Der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland e. V. (VBIO) veröffentlichte vor wenigen Tagen ein Meldung in der Rubrik "Aktuelles aus den Biowissenschaften" mit dem Titel "Das Geschlecht des Körpers: Warum unsere Organe kein einfaches männlich oder weiblich kennen". Der Beitrag bezieht sich auf einen kürzlich in der digitalen Fachzeitschrift 'eLife' veröffentlichten Forschungsartikel von Xie, Künzel und Tautz [1]. Darin wird untersucht, wie sich Gene, die geschlechtsspezifisch aktiv sind ("sex-biased gene expression"), in verschiedenen Organen von Mäusen und Menschen unterscheiden. Die Autoren zeigen, dass viele somatische Organe – also jene jenseits der Fortpflanzungsorgane – überlappende Muster solcher Genaktivität aufweisen. Das bedeutet: Nicht jedes Organ spiegelt die Genetik des jeweiligen Geschlechts gleich stark wider.
Der populärwissenschaftlich aufbereitete News-Beitrag des VBIO zieht daraus den Schluss, man solle "den Körper als ein Mosaik geschlechtlicher Merkmale verstehen", statt von einer "strikten Binarität" zu sprechen. Doch diese Formulierung vermischt biologische Ebenen und führt zu einem Kategorienfehler, der in der öffentlichen Wahrnehmung mehr Verwirrung als Erkenntnis stiftet.
Was die Studie tatsächlich zeigt
Die Primärquelle selbst ist methodisch solide und erweitert unser Wissen über geschlechtsspezifische Genexpression. Xie et al. (2025) analysierten Transkriptome verschiedener Organe von Mäusen und Menschen, also die Gesamtheit aktiver Gene in Zellen. Sie entwickelten einen sogenannten "sex-biased gene expression index" (Sex-Bias-Index; SBI), der die Gesamttendenz eines Organs zu "männlich" oder "weiblich" aktiver Genexpression zusammenfasst. In Gonaden (Hoden, Eierstöcken) ist die Trennung klar binär. In somatischen Organen (z. B. Herz, Leber, Niere) existieren graduelle Unterschiede mit Überlappungen. Diese Muster sind zudem evolutiv dynamisch, also zwischen Arten und Individuen variabel. Die Studie beschreibt also kurz gesagt die Varianz geschlechtsspezifischer Genaktivität im Körper.
Im Paper heißt es explizit: "The usual narrative for sex-related differences between individuals is based on binary gametic sex […] Such a binary distinction is a hallmark of most sexually reproducing species" ("Die übliche Erklärung für geschlechtsbezogene Unterschiede zwischen Individuen basiert auf dem binären Geschlechterverhältnis der Gameten […] Eine solche binäre Unterscheidung ist ein Kennzeichen der meisten sich sexuell fortpflanzenden Arten")
Das binaritätstiftende Prinzip (Gametentypen) wird demnach nicht infrage gestellt. Die Autoren differenzieren aber zwischen dieser fundamentalen biologischen Binarität und den variablen Ausdrucksmustern geschlechtsspezifischer Gene in den verschiedenen Körpergeweben. Das ist ein klassischer Ebenenwechsel – von Sexus (Gametenebene, reproduktive Biologie) zu somatischer Regulation und Phänotypen. Problematisch ist, dass dieser Ebenenwechsel nicht ausdrücklich kommuniziert wird. Für Fachleute als Zielgruppe wissenschaftlicher Paper ist das im Grunde genommen auch gar nicht nötig, da der Wechsel implizit verständlich ist. Doch gerade die populärwissenschaftliche Aufarbeitung durch den VBIO hätte Missverständnisse vermeiden können, indem "Geschlecht" nicht plötzlich mit Genexpression gleichgesetzt wird, ohne den Ebenenwechsel explizit zu markieren. Das ist eine begriffslogische Unschärfe, die in der öffentlichen Kommunikation erfahrungsgemäß schnell zu falschen Deutungen führt.
Im Abstract des Originalpapers schreiben Xie et al. ferner: "We conclude that adult individuals are composed of a mosaic spectrum of sex characteristics in their somatic tissues that should not be cumulated into a simple binary classification." ("Wir kommen zu dem Schluss, dass erwachsene Individuen aus einem Mosaikspektrum von Geschlechtsmerkmalen in ihren somatischen Geweben bestehen, die nicht in eine einfache binäre Klassifizierung zusammengefasst werden sollten.") Die Forscher beziehen sich also klar auf somatische Merkmalsausprägungen, nicht auf das Geschlecht selbst. Der VBIO-Artikel aber paraphrasiert das so, als betreffe das postulierte Mosaikspektrum das Gesamtkonzept "Geschlecht" und übersieht damit den begrenzten Geltungsbereich der Aussage. Solche Verkürzungen sind typisch für Wissenschaftskommunikation, aber sie erzeugen ein scheinbares Paradox, das in der Originalarbeit gar nicht existiert.
Geschlecht ≠ Genexpression
In der Biologie bedeutet Geschlecht (Sexus; engl. sex) die gametische Kategorie – also die Fähigkeit, kleine Gameten (Spermien) oder große Gameten (Eizellen) zu produzieren. Die Differenzierung zweier Gametentypen ist ein tief verankertes, evolutionär altes Prinzip sexueller Fortpflanzung, das sich mindestens vor 500–800 Millionen Jahren etabliert hat. Von dieser Binarität abgeleitet, aber nicht identisch damit (!), sind phänotypische und molekulare Merkmal wie Geschlechtschromosomen, Hormonspiegel, Körperbau, Verhalten oder eben geschlechtsspezifische Genexpression. Diese Merkmale sind graduell variabel, weil sie von komplexen regulatorischen Netzwerken, Umweltfaktoren und evolutionären Prozessen beeinflusst werden.
Die Variabilität der Genexpression ist dabei aber lediglich eine Folge der geschlechtlichen Binarität, nicht deren Widerlegung. Wer also aus den überlappenden Mustern somatischer Genexpression schließt, das Geschlecht selbst sei ein "Spektrum", verwechselt Ursache und Effekt – ein klassischer Kategorienfehler. Wenn der VBIO schreibt, man solle den "Körper als Mosaik geschlechtlicher Merkmale" verstehen und Geschlecht "nicht als Schublade, sondern als Spektrum", wird der Begriff Geschlecht selbst auf eine molekulare Ebene verschoben, auf der er nicht sinnvoll anwendbar ist. Hier wird ein phänotypisches Ergebnis als Folge des Geschlechts (in diesem Fall das Muster geschlechtsspezifischer Genexpression) mit der ontologischen Grundlage des Geschlechts (Gametenproduktion) verwechselt. Biologisch korrekt wäre: Der Körper zeigt ein Mosaik geschlechtsspezifischer Merkmalsausprägungen. Das Geschlecht als Reproduktionskategorie bleibt dabei binär. Indem diese Differenz verwischt wird, entsteht der Eindruck, das Geschlecht selbst sei "nicht eindeutig", obwohl die Studie das gar nicht in Frage stellt.
SBI: kontinuierliche Variation auf binärem Fundament
Auch der von den Forschern entwickelte "Sex-Bias-Index" basiert methodisch auf der Voraussetzung der Binarität. Er wird berechnet, indem man die mediane Genaktivität zwischen genetisch weiblichen (XX) und genetisch männlichen (XY) Individuen vergleicht. Ohne diese binäre Zuordnung gäbe es überhaupt keine Basis für die Berechnung. Der SBI beschreibt also eine graduelle Differenz innerhalb einer vorgegebenen Zweiteilung, um Varianz zu quantifizieren. Dass die Verteilungen des SBI in manchen Organen überlappen, ist biologisch weder überraschend noch paradox. Solche Überlappungen sind typisch für polygen gesteuerte Merkmale wie etwa Immunreaktionen. Sie belegen, dass phänotypische Dimorphismen statistisch bimodal sind. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sie ursächlich durch ein binäres Geschlechtssystem strukturiert werden. Graduelle Phänotypvariabilität begründet kein "Spektrum" im Sinne des Geschlechts (siehe dazu auch: Warum "Geschlecht" kein Spektrum ist).
Selbst wenn sich also die Verteilungen geschlechtsspezifischer Genaktivität in vielen Organen überlappen und damit keine eindeutige "diagnostische" Bestimmung des Geschlechts einzelner Individuen erlauben, bleibt der populationsbiologische Befund trotzdem weiterhin binär. Denn selbst innerhalb dieser somatischen Variabilität bilden sich zwei klar erkennbare Cluster männlicher und weiblicher Genaktivitätsmuster, die statistisch voneinander unterscheidbar sind. Die Überlappungen betreffen die Streuung innerhalb der Gruppen, aber nicht das Verschwinden der Gruppen selbst. Die Studie zeigt also – paradoxerweise gerade auf jener Ebene, auf der sie eine "Nicht-Eindeutigkeit" betont – dass die Gesamtverteilung der Daten zwei stabile, reproduzierbare Zentren aufweist, die der binären Geschlechterordnung entsprechen. Damit bestätigen die Ergebnisse letztlich die Zweigeschlechtlichkeit selbst auf der molekularen Ebene, statt sie infrage zu stellen.
Ein weiterer interessanter Punkt zeigt sich in der Verteilungsmorphologie mancher Organe, etwa der Hypophyse (Hirnanhangdrüse). Hier liegen die Mittelwerte männlicher und weiblicher Individuen sehr nah beieinander – die sexuelle Differenz erscheint also auf den ersten Blick gering. Doch die Verteilungsformen selbst unterscheiden sich deutlich, wie Figur 7 der Studie zeigt. Während die weibliche Kurve eine schmale, stark konzentrierte Spitze zeigt, ist die männliche Verteilung breiter und flacher. Das weist darauf hin, dass die Genexpression in der weiblichen Hypophyse stärker stabilisiert und selektiv reguliert ist, während sie bei Männchen offenbar größeren Schwankungen unterliegt – möglicherweise, weil die evolutionäre Bedeutung dieser Regulation dort geringer ist. Mit anderen Worten: Ein ähnlicher Mittelwert bedeutet nicht zwangsläufig biologische Gleichheit. Die unterschiedliche Streuung kann ein Signal funktionaler Asymmetrie sein – etwa, dass die hormonelle Präzision der Hypophyse bei Weibchen evolutiv stärker optimiert wurde, während sie bei Männchen stärker variiert, ohne selektiv "bestraft" zu werden. Solche Unterschiede gehen im numerischen Sex-Bias-Index zwangsläufig verloren, sind aber biologisch hoch aufschlussreich.
Auch methodologisch hat der SBI Grenzen: Die Autoren wählen z. B. ein 1.25-fold-change-Kriterium und eine FDR-Schwelle von 0.1. Bei Veränderungsfaktoren in dieser Größenordnung können schon geringfügige Änderungen der Parameter die Verteilungen deutlich beeinflussen – insbesondere bei Geweben mit geringen Differenzen (z. B. Gehirn). Hier denselben Maßstab anzulegen, wie bei deutlich geschlechtsspezifischen Geweben wie den Gonaden, führt logischerweise zu einer Verzerrung zugunsten einer Nicht-Eindeutigkeit. Der statistische Maßstab nivelliert Unterschiede und erzeugt dadurch Befunde, die methodisch, nicht biologisch bedingt sind. Gerade deshalb sollte man die in schwach dimorphen Geweben beobachteten Überschneidungen als Artefakte der Skalierung interpretieren – nicht als Beleg für eine Auflösung der Geschlechtergrenzen. Der SBI kann außerdem nicht trennen, ob Genexpressionsunterschiede funktional relevant sind oder zufällige Variation darstellen. Wenn daraus "eine Auflösung der Geschlechtergrenzen" abgeleitet wird, wird statistische Variation kausal fehlinterpretiert.
Die biologische Reichweite der Ergebnisse ist ebenfalls begrenzt. Das in der Studie verwendete Konzept des SBI ist methodisch an die Geschlechtsorganisation von Säugetieren gebunden – also an eine Klasse von Wirbeltieren, in der das Geschlecht chromosomal (XX/XY-System) determiniert und hormonell ausgeprägt wird. In vielen anderen Tier- und auch Pflanzenlinien existieren jedoch völlig andere Mechanismen der Geschlechtsbestimmung: von ZW/ZZ- und XO-Systemen über temperaturabhängige Determination bis hin zu zwittrigen Fortpflanzungsformen. Dort wäre ein SBI schlicht nicht anwendbar und doch ist das Geschlecht auch in diesen Systemen klar definierbar. Die Befunde aus der Säugetierforschung lassen sich also nicht verallgemeinern, sondern nur innerhalb dieses spezifischen phylogenetischen Rahmens interpretieren.
Evolutionäre Dynamik bedingt keine Auflösung der Geschlechter
Dass sich "sex-biased" Gene schnell verändern und zwischen Arten oder Individuen umschalten können, ist ein spannendes und wichtiges Ergebnis. Doch auch das betrifft nicht die Existenz von Geschlechtern, sondern die Art, wie die beiden Geschlechter ihre somatischen Systeme evolutionär differenzieren. Der Befund zeigt also Flexibilität innerhalb der Geschlechter, nicht deren Aufhebung. Evolution kann die Ausprägung geschlechtsspezifischer Merkmale verändern, aber das Prinzip, dass es zwei Geschlechter gibt, bleibt davon unberührt.
Man kann die Befunde also als Ausdruck einer evolutionären Feinjustierung der geschlechtlichen Ausprägungen verstehen. Evolution verändert fortlaufend, wie sich männliche und weibliche Organismen um ihre jeweilige gametische Rolle herum organisieren – also welche hormonellen, morphologischen oder molekularen Merkmale mit der Produktion von Spermien oder Eizellen korrelieren. Diese Anpassungen optimieren die Funktionsweise des Geschlechtssystems, ohne dessen Grundstruktur zu verändern. Männliche Organismen – definiert durch die Produktion kleiner, beweglicher Gameten – bleiben also auch dann männlich, wenn sich ihre hormonellen oder genetischen Ausdrucksmuster über Generationen hinweg verändern.
Xie et al. argumentieren, "sex-biased expression" in somatischen Organen evolviere schneller als der entsprechende nicht geschlechtsspezifische Genumsatz und sei damit Ausdruck positiver Selektion. Das ist zwar möglich, aber nicht zwingend. Denn alternativ könnte die hohe Fluktuation auch durch hormonelle Drift, kompensatorische Regulation oder zufällige Netzwerkanpassungen erklärt werden. Die Schlussfolgerung einer positiven Selektion wird aus McDonald-Kreitman-Tests abgeleitet, deren Aussagekraft hier begrenzt ist, weil viele untersuchte Gene nicht direkt fitnessrelevant sind. Das ist kein Fehler, aber eine interpretative Überdehnung, die stärker als Hypothese denn als Befund formuliert werden sollte.
Anthropomorphisierung molekularer Muster
Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die sprachliche Rahmung sowohl im Originaltext als auch in der VBIO-Darstellung. Wenn dort etwa formuliert wird, "das Herz eines Mannes könne stärker weiblich geprägt sein als das mancher Frauen", wird eine anthropomorphe Semantik auf rein molekulare Vorgänge übertragen. Gene, Zellen oder Organe sind aber nicht "männlich" oder "weiblich" im eigentlichen biologischen Sinn, sondern zeigen lediglich differenzielle Genaktivität in Abhängigkeit vom genetischen und hormonellen Kontext des Individuums.
Solche Formulierungen sind rhetorisch eingängig, aber biologisch unpräzise – um nicht zu sagen falsch. Sie suggerieren, ein Organ könne eine eigene "Geschlechtsidentität" besitzen. Korrekt wäre zu sagen, dass ein bestimmtes Organ mehr oder weniger stark hormonell oder genetisch beeinflusste Genaktivität zeigt – also funktional differenziert, aber nicht ontologisch "männlich" oder "weiblich" ist. Diese sprachliche Verwischung trägt erheblich dazu bei, dass molekulare Variabilität fälschlich als Auflösung der Geschlechtsbinarität interpretiert wird.
Vernachlässigung der endokrinen Steuerung
Ebenfalls problematisch ist, dass sowohl im VBIO-Artikel als auch in der Primärquelle die hormonelle Steuerungsebene kaum thematisiert wird. Die beobachteten Unterschiede in der Genexpression sind jedoch in hohem Maße sekundäre Effekte hormoneller Regulation. Sexualhormone wie Testosteron, Östrogene und Progesteron wirken über spezifische Rezeptoren in den Zellen und modulieren dort ganze Netzwerke von Genen. Variationen im "Sex-Bias-Index" spiegeln somit meist lokale Unterschiede in Hormonrezeptordichte, Sensitivität oder Zyklusabhängigkeit wider – keine autonome Geschlechtsprägung einzelner Organe.
Wenn diese zentrale endokrine Dimension unberücksichtigt bleibt, entsteht der falsche Eindruck, jedes Organ könne unabhängig vom Gesamtorganismus eine eigene "geschlechtliche Identität" entwickeln.
Fazit
Die Studie von Xie et al. (2025) leistet einen wertvollen Beitrag zur Molekularbiologie geschlechtsspezifischer Variation. Sie zeigt, dass Organe in ihrer Genaktivität kein starres Abbild der Geschlechtschromosomen sind, sondern in unterschiedlichen Graden geschlechtlich geprägt sein können. Das ist ein wichtiger Hinweis für geschlechtsspezifische Medizin, Evolutionsbiologie und Genetik. Doch die Schlussfolgerung, dass das Geschlecht selbst als Spektrum zu verstehen sei, ist biologisch nicht haltbar. Sie beruht auf einer Verwechslung von Ebenen. Die molekulare Variabilität beschreibt Ausdrucksformen des Geschlechts, nicht das Geschlecht selbst.
Oder in einem Satz zusammengefasst: Das Geschlecht ist binär – seine molekularen und phänotypischen Erscheinungsformen sind graduell. Wer diese Ebenen implizit oder explizit vertauscht, begeht einen Kategorienfehler.
Quellen
[1] Chen Xie, Sven Künzel, Diethard Tautz (2025) Fast evolutionary turnover and overlapping variances of sex-biased gene expression patterns defy a simple binary sex classification of somatic tissues eLife 13:RP99602. https://doi.org/10.7554/eLife.99602.4
Transparenzhinweis: Der Autor dieses Beitrags ist Mitglied im VBIO.
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