Samstag, 16. August 2025

Überraschende Häufigkeit von Sex Reversal bei Wildvögeln

Bild von Manfred Richter auf Pixabay
Dass Konsekutivzwitter ihr Geschlecht im Laufe des Lebens verändern können, ist bekannt. Bei Vögeln wurde ein solcher Wechsel des funktionalen Geschlechts noch nie dokumentiert. Bei ihnen tritt jedoch ein Phänomen der sogenannten "Geschlechtsumkehr" (Sex Reversal) auf, bei welchem die genetisch vorgezeichnete Geschlechtsentwicklung in Richtung des jeweils anderen Geschlechts umgedreht wird. Dieses Phänomen wurde bereits in den "Goldenen Zwanzigern" experimentell an Haushühnern erforscht. Bei wildlebenden Vögeln wurde es hingegen bislang äußerst selten beobachtet.

Doch nun sorgt eine neue Studie in Biology Letters für Aufsehen [1]. Erstmals wurde in großem Umfang dokumentiert, dass freilebende Vögel deutlich häufiger von Sex-Reversal-Prozessen betroffen sein können, als bislang angenommen.

Ca. 5 % der untersuchten Vögel zeigten Sex Reversal

Clancy A. Hall und Kollegen untersuchten fast 500 australische Wildvögel nach ihrem Ableben in Wildtier-Kliniken und stießen dabei auf erstaunliche Ergebnisse, die nicht nur für die Biologie, sondern auch für den Natur- und Artenschutz weitreichende Konsequenzen haben. Die Analyse umfasste u. a. Jägerlieste (Dacelo), Regenbogenloris (Trichoglossus moluccanus) und Flötenkrähenstare (Gymnorhina tibicen). Bei etwa 3-6 % der untersuchten Individuen passten die gonadalen und morphologischen Merkmale des Geschlechts nicht mit der Chromosomenstruktur überein.

Besonders auffällig: 92 % der Fälle betrafen ZW-Individuen (also diejenigen mit einer typisch weiblichen Chromosomenstruktur), die männliche Fortpflanzungsorgane ausgebildet hatten. Ein spektakulärer Einzelfall war ein Jägerliest (engl. Kookaburra) mit einer typisch männlichen Chromosomenstruktur (ZZ-Chromosomen), der einen funktionsfähigen weiblichen Eileiter besaß – ein Hinweis darauf, dass das Tier kürzlich ein Ei gelegt haben könnte.

Umweltfaktoren im Verdacht

Warum es zu diesen Veränderungen kommt, ist bislang ungeklärt. Von den Forschern in Betracht gezogen werden hormonaktive Umweltchemikalien, die den Hormonhaushalt der Vögel beeinflussen können, Stress sowie die Ernährung in peri-urbanen und landwirtschaftlich geprägten Lebensräumen. Auch natürliche Mechanismen wie Temperatureinflüsse während der Embryonalentwicklung werden von ihnen diskutiert.

Dass solche Prozesse bei wildlebenden Vögeln bislang kaum dokumentiert waren, macht die Befunde umso brisanter und eröffnet ein neues Forschungsfeld. Die Geschlechterverhältnisse in Populationen könnten anders sein, als bisher durch Feldstudien angenommen. Bislang übliche Methoden der Geschlechtsbestimmung (z. B. Federfärbung, Verhalten oder genetische Tests) müssen kritisch hinterfragt werden, da sie fehlerhaft sein könnten. Die neuen Erkenntnisse deutet ferner darauf hin, dass der Fortpflanzungserfolg der Vögel beeinflusst werden könnte, was Folgen für den Bestand einzelner Arten impliziert. Wenn Populationen kleiner oder bedroht sind, könnte eine verschobene Geschlechterbalance den Erhalt zusätzlich erschweren.

Zwischen Biologie und gesellschaftlicher Debatte

Die Berichterstattung über diese Studie zeigt, wie schnell wissenschaftliche Ergebnisse in der Öffentlichkeit verzerrt werden können. So titelte etwa der Spiegel: "Vögel wechseln ihr Geschlecht wohl häufiger als angenommen". Diese Formulierung ist aus naturwissenschaftlicher Sicht irreführend. "Wechseln" suggeriert einen aktiven Prozess, wie man ihn etwa bei bestimmten Fischen kennt. In Wirklichkeit handelt es sich beim Sex Reversal von Vögeln um Entwicklungsabweichungen. Die Vögel "wechseln" ihr Geschlecht also nicht von einem zum anderen, sondern entwickeln dieses von Anfang an anders, als es die Chromosomen erwarten lassen.

"Häufiger als angenommen" klingt außerdem nach einer grundsätzlich erwarteten Regelmäßigkeit. Tatsächlich lag die Häufigkeit in dieser Untersuchung nur bei rund 5 % der Individuen. Das ist biologisch bemerkenswert, aber keineswegs die Norm. Gerade bei sensiblen Themen wie Sexualbiologie ist eine sachlich exakte Kommunikation entscheidend. Unsaubere Formulierungen tragen sonst dazu bei, dass wissenschaftliche Befunde für ideologische Deutungen instrumentalisiert werden.

Fazit

Dass Sex Reversal bei Vögeln in freier Wildbahn vorkommt, zwingt Forscher dazu, vertraute Annahmen zu überdenken und neue Fragen zu stellen: Welche Umweltfaktoren sind beteiligt? Welche Arten sind besonders anfällig? Und welche Rolle spielt der Mensch dabei? Für die Sexualbiologie eröffnet sich damit ein spannendes neues Kapitel.

Quellen

[1] Hall Clancy A., Conroy Gabriel, Jelocnik Martina, Kasimov Vasilli, Gillet Amber, Portas Timothy, Hill Andrew and Potvin Dominique A. 2025Prevalence and implications of sex reversal in free-living birdsBiol. Lett.2120250182. http://doi.org/10.1098/rsbl.2025.0182

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