Mittwoch, 9. Juli 2025

Stellungnahme zur Debatte um Abtreibung und Menschenwürde

Anlässlich der anstehenden Wahl von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht sehen wir uns als Interessengemeinschaft Sexualbiologie veranlasst, zur öffentlichen Debatte über Abtreibung, Menschenwürde und Lebensschutz Stellung zu nehmen. Die Auseinandersetzung um die juristischen Positionen der Kandidatin zeigt, wie stark weltanschauliche Fragen unsere politische Kultur weiterhin prägen und wie wichtig es ist, dass biologische, nicht religiöse Fakten Grundlage dieser Diskussionen bleiben. Der öffentliche Diskurs rund um die juristischen Positionen der Kandidatin macht deutlich: Es braucht eine sachlich-naturwissenschaftlich fundierte Position, die weder ideologisch noch theologisch motiviert ist, sondern auf einem materialistisch-naturalistischen Menschenbild beruht.

Menschliches Leben beginnt mit der Zygote

Biologisch ist es eindeutig: Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung von Eizelle und Spermium (Syngamie) – also mit der Entstehung der Zygote. Ab diesem Zeitpunkt der Befruchtung (Konzeption) handelt es sich um ein lebendes System der Spezies Homo sapiens, das die gängigen biologischen Kriterien für Leben erfüllt:
  • Stoffwechsel: Die Zygote nimmt Energie auf und verarbeitet diese (zunächst über die mütterliche Umgebung).
  • Wachstum und Entwicklung: Sie beginnt sofort mit der Zellteilung.
  • Reizbarkeit: Sie reagiert auf molekulare Umwelteinflüsse.
  • Reproduktion: Zwar nicht als Individuum, aber sie ist selbst das Resultat einer Reproduktion.
  • Organisation: Sie ist hochgradig organisiert (komplexer Zellaufbau).
  • Homöostase: Sie reguliert ihr inneres Milieu.
  • Evolutionäre Adaptierbarkeit: Sie trägt die genetische Grundlage dafür.
Sie gehört zweifelsfrei zur Spezies Homo sapiens, denn der biologische Artbegriff beruht auf der Fähigkeit zur Fortpflanzung innerhalb der Art und dem typischen Genom dieser Art. Die Zygote trägt das vollständige menschliche Erbgut und ist das erste Stadium eines Menschen.

Besonders bemerkenswert: Rund 50 % aller Zygoten sterben in der ersten Woche nach der Befruchtung ab, meist durch genetisch bedingte natürliche Selektion [1][2]. Der weibliche Körper erkennt nicht lebensfähige oder defekte Embryonen und scheidet sie aus, oft bevor eine Schwangerschaft überhaupt festgestellt wird. Gerade weil dieser Prozess so verlustreich ist, ist jede erhaltene Zygote umso schützenswerter.

Aus einer naturalistischen Perspektive, die sich nicht auf religiöse Dogmen stützt, sondern auf biologisch-materielle Tatsachen, ergibt sich: Was menschlich lebt, verdient Achtung und Schutz. In Anlehnung an Artikel 1 GG ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") sprechen wir uns dafür aus, dass dieser Schutz grundsätzlich ab der Einnistung (Nidation) des frühes Entwicklungsstadiums eines Embryos (Blastozyste) in der Uterusschleimhaut (Endometrium) gelten muss. Diese beginnt am 6. Tag nach der Befruchtung. Dies steht im Einklang mit dem Gedanken, dass Menschenwürde nicht erworben, sondern inherent ist.


Von der Zygote zur Blastozyste – Individuum und Menschenrechte

Ein biologisches Detail, das oft übersehen wird: Eine einzelne Zygote kann sich vor und in seltenen Fällen auch noch während des Blastozystenstadiums aufspalten und so die Grundlage für eineiige (monozygotische) Mehrlinge bilden. Das bedeutet, dass aus einem genetischen Ursprung mehrere individuelle Menschen hervorgehen können. Für uns als IG Sexualbiologie ist das kein Widerspruch bei der Frage nach individuellen Menschenrechten. Menschenrechte knüpfen nicht an ein bestimmtes Entwicklungsstadium oder an die Einmaligkeit des Ursprungs an, sondern an die Tatsache, dass es sich um menschliches Leben handelt. Jeder entstandene Embryo – ob als Einzelwesen oder z. B. als Teil eines Zwillingspaares – ist ein menschliches Individuum und besitzt denselben Anspruch auf Schutz und Würde.
 

Schmerzempfinden und Lebensfähigkeit

Die große Mehrheit medizinischer Fachgesellschaften (etwa das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG)) kommt zu dem Schluss, dass ein Fetus erst ab etwa der 24. Schwangerschaftswoche physiologisch in der Lage ist, Schmerz wahrzunehmen. Ab diesem Zeitpunkt bildet sich die thalamokortikale Verbindung aus, welche für bewusste Schmerzverarbeitung benötigt wird. Vorher fehlen zentrale Strukturen wie funktionale Verbindungen zwischen Thalamus und Kortex [3].

Allerdings legen neuere Studien nahe, dass bereits ab etwa 12 Wochen Teile der thalamischen Projektionen im kortikalen Subplate vorhanden sind – eine primitive Struktur, die sensorische Signale verarbeiten kann. Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2020 argumentiert daher, dass ein "rohes, primitiveres Schmerzempfinden" möglich sei, noch bevor das Großhirn vollständig entwickelt ist [4]. Die IG Sexualbiologie spricht sich deshalb für eine medizinisch-ethische Verpflichtung zur Betäubung im Falle der medizinischen Indikation eines Schwangerschaftsabbruchs nach der 12. Schwangerschaftswoche aus.

Ein weiteres medizinisch relevantes Kriterium ist die sogenannte "extrauterine Lebensfähigkeit", also die Fähigkeit eines Fetus, außerhalb des Mutterleibs zu überleben. Diese liegt in der Regel zwischen der 24. und 26. Woche, ist aber stark von Technik und Einzelfall abhängig. Auch wenn sie ein medizinisch praktikabler Schwellenwert ist, ist sie kein moralisches Absolutum, sondern ein praktisches Orientierungskriterium im Rahmen eines komplexen ethischen Abwägungsprozesses. Manche Stimmen sprechen früheren Entwicklungsstadien sogar den Status des "Lebendigseins" an sich ab, solange sie keinen von der Mutter losgelösten, eigenständigen Stoffwechsel besitzen. Aus biologischer Sicht ist diese Argumentation jedoch unhaltbar. Abhängigkeit von einer spezifischen Umgebung bedeutet nicht "Unlebendigkeit". Darmbakterien brauchen etwa ein anaerobes Milieu, Parasiten einen Wirt und selbst erwachsene Menschen benötigen Sauerstoff und Nahrung von außen – ohne ihre spezifische Umgebung sind sie auch nicht lebensfähig. Dennoch bestreitet niemand ernsthaft ihre Lebendigkeit.

Die Zygote führt davon abgesehen sehr wohl eigene Stoffwechselprozesse durch. Sie steuert Zellteilungen, liest Gene ab, produziert Proteine und organisiert ihre Entwicklung. Das unterscheidet sie grundlegend von toter Materie. Dass sie dabei auf die mütterliche Umgebung angewiesen ist, ist kein Gegenargument zu ihrer Lebendigkeit, sondern entspricht dem Grundprinzip allen Lebens. Denn jedes Lebewesen existiert nur in Interaktion mit seiner Umwelt.

Aus unserer Sicht sind daher weder Schmerzfähigkeit noch die Überlebensfähigkeit in einer für den Organismus untypischen Umwelt geeignete Kriterien, um die grundsätzliche Schutzwürdigkeit eines Menschenlebens zu definieren. Denn sie setzen auf entwicklungsbiologische Willkürschwellen. Die Menschenwürde ist jedoch nicht an Fähigkeiten geknüpft. Wir erkennen an, dass die biologische Kontinuität des Lebens ein objektives Kriterium darstellt – unabhängig von Bewusstsein, Schmerzempfinden oder gesellschaftlicher Nützlichkeit. Die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens beginnt nicht erst mit bestimmten kognitiven Fähigkeiten oder einem entwickelten Nervensystem, sondern mit dem biologischen Anfang des Menschseins.

Religion ist keine Basis für säkulares Recht

Die historische und moralische Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs hat ihre Wurzeln fast ausschließlich im jüdisch-christlich geprägten Menschenbild, insbesondere im Konzept einer "unverfügbaren Seele". Als atheistisch-humanistische Organisation teilen wir diesen theologischen Zugang nicht. Unser ethisches Fundament basiert auf autonomer Selbstbestimmung, Leidvermeidung und wissenschaftlicher Rationalität. Das deutsche Strafrecht (insbesondere § 218 StGB) enthält bis heute Spuren dieses religiösen Ursprungs, obwohl sich unsere Gesellschaft längst pluralisiert hat.

Wir lehnen es ab, die Diskussion um Schwangerschaftsabbruch durch religiös motivierte Moralisierung zu dominieren. Das Konzept einer "Seele" oder "göttlich gestifteten Würde" ist nicht Grundlage unseres Denkens.

Wenn Menschenwürde zur Disposition steht

In einem Beitrag auf gesundheitsrecht.blog diskutiert Brosius-Gersdorf die Möglichkeit, nicht gegen COVID-19 "geimpfte" Personen wegen ihres "krankheitsursächlichen Vorverhaltens" an den Behandlungskosten zu beteiligen, um so einen finanziellen Anreiz für die Impfentscheidung zu schaffen [5]. Diese Argumentation wirft aus unserer Sicht ernsthafte grundethische Fragen nicht nur in Bezug auf das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch hinsichtlich der relativen Bewertung menschlichen Lebens durch ökonomische und leistungsbezogene Raster auf.

Was, wenn man diese Argumentation konsequent weiterdenkt? Entsteht daraus nicht auch die Möglichkeit, werdenden Eltern, die sich bewusst für die Geburt eines Kindes mit diagnostizierter Behinderung entscheiden, künftig die damit verbundenen Gesundheits- und Förderkosten unter dem Argument aufzuerlegen, dass ihre Entscheidung "belastend" für die Solidargemeinschaft sei?

Wir lehnen eine solche Vorstellung natürlich entschieden ab! Unser Anliegen ist es gerade, die absolute Geltung der Menschenwürde unabhängig von biologischer Disposition, kognitiver Leistungsfähigkeit oder Kosten-Nutzen-Kalkülen zu verteidigen. Unser Gedankenexperiment zeigt jedoch, wohin eine Denkweise führen kann, die Menschenwürde relativiert und sie mit vermeintlich rationalen Anreizen oder gesellschaftlichen Zumutbarkeiten verrechnet.

Wir möchten damit keine polemische Gleichsetzung vornehmen, sondern aufzeigen: Wer einmal beginnt, die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens an Bedingungen zu knüpfen, öffnet gefährlichen ethischen Grauzonen Tür und Tor. Insbesondere für eine Kandidatin für das höchste Richteramt zum Schutze der Grundrechte ist eine solche Positionierung – und sei sie nur implizit – aus unserer Sicht untragbar.

Aktuelle Regelung: Ein tragfähiger Kompromiss

Die aktuelle Rechtslage (§ 218a StGB i.V.m. Beratungsregelung) stellt einen politischen Kompromiss zwischen Selbstbestimmungsrecht der Frau und Lebensschutz dar. Aus unserer Sicht ist dieser Kompromiss rechtlich nachvollziehbar. Wenn menschliches Leben mit der Zygote beginnt, dann darf sein Schutz zwar nicht an sozialen, psychischen oder biologischen Entwicklungskriterien relativiert werden. Die derzeitige Regelung stellt aus unserer Sicht dennoch einen klugen, ethisch tragfähigen Kompromiss dar. Sie verpflichtet zur Beratung, erkennt die Konfliktsituation der Schwangeren an und bietet gleichzeitig Schutz für spätere Schwangerschaftsstadien. Diese Regelung reflektiert sowohl die Bedenken von sogenannten Lebensschützern als auch das Recht der Frau auf körperliche Autonomie. Sie ist weder radikal noch beliebig sondern das Resultat einer jahrzehntelangen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

Forschung an Embryonen

Ein Spannungsfeld, das wir als IG Sexualbiologie ausdrücklich anerkennen, betrifft die Nutzung von Embryonen in der biomedizinischen Forschung etwa im Rahmen der Stammzellforschung oder der reproduktionsbiologischen Grundlagenforschung. Anders als im Bereich der Reproduktionsmedizin sehen wir diese Forschung nicht per se als ethisch problematisch, obwohl sie die Verwendung und in vielen Fällen die Zerstörung von menschlichen Embryonen einschließt. Wie lässt sich das mit unserer grundsätzlichen Haltung vereinbaren, dass menschliches Leben (auch im frühesten Stadium) prinzipiell schützenswert ist? 

Wir möchten diesen Zielkonflikt nicht verschweigen. Es handelt sich um einen klassischen ethischen Dilemma-Fall, in dem zwei wichtige Werte in Spannung stehen: Der Schutz des frühen Lebens gegenüber des medizinischen Fortschritts zum Wohle vieler Menschen, etwa bei der Behandlung genetischer Erkrankungen.

Wenn Forschung an Embryonen unter strengen rechtlichen, wissenschaftlichen und ethischen Auflagen erfolgt, transparent und zweckgebunden ist und nicht beliebig oder kommerziell instrumentalisiert wird, kann sie trotz des bestehenden Lebensschutzes vertretbar sein. Ähnlich wie bei Organspenden nach dem Tod ist hier ein bewusster Eingriff in die Integrität eines Menschenlebens nur unter besonderen Bedingungen ethisch legitimierbar.

Wir sehen diesen Bereich nicht als Freibrief für die Verzwecklichung embryonalen Lebens, sondern als sorgsam abzuwägendes Sonderfeld. Es besteht ein Unterschied zwischen der gezielten Erzeugung und Verwerfung menschlichen Lebens zur Vermeidung von Verantwortung (z. B. in einem laxer werdenden Abtreibungsrecht) und der verantwortungsvoll begründeten Nutzung bereits nicht entwicklungsfähiger oder überzähliger Embryonen zu heilungsorientierten Forschungszwecken.

Fazit

Die IG Sexualbiologie plädiert für einen nicht-religiösen, aber lebensfreundlichen Ethikbegriff. Menschliches Leben beginnt biologisch mit der Syngamie. Dies ist der objektive Anfang der menschlichen Existenz und verdient darum Schutz, unabhängig von Bewusstsein oder Schmerzfähigkeit. Aus dieser naturalistisch-materialistischen Sichtweise ergibt sich, dass der Schutz jedes einzelnen menschlichen Lebens selbst im frühesten Stadium ab der Nidation mit der gleichen Ernsthaftigkeit betrachtet werden muss wie in späteren Entwicklungsphasen. Nur so kann die Forderung von Artikel 1 GG in letzter Konsequenz eingelöst werden.
 
Wir erkennen jedoch die gesellschaftliche Realität von Schwangerschaftskonflikten genauso an, wie den Wert embryonalen Lebens in der Forschung, und befürworten daher eine Beibehaltung der aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen nach § 218 und § 218a StGB.
 

Quellen

[1] Allen J Wilcox, Quaker Harmon, Kevin Doody, Don P Wolf, Eli Y Adashi, Preimplantation loss of fertilized human ova: estimating the unobservable, Human Reproduction, Volume 35, Issue 4, April 2020, Pages 743–750, https://doi.org/10.1093/humrep/deaa048
 
[2] Benagiano G, Farris M, Grudzinskas G. Fate of fertilized human oocytes. Reprod Biomed Online. 2010 Dec;21(6):732-41. doi:10.1016/j.rbmo.2010.08.011
 
[3] Lee SJ, Ralston HJP, Drey EA, Partridge JC, Rosen MA. Fetal Pain: A Systematic Multidisciplinary Review of the Evidence. JAMA. 2005;294(8):947–954. doi:10.1001/jama.294.8.947
 
[4] Derbyshire SW, Bockmann JC. Reconsidering fetal pain. Journal of Medical Ethics 2020;46:3-6. doi:: 10.1136/medethics-2019-105701

[5] Brosius-Gersdorf/Friedlein, Gesundheitsrecht.blog Nr. 9, 2023, S.

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