den Methoden und Ergebnissen der Naturwissenschaften kaum bis gar nicht vereinbar sind. 

"Wasser hat ein Gedächtnis"

Ein besonders prominentes Beispiel liefert der französische Virologe Luc Montagnier (1932-2022), der 2008 gemeinsam mit Françoise Barré-Sinoussi den Nobelpreis für die Entdeckung des HI-Virus erhielt. Während er in seiner aktiven Forschungszeit noch höchste Anerkennung genoss, geriet er später durch Aussagen und Publikationen in die Nähe der Homöopathie. Montagnier sprach davon, dass Wasser ein "Gedächtnis" haben könne – eine Hypothese, die als pseudowissenschaftliche Grundlage der Homöopathie gilt. In Vorträgen und Interviews stellte er infrage, dass homöopathische Präparate völlig wirkungslos seien, und öffnete damit Homöopathie-Verteidigern die Tür, sich auf seine Autorität zu berufen. Fachlich fanden seine Behauptungen jedoch keine Bestätigung: Reproduzierbare Evidenz blieb aus, und seine Thesen wurden von der wissenschaftlichen Gemeinschaft scharf kritisiert. Der Fall Montagnier verdeutlicht, wie selbst ein Nobelpreisträger mit exzellenter Reputation in ein pseudowissenschaftliches Fahrwasser geraten kann und damit zeigt, dass akademische Meriten allein keine Garantie für die Richtigkeit späterer Aussagen sind.

Fazit

Die Beispiele von Voß, Lanka sowie Scherer & Junker und schließlich Montagnier verdeutlichen, dass biologische Fachbegriffe und wissenschaftliche Autorität nicht selten für weltanschauliche oder politische Zwecke instrumentalisiert werden. Ob es sich um die Konstruktion angeblich "vielfältiger" Geschlechter, die Bezweiflung der Existenz von Viren, den Versuch, Schöpfungsglauben als Wissenschaft darzustellen oder die pseudowissenschaftliche Aufwertung der Homöopathie handelt – in allen Fällen werden naturwissenschaftliche Erkenntnisse verfälscht oder ignoriert.
 
Während allerdings die Thesen von Lanka, Scherer, Junker oder auch Montagnier zwar medial Aufmerksamkeit erzeugten, aber im Mainstream nie ernsthaft Fuß fassen konnten, verhält es sich im Fall von Heinz-Jürgen Voß anders. Seine Deutungen zu Geschlecht finden nicht nur regelmäßig Eingang in öffentlich-rechtliche Medien, sondern sind sogar in Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung präsent. Dort wird die angeblich überholte "Binarität von Mann/Frau" als wissenschaftliche Erkenntnis ausgegeben:

LSBTIQ-Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung (Abgerufen am 06.04.2025)
 
Gerade hierin liegt die eigentliche Gefahr: Während klassische "Schwurbel"-Thesen von der Fachwelt schnell isoliert werden, erreichen die voßschen Interpretationen über institutionelle Kanäle den Eindruck von Seriosität und dringen tief in öffentliche Bildungs- und Meinungsprozesse ein. Für eine seriöse Sexualbiologie bleibt jedoch entscheidend, dass biologische Fakten von ideologischen Deutungen sauber getrennt werden. Nur so kann die Diskussion auf einer soliden wissenschaftlichen Basis geführt werden.

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