Mittwoch, 24. September 2025

Wenn Soziologen "Frühsexualisierung" normalisieren

Die Bildungswissenschaftlerin Deevia Bhana und der Soziologe Stefan Lucke veröffentlichten kürzlich in der Soziologie-Fachzeitschrift "Sex & Sexualities" einen Beitrag mit dem Titel "Childhood Sexualities: On Pleasure and Meaning from the Margins" [1]. Die Autoren kritisieren darin, dass die Sexualforschung* Kinder aufgrund "erwachsenenzentrierter/adultistischer Ansätze" fast ausschließlich als verletzlich, unschuldig und schutzbedürftig darstellt. Stattdessen plädieren sie dafür, auch die Dimension von Lust und Begehren im Kindesalter in den Blick zu nehmen.

Der Artikel stützt sich auf feministische, "queere" sowie dekoloniale und damit intersektionale Ansätze. Er argumentiert, dass Kinder schon vor der Pubertät Formen von Begehren erleben, etwa in alltäglichen Spielformen wie Verliebtheitsbekundungen, Küssen auf dem Pausenhof oder Rollenspielen. Diese sozialen Erfahrungen seien nicht nur "Risiken", sondern Ausdruck von Identitätsbildung. Bhana und Lucke sehen darin eine Möglichkeit, marginalisierte Perspektiven zu stärken und die Sexualforschung inklusiver zu gestalten.

Einordnung

Als IG Sexualbiologie betrachten wir diese Thesen mit großer Distanz. Wir teilen die Grundannahme der Autoren ausdrücklich nicht, dass Kinder im präpubertären Stadium bereits "sexuelle Wesen" seien. In der Reproduktionsbiologie wird klar herausgestellt, dass die Pubertät die Phase ist, in der ein Kind die physiologische Fähigkeit zur Fortpflanzung erlangt. Erst mit Einsetzen der hormonellen Achsen – insbesondere des Zusammenspiels von Hypothalamus, Hypophyse und Gonaden – werden Sexualzellen (Gameten) als Grundlage von Sexualität gebildet und sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickelt [2][3]. Lehrbücher wie "Human Reproductive Biology" von Jones & Lopez (2014) betonen, dass Kinder vor der Pubertät biologisch steril sind, da weder Spermien noch reife Eizellen zur Verfügung stehen und die hormonellen Voraussetzungen für Fortpflanzung fehlen [4].

Auch in der Entwicklungspsychologie wird Sexualität überwiegend in der Adoleszenz verortet. Studien zur jugendlichen Sexualentwicklung konzentrieren sich auf Erregung und sexuelle Funktionen, die eng mit biologischer Reifung verbunden sind. So betont Fortenberry (2013), dass Sexualität im eigentlichen Sinn erst mit Beginn der Pubertät sichtbar wird, während die Vorpubertät eine Phase anderer psychischer und sozialer Entwicklungen darstellt [5]. Diese Erkenntnisse werden von weiteren Übersichtsarbeiten bestätigt [6][7].

Sexualität bezeichnet das Vorkommen von Geschlechtsindividuen innerhalb einer Art mit dem Zweck der Fortpflanzung und bedingt vor diesem Hintergrund klar die Reproduktionsfähigkeit. Somit kann erst mit der Geschlechtsreife überhaupt von Sexualität gesprochen werden. Kinder erleben zwar selbstverständlich Nähe, Zuneigung, Bindung und Freude, doch diese Phänomene sind nicht gleichzusetzen mit Sexualität. Wenn Soziologen fordern, "kindliche Lust" in die Sexualitätsforschung einzubeziehen, vermischen sie unseres Erachtens soziale Phänomene mit einem reproduktiv definierten Begriff. Dadurch verwischt die Grenze zwischen präpubertären Entwicklungsstufen und geschlechtsreifer Sexualität, was realwissenschaftlich nicht überzeugt.

Mahnung zur Wahrung des Kinderschutzes

In der realwissenschaftlichen und auch rechtlichen Praxis darf der Apell von Soziologen zur theoretischen Erweiterung von Begriffen niemals zur Lockerung des Schutzes von Kindern führen. Wir warnen davor, dass eine unscharfe oder metaphorische Ausweitung des Sexualitätsbegriffs auf kindliches Sozialverhalten dazu missbraucht werden könnte, gesetzliche Schutzregelungen zu relativieren. Die Arbeit von Bhana & Lucke (2025) liest sich in diesem Kontext wie die akademische Grundlage solcher Bestrebungen.

Studien etwa aus der Psychologie zeigen, dass Lehrkräfte und Eltern zunehmend besorgt sind über die "Sexualisierung von Kindern" — also über Phänomene, bei denen kindliche Unschuld oder kindliche Entwicklung beispielsweise durch mediale Impulse unter Druck geraten [8][9]. Kinder werden heute durch den intensiven Medienkonsum in starkem Maße mit erotischen Inhalten konfrontiert. Dieses frühe Einwirken führt dazu, dass Kinder Verhaltensweisen zeigen, die oberflächlich an "sexuelle" Ausdrucksformen erinnern, obwohl sie biologisch nicht über Sexualität verfügen. Soziologische Forschung nimmt solche Beobachtungen dann oftmals als Beleg, dass Kinder "sexuelle Wesen" seien. In der Folge werden in der "Sexualpädagogik" Forderungen laut, diese vermeintliche kindliche "Sexualität" zu fördern – etwa durch sogenannte "Entdeckungsräume" oder spielerische Formen der Körpererkundung in pädagogischen Einrichtungen. Damit kann jedoch ein Rückkopplungseffekt entstehen: Das Verhalten wird durch Aufmerksamkeit und Förderung verstärkt und anschließend wiederum als empirischer Nachweis für die zugrunde gelegte These interpretiert. Aus Sicht der IG Sexualbiologie ist dies ein problematischer Zirkelschluss. Denn was biologisch keine Sexualität ist, wird über kulturelle Zuschreibungen und pädagogische Praxis erst hervorgebracht und anschließend als "natürliche" Tatsache gedeutet.

Diese Entwicklungen und Verstärkungsmuster heben hervor, wie relevant es ist, zwischen natürlichen Entwicklungsformen (wie Neugier, Körperwahrnehmung, Nachahmung oder sozialer Nähe) einerseits und Sexualität im biologischen Sinne andererseits klar zu unterscheiden.

Fazit

Die Arbeit von Bhana & Lucke (2025) spiegelt eine sozial- und kulturwissenschaftliche Debatte wider, die auf Inklusion zielt. Aus Sicht der IG Sexualbiologie ist jedoch festzuhalten: Kinder sind vor der Pubertät keine Sexualwesen. Sie befinden sich auf dem Weg zur Sexualität, können diese aber noch nicht besitzen, da biologische Reproduktionsfähigkeit als Kernkriterium fehlt. Wir halten es daher für wichtig, den Begriff "Sexualität" präzise zu verwenden und die besondere Phase der Kindheit nicht vorschnell in einen sexualwissenschaftlichen Rahmen zu pressen.

Wir legen daher besonderen Wert darauf, dass in Diskussionen über "kindliche Sexualität" klar unterschieden wird zwischen (a) kindlicher Erfahrung, Emotion, Bindung, Begehren im weitesten soziopsychologischen Sinn innerhalb der eigenen Alterskohorte, (b) Sexualität im biologisch-reproduktiven Sinn und (c) erotischen Handlungen vollzogen von Erwachsenen an Kindern (sadistische Pädophilie nach Richard von Krafft-Ebing).

*gemeint ist hier die sozialwissenschaftliche "Sexologie", die nicht mit der naturwissenschaftlichen Sexualbiologie verwechselt werden darf

Quellen

[1] Bhana, D., & Lucke, S. (2025). Childhood Sexualities: On Pleasure and Meaning from the Margins. Sex & Sexualities, 0(0). https://doi.org/10.1177/30333717251375994

[2] Girsh, E. (Ed.). (2021). Reproductive Puberty. In A Textbook of Clinical Embryology (pp. 8–12). chapter, Cambridge: Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781108881760.003

[3] Bastawros, H. (2023). Human Reproduction: A Clinical Approach.

[4] Richard E. Jones, Kristin H. Lopez, Human Reproductive Biology (Fourth Edition), Academic Press, 2014, ISBN 9780123821843

[5] J. Dennis Fortenberry, Puberty and adolescent sexuality, Hormones and Behavior, Volume 64, Issue 2, 2013, Pages 280-287, ISSN 0018-506X, https://doi.org/10.1016/j.yhbeh.2013.03.007.

[6] Pringle, J., Mills, K. L., McAteer, J., Jepson, R., Hogg, E., Anand, N., & Blakemore, S. J. (2017). The physiology of adolescent sexual behaviour: A systematic review. Cogent Social Sciences, 3(1). https://doi.org/10.1080/23311886.2017.1368858

[7] Clark, D.A., Durbin, C.E., Heitzeg, M.M., Iacono, W.G., McGue, M. and Hicks, B.M. (2020), Sexual Development in Adolescence: An Examination of Genetic and Environmental Influences. J Res Adolesc, 30: 502-520. https://doi.org/10.1111/jora.12540

[8] British Psychological Society (BPS). "Teachers' concern at the sexualization of children." ScienceDaily. ScienceDaily, 8 December 2013.

[9] Office of Communications (Ofcom). Children and Parents: Media Use and Attitudes. 29 March 2023.

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