Samstag, 22. Juni 2024

"Geschlechtsidentität" bei Kiwis?

Sexualität ist kein rein menschliches Phänomen – sie durchzieht das gesamte Reich der eukaryotischen Lebewesen, von einzelligen Algen bis zu komplexen Blütenpflanzen [1]. Doch während wir bei Tieren oft an bewegte Partnerwahl denken, spielt sich bei Pflanzen vieles unsichtbar in den Blütenanlagen ab. Die meisten Pflanzen tragen männliche und weibliche Blüten an einem Individuum oder vereinen beide Geschlechtsorgane sogar in einer Zwitterblüte (Monözie oder Einhäusigkeit). Etwa 5 bis 6 % der Blütenpflanzen trennen die Geschlechter jedoch konsequent auf unterschiedliche Individuen (Diözie oder Zweihäusigkeit) [2]. Genau in diese zweite Kategorie fällt die Kiwi (Actinidia deliciosa). Es gibt bei ihr männliche Pflanzen, die Pollen produzieren, und weibliche Pflanzen, die Früchte tragen. Beide sind aufeinander angewiesen, um sich fortzupflanzen.

Für Evolutionsbiologen und auch in der Landwirtschaft ist es hochinteressant zu verstehen, wie zweihäusige Pflanzen ihr Geschlecht festlegen. Welche Gene entscheiden, ob eine Knospe Staubblätter oder Fruchtblätter bildet? Und wie entstehen solche Mechanismen im Lauf der Evolution? Ein internationales Forschungsteam hat diese Fragen am Beispiel der Kiwi untersucht. Ihre Ergebnisse erzählen nicht nur etwas über die Biologie dieser beliebten Frucht, sondern auch über die Wege, auf denen Evolution Geschlechtertrennung hervorbringt.

Nur zwei Geschlechter

Wie viele andere zweihäusige Pflanzenarten produziert Actinidia deliciosa – anders als z. B. die verwandte Kiwibeere (A. arguta) und andere zwittrige Vertreter aus der Gattung der Strahlengriffel – im Normalfall entweder rein männliche oder rein weibliche Blüten (selbstbefruchtende Zuchtformen wie die Sorte 'Jenny' bestätigen die Regel). Das Geschlecht wird bei ihr genetisch gesteuert, mit XY-Männchen und XX-Weibchen. Das Y-Chromosom bei Pflanzen wie der Kiwi ist evolutionsgeschichtlich noch relativ jung und unterscheidet sich in seiner Struktur deutlich von den Y-Chromosomen bei Tieren. Es zeigt beispielsweise keine ausgeprägte Heteromorphie, das heißt, es lässt sich im Karyotyp meist kaum vom X-Chromosom unterscheiden. Dennoch verhindert diese genetisch klare Geschlechtertrennung, dass sich eine einzelne Pflanze selbst bestäubt.

Doch wie "entscheidet" die Pflanze eigentlich, ob sie als "Er" oder "Sie" durchs Leben geht? Genau dieser Frage widmete sich 2018 ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Takashi Akagi [3]. Die Forscher fanden auf dem Y-Chromosom der Kiwi einen "Weiblichkeits-Blocker" mit dem charmanten Namen "Shy Girl" (SyGI), der die Ausbildung weiblicher Blütenorgane unterdrückt. SyGI ist ein Vertreter der sogenannten Cytokinin Response Regulatoren. Das sind Proteine, die eine wichtige Rolle im Signalweg von Pflanzen spielen. Sie wirken normalerweise wie Schaltzentralen für das Pflanzenhormon Cytokinin, das an zahllosen Entwicklungsprozessen beteiligt ist. Im Fall von SyGI hat die Natur jedoch einen Spezialauftrag erteilt. Es schaltet gezielt jene genetischen Programme ab, die zur Entwicklung des weiblichen Fruchtblatts nötig sind. Aus einer potenziell zwittrigen Blüte wird dadurch eine rein männliche.

Die Entstehungsgeschichte dieses "Weiblichkeits-Stopps" ist ein Paradebeispiel für evolutionäre Anpassung. Vor rund 20 Millionen Jahren ereignete sich im Vorfahren der Kiwi eine Genduplikation. Eine Kopie eines ganz normalen Cytokinin-Regulators entstand und durfte fortan frei "experimentieren". Über Millionen Jahre veränderten sich Funktion und Aktivitätsmuster, bis aus dem harmlosen Doppelgänger ein gezielter Unterdrücker weiblicher Merkmale wurde. Dieses neue SyGI landete auf dem Y-Chromosom, wo seine Karriere als Schlüsselfigur der Kiwi-Geschlechtsbestimmung begann. SyGI arbeitet dabei nicht allein. Weitere Studien zeigten, dass die Kiwi zwei Y-Chromosom-Gene besitzt, die Hand in Hand arbeiten – eines, das die weibliche Funktion unterdrückt (SyGI), und ein weiteres, das die männliche Funktion aktiv fördert: "Friendly Boy" (FrBy) [4]. Dieses genetische Duo sorgt dafür, dass aus einer männlichen Kiwi auch wirklich ein Pollenproduzent wird, während weibliche Pflanzen, denen SyGI fehlt, ungehindert Fruchtanlagen bilden können.

Die Forschungen von Akagi und Kollegen liefert damit nicht nur einen faszinierenden Einblick in die genetische Mechanik der Kiwi-Sexualität, sondern auch ein wichtiges Beispiel dafür, wie neue biologische Funktionen entstehen. Genduplikationen gelten als eine der wichtigsten Triebfedern der Evolution. Sie schaffen überzählige Kopien, die im Lauf der Zeit neue Aufgaben übernehmen können – in diesem Fall die Geschlechtertrennung einer ganzen Pflanzenlinie. Abseits der reinen Neugier birgt dieses Wissen auch praktische Chancen. Wer versteht, wie Kiwi-Geschlechter genetisch gesteuert werden, könnte in der Züchtung gezielter beeinflussen, ob eine Pflanze männlich oder weiblich wird, was von hoher wirtschaftlicher Bedeutung ist, da nur weibliche Pflanzen Früchte tragen.

Wissenschaftskommunikation im Spannungsfeld der Identitätspolitik

Leider kommt auch dieser spannende Forschungsbericht nicht ohne Querverweis auf den Kulturkampf aus. Plantae, die internationale Online-Plattform der American Society of Plant Biologists (ASPB), widmet sich der Pflanzenwissenschaft in all ihren Facetten. Sie bietet Wissenschaftlern und interessierten Laien u. a. Zugang zu Fachartikeln und populärwissenschaftlichen Zusammenfassungen. Neben wissenschaftlich begutachteten Inhalten erscheinen dort also auch Artikel, die aktuelle Publikationen kurz und verständlich vorstellen.

So auch die hier besprochene Arbeit zur Geschlechtsbestimmung bei der Kiwi. Die Überschrift der Plantae-Zusammenfassung lautet: "Gender Identity in Kiwifruit". Zu Deutsch also "Geschlechtsidentität der Kiwifrucht". Diesen Titel darf man mit einem Augenzwinkern lesen. Im Alltagsgebrauch meint "Geschlechtsidentität" bekanntlich das innere Geschlechtsempfinden eines Menschen und damit ein Konzept, das bei Pflanzen schlicht nicht existiert. Die Geschlechtertrennung bei Kiwis ist kein Akt eines Bewusstseins, sondern das Ergebnis genetischer und entwicklungsbiologischer Prozesse. Hier beschreibt "Identität" eher den identifizierbaren Geschlechtszustand – also im weitesten Sinne die physische Geschlechterrolle, nicht die psychische.

In der Biologie, insbesondere in der Botanik, wird der Begriff "Gender" ganz a-sozial verwendet, um nüchtern die Ausbildung von Geschlechtsindividueen zu bezeichnen. Er findet sich zum Beispiel in der sogenannten "Gender Ratio" – also dem Verhältnis männlicher zu weiblicher Fortpflanzungsakteure in einer Population (mehr dazu: Was bedeutet "Gender" aus biologischer Sicht?). Der Plantae-Titel nutzt diese Doppeldeutigkeit spielerisch, um Neugier zu wecken und den Einstieg in ein ansonsten sehr molekularbiologisches Thema zu erleichtern. Im Originalpaper von Akagi et al. (2018) ist dagegen von einer "Geschlechtsidentität" keine Rede. Dort steht präzise die genetische Grundlage der Geschlechtsdetermination im Mittelpunkt. 

Diese molekularbiologischen Erkenntnisse rund um die Kiwi wurden im Sommer 2022 jedoch Teil des Kulturkampfes: Ein Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin erregte hitziger Debatten um Geschlecht, Wissenschaftsfreiheit und Aktivismus. Vollbrecht griff in ihrem allgemeinverständlichen Vortrag den Plantae-Artikel auf, um zu erklären, dass biologische Geschlechtsbestimmung bei Pflanzen – ebenso wie bei Tieren – auf klar definierten Mechanismen beruht: "Die Kiwi hat keine Gender-Identität, sie hat ein Sex." Aus diesem wissenschaftlichen Fakt wurde im öffentlichen Diskurs jedoch schnell ein Politikum. Aktivisten warfen Vollbrecht Transfeindlichkeit vor, Unterstützer feierten sie als Stimme des gesunden Menschenverstands. Der eigentliche wissenschaftliche Inhalt – die spannende Entdeckung von SyGI und FrBy als genetische Schalter des Kiwi-Geschlechts – geriet dabei vollständig in den Hintergrund.

Für die Biologie bleibt festzuhalten: Kiwis sind keine politischen Symbole, sondern lebendige Beispiele dafür, auf welche vielfältige Weise die Evolution Geschlechter organisiert.

Quellen

[1] D. Speijer, J. Lukeš, & M. Eliáš, Sex is a ubiquitous, ancient, and inherent attribute of eukaryotic life, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 112 (29) 8827-8834, https://doi.org/10.1073/pnas.1501725112 (2015).

[2] Renner, S.S. (2014), The relative and absolute frequencies of angiosperm sexual systems: Dioecy, monoecy, gynodioecy, and an updated online database†. American Journal of Botany, 101: 1588-1596. https://doi.org/10.3732/ajb.1400196

[3] Takashi Akagi, Isabelle M. Henry, Haruka Ohtani, Takuya Morimoto, Kenji Beppu, Ikuo Kataoka, Ryutaro Tao, A Y-Encoded Suppressor of Feminization Arose via Lineage-Specific Duplication of a Cytokinin Response Regulator in Kiwifruit, The Plant Cell, Volume 30, Issue 4, April 2018, Pages 780–795, https://doi.org/10.1105/tpc.17.00787

[4] Akagi, T., Pilkington, S.M., Varkonyi-Gasic, E. et al. Two Y-chromosome-encoded genes determine sex in kiwifruit. Nat. Plants 5, 801–809 (2019). https://doi.org/10.1038/s41477-019-0489-6

Sonntag, 9. Juni 2024

Kommentar zur Quarks-Sendung "Intersexualität: Warum es mehr als zwei Geschlechter gibt"

In einer Sendung des ARD-Wissenschaftsformats "Quarks" mit dem Titel "Intersexualität: Warum es mehr als zwei Geschlechter gibt" moderiert Mai Thi Nguyen-Kim eine Thematik, die eigentlich einer differenzierten und fachlich korrekten Darstellung bedürfte:


Die Sendung fällt stattdessen jedoch durch semantische Unschärfen, wissenschaftlich fragwürdige Aussagen und eine Vermischung biologischer und gesellschaftspolitischer Konzepte auf. Biologisch betrachtet – und das ist hier entscheidend – ist das Geschlecht nicht beliebig interpretierbar, sondern klar definiert.

Geschlecht ist binär

Die naturalistische Biologie kennt nur zwei Geschlechter. Diese Definition beruht (insbesondere bei der in der Quarks-Sendung diskutierten Biospezies Homo sapiens) auf einem fundamentalen Prinzip der Fortpflanzung: Anisogamie

Das männliche Geschlecht ist potenziell darauf ausgelegt, bewegliche Mikrogameten (Spermien) zu produzieren, während das weibliche Geschlecht unbewegliche, aber dafür nährstoffreiche Makrogameten (Eizellen) bereitstellt. Diese binäre Unterscheidung ist universell in der sexuellen Reproduktion der Eukaryoten und nicht Gegenstand sozialer Aushandlung oder "kultureller Vielfalt". Es gibt keinen dritten Gametentypus ("Mesogameten") und folglich auch kein Geschlecht abseits der Binarität.

Was Quarks falsch darstellt

Trotz dieses klaren biologischen Fundaments suggeriert die Quarks-Sendung das Bild, dass Geschlecht ein Spektrum sei und dass "Intergeschlechtlichkeit" belege, dass die Zweigeschlechterordnung biologisch überholt sei.

Dies ist wissenschaftlich nicht haltbar! Die sogenannte "Intersexualität" (korrekt: Störungen der Geschlechtsentwicklung; Disorders of Sex Development (DSD)) ist kein drittes Geschlecht, sondern beschreibt seltene medizinische Konstellationen, bei denen die untergeordneten Kategorien der menschlichen Geschlechtsbiologie (chromosomal, gonadal, genital) nicht eindeutig übereinstimmen.

Faktisch handelt es sich um Ausnahmefälle innerhalb der übergeordneten Geschlechtskategorien "männlich" oder "weiblich", nicht um zusätzliche Kategorien gleichen Ranges.

Dass sowohl die ICD-10 als auch die in Deutschland noch nicht vollständig umgesetzte ICD-11 aus guten Gründen von Störungen sprechen, wird in der Sendung vollständig ignoriert. Stattdessen wird behauptet, "Intersexualität" sei etwas ganz Natürliches, was am Anfang unseres Lebens stünde. Eine Aussage, die nicht nur medizinisch irreführend, sondern auch biologisch falsch ist: Störungen der Geschlechtsentwicklung sind pathologisch, oft mit hormonellen, fertilitätsbezogenen sowie anatomischen Problemen verbunden und daher keine evolutionäre Norm. Deshalb stehen solche Anomalien logischerweise nicht am Anfang einer normalen Geschlechtsentwicklung: Ist "Intersexualität" der Normalzustand?

Begriffliche und biologische Fehlgriffe

In der Sendung bezeichnet sich eine betroffene DSD-Person selbst als "Zwitter". Diese Selbstbezeichnung wird unkommentiert stehengelassen, was aus wissenschaftlicher Sicht hochproblematisch ist. Denn beim Menschen existiert kein Zwitterzustand im biologischen Sinne.

Zwitter (Hermaphrodit) bedeutet wörtlich "Zwei-Geschlechtlichkeit" und beschreibt das evolvierte Vorhandensein beider Fortpflanzungssysteme mit potenziell funktionsfähigen Gameten beider Typen in einem Organismus. Echte Hermaphroditen existieren z. B. bei bestimmten Schnecken, Regenwürmern oder Fischen, was in der Quarks-Sendung zwar thematisiert, jedoch nicht korrekt eingeordnet wird. Bei diesen Tieren ist Zwittrigkeit nämlich eine klare Strategie innerhalb der binären Sexualität. Die Individuen vereinen exakt zwei Geschlechterfunktionen (Ei- und Samenzellenproduktion), aber niemals eine dritte. Der Begriff "Zwitter" ist daher ein Ausdruck der Binarität, nicht ihrer Aufhebung (sonst hieße es "Dritter").

Beim Menschen hingegen gibt es keinen dokumentierten Fall, bei dem ein Individuum gleichzeitig funktionale Ovarien und Hoden besitzt, die beide Gametentypen produzieren. Die sogenannte laterale ovotestikuläre DSD, bei der ein Individuum sowohl Hoden- als auch Eierstockgewebe besitzt, ist davon keine Ausnahme. Denn auch bei dieser DSD entstehen nicht gleichzeitig reife Spermien und Eizellen, sodass auch hier keine echte Zwitterfunktion im biologischen Sinn vorliegt. Dieser "nicht-funktionale Hermaphroditismus des Menschen" stellt daher bloß eine Variation innerhalb pathologischer Entwicklungsstörungen dar und bestätigt letztlich die Regel der binären Gametologie beim Menschen.

DSD-Betroffene zeigen somit Entwicklungsstörungen innerhalb der binären Matrix, aber nicht das gleichzeitige Vorhandensein beider reproduktiver Funktionen. Daher ist die Verwendung des Begriffs "Zwitter" auf den Menschen sachlich falsch und irreführend, was von der Moderatorin hätte klargestellt werden müssen.

Selbst wenn man zumindest die laterale ovotestikuläre DSD als "Zwitterzustand" anerkennen würde, änderte das nichts an der Tatsache, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Denn diese sowie die in der Quarks-Sendung angeführten Beispiele aus dem Tierreich bestätigen nicht die Auflösung, sondern die Existenz und Flexibilität innerhalb der binären Sexualität etwa bei Fischen (wie dem in der Sendung genannten Schafskopf-Lippfisch (Semicossyphus reticulatus)), die ihr Geschlecht zwar wechseln können, aber stets nur zwischen zwei Polen (männlich oder weiblich) und dies explizit ohne Zwischengeschlecht mit einem dritten Gametentypus. 

Auch das macht deutlich: Es gibt keinen dritten Sexus.

Ideologie statt Biologie im Öffentlich-Rechtlichen?

Der Eindruck drängt sich auf, dass die Quarks-Sendung weniger der wissenschaftlichen Aufklärung dient, sondern eher eine politisch-ideologische Agenda verfolgt und diese unter Anscheinswahrung von Wissenschaftlichkeit an die Zuschauer vermittelt. Eine sachliche Auseinandersetzung mit den erheblichen medizinischen, psychologischen und rechtlichen Risiken von "Intersexualität" bleibt ebenso aus, wie jede Form von Kontroverse oder Expertenkritik.

Wissenschaftliche Kommunikation im öffentlich-rechtlichen Rundfunk trägt Verantwortung – insbesondere in sensiblen gesellschaftlichen Debatten. Die Quarks-Sendung zum Thema "Intersexualität" wird dieser Verantwortung aus unserer Sicht nicht gerecht. Statt differenzierter Information liefert sie eine Mischung aus Halbwissen, Begriffsunschärfe und normativem Aktivismus. Eine faktenbasierte Diskussion ist jedoch gerade in Zeiten, in denen wissenschaftliche Klarheit zunehmend ideologischen Narrativen weichen muss, dringend notwendig.

Biologisch gesehen bleibt es dabei: Das Geschlecht ist binär, basierend auf Gameten. Störungen der Geschlechtsentwicklung begründen kein drittes Geschlecht, sondern sind eine medizinisch relevante Anomalie.

Samstag, 1. Juni 2024

Sollten sich Wissenschaftler in gesellschaftliche Debatten einmischen...

...oder riskieren sie dadurch, ihre Rolle zu verlassen und in politischen Aktivismus zu kippen? Diese Frage haben wir uns als IG Sexualbiologie vor allem in der Gründungsphase sehr häufig gestellt und sie wird noch heute intern kontrovers diskutiert.

Wissenschaft bedeutet: Wissen schaffen. Sie beschreibt und erklärt die Welt, sie gibt jedoch nicht vor, wie sie sein soll. Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen deskriptiv und normativ ist zentral für Wissenschaft. Deskriptive Aussagen schildern objektiv, was ist – etwa "Wasser gefriert bei 0 °C" – während normative Aussagen einem Soll folgen etwa: "Wir müssen Wasser bei 0 °C gefrieren lassen". Das Schaffen von Wissen ist also per Definition deskriptiv und liefert keine Orientierung, was "gut" oder "schlecht" ist.

Fakten versus Interpretation

Wissenschaft lebt vom Sammeln und Überprüfen von Fakten. Ein Fakt ist eine empirisch nachprüfbare Aussage über die Welt. Doch sobald wir beginnen, Fakten in größere Zusammenhänge zu stellen, zu bewerten oder gesellschaftlich zu deuten, bewegen wir uns im Feld der Interpretation. Genau hier entsteht ein Raum, in dem verschiedene Sichtweisen nebeneinander existieren können und manchmal auch nebeneinander bestehen müssen.

Interpretationen sind unvermeidlich, denn Menschen erwarten von Wissenschaft mehr als nur Daten. Sie wollen Orientierung. Doch Wissenschaft liefert keine normativen Vorgaben, sondern nur die Bausteine, auf deren Grundlage Politik und Gesellschaft Entscheidungen treffen können. Ein Beispiel: Die Sexualbiologie kann sehr genau beschreiben, wie viele Geschlechter es bei anisogamen Gonochoristen wie dem Menschen gibt und wie anomale Geschlechtsentwicklungen in Form sogenannter "Intersex-Varianten" in diesem Rahmen einzuordnen sind. Diese Fakten sind unbestreitbar. Ob daraus aber ein gesellschaftliches Modell mit zwei, drei oder mehr rechtlich anerkannten Geschlechtskategorien folgen soll, ist keine naturwissenschaftliche, sondern eine politische Entscheidung.

Fakten liefern also den Boden, auf dem argumentiert wird. Doch die Art und Weise, wie diese Fakten in den gesellschaftlichen Diskurs eingeordnet werden, ist immer eine Frage der Interpretation und damit letztlich eine Aufgabe von Politik und Recht, nicht von Wissenschaft.

"Follow the Science"?

Der Slogan "Follow the Science" (zu Deutsch: "Folge der Wissenschaft") wirkt auf den ersten Blick plausibel. Schließlich scheint es naheliegend, politischen Entscheidungen die bestverfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde zu legen. Auch wir sind als humanistisch-naturwissenschaftliche Initiative davon überzeugt, dass realwissenschaftliche Erkenntnisse die geeignetste Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders sind. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass dieser Leitspruch problematisch sein kann – sowohl für die Politik als auch für die Wissenschaft selbst.

Zum einen suggeriert die Formulierung, es gäbe "die eine Wissenschaft" mit "der einen Wahrheit". Das entspricht jedoch nicht der Realität. Wissenschaft ist ein dynamischer Prozess, in dem Hypothesen aufgestellt, überprüft, verworfen oder überarbeitet werden. Unterschiedliche Fachrichtungen oder methodische Zugänge können zu unterschiedlichen, manchmal auch widersprüchlichen Ergebnissen führen. Was wir heute als gesichertes Wissen betrachten, kann morgen bereits durch neue Daten relativiert werden.

Zum anderen enthält der Slogan ein implizites Missverständnis über die Rollenverteilung. Wissenschaft kann nur beschreiben, erklären und Prognosen stellen, sie kann aber nicht entscheiden, welche gesellschaftlichen Ziele wünschenswert oder moralisch geboten sind. Der Literaturwissenschaftler Peter Strohschneider warnte in diesem Zusammenhang vor einem "autoritären Szientismus", der die Illusion erzeugt, komplexe politische Konflikte ließen sich durch bloßes "Befolgen" wissenschaftlicher Ergebnisse auflösen: Das Problem mit „Follow the Science“

Eine Politik, die sich vollständig auf Wissenschaft stützt, würde demnach Gefahr laufen, demokratische Aushandlungsprozesse zu umgehen und damit legitime Wertfragen aus der öffentlichen Debatte zu verdrängen.

Wissenschaft und Politik sind somit zwar eng verflochten, erfüllen aber unterschiedliche Funktionen. Politik muss normative Entscheidungen treffen – auch dort, wo wissenschaftliche Unsicherheit besteht. Wissenschaft wiederum darf nicht den Anspruch erheben, diese Entscheidungen abzunehmen. Kritisch an "Follow the Science" ist daher weniger die Idee, dass Wissenschaft in politische Entscheidungsprozesse einfließen sollte, sondern die Annahme, sie könne selbst eine Art moralischer Kompass sein. Politik bleibt ein Aushandlungsprozess von Interessen und Gemeinwohlvorstellungen. Wenn Wissenschaft diesen Raum überdehnt oder zu diesem Zweck missbraucht wird, überschreitet sie ihre Kompetenzgrenzen.

Wann sich Wissenschaft einmischen sollte

Wissenschaft muss nicht jede politische Entscheidung kommentieren. Politik ist ein normativer Bereich, in dem gesellschaftliche Zielkonflikte ausgehandelt werden. Sie kann sich dabei an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren, sie darf sie aber auch bewusst übergehen. Das mag aus Sicht des "#TeamScience" (zu dem wir uns selber zählen) zwar enttäuschend wirken, ist aber Teil demokratischer Entscheidungsfreiheit. Wenn etwa eine Regierung beschließt, trotz eindeutiger ökologischer Warnungen bestimmte Industrien zu schonen, dann ist das eine politische Entscheidung, keine wissenschaftliche. Aus Sicht der Wissenschaft mag man dies als "ignorant" empfinden, dennoch ist es nicht Aufgabe der Wissenschaft, diese Entscheidung als solche zu bewerten oder gar zu delegitimieren.

Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn wissenschaftliche Fakten verzerrt oder absichtlich falsch dargestellt werden, um eine politische Agenda zu stützen. In solchen Fällen entsteht ein direkter Angriff auf die wissenschaftliche Integrität. Wenn pseudowissenschaftliche Narrative an Einfluss gewinnen, wird nicht nur das Wissen verzerrt, sondern die Freiheit der Wissenschaft als tragende Säulen der Demokratie untergraben. Diese ist im Grundgesetz verankert und schützt die Forschung vor politischer oder ideologischer Bevormundung. Sie zu verteidigen, bedeutet daher keinen politischen Aktivismus, sondern die Wahrnehmung einer demokratischen Pflicht. Genau hier liegt der Punkt, an dem Wissenschaftler ihre Stimme erheben sollten – ja müssen! Nicht etwa, um eine bestimmte politische Richtung vorzugeben, sondern um die korrekte Faktenlage zu verteidigen. Eine Gesellschaft, die Pseudowissenschaft oder verfälschte Daten als Grundlage von Entscheidungen akzeptiert, ist nicht mehr zu rationalen Handlungen fähig. Gerade hochqualifizierte Wissenschaftler an Universitäten sind durch ihren akademischen Eid und ihr Selbstverständnis verpflichtet, sich gegen bewusst falsche Darstellungen von Wissenschaft zu positionieren. Leider beobachten wir bei gesellschaftlich hochbrisanten Themen wie Klimawandel oder COVID-19 vor allem im Elfenbeinturm der Spitzenwissenschaft stattdessen eher einer Mischung aus Ignoranz und Opportunismus.

Ein weiteres, besonders anschauliches Beispiel liefert der aktuelle Kulturkampf im Kontext von Geschlecht und Identität. Wenn eine politische Partei, Regierung oder NGO erklärt: "Wir wissen, dass die Biologie von zwei Geschlechtern ausgeht, wir möchten aber aus Gründen des gesellschaftlichen Miteinanders bestimmte Freiräume schaffen" – dann ist das eine normative Entscheidung, die legitim im Rahmen des politischen Diskurses getroffen werden kann. Ob man sie begrüßt oder kritisiert, ist eine Frage des politischen Streits. Wenn jedoch behauptet wird: "Die Biologie sagt eindeutig, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, und genau deshalb führen wir neue gesellschaftliche Regeln ein", dann ist das eine wissenschaftlich falsche Behauptung, die den Anschein von Legitimität durch verfälschte Fakten erzeugt. Hier hat die Wissenschaft nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, öffentlich klarzustellen, wo die Fakten enden und wo die Interpretation beginnt.

Die Unterscheidung ist also fein, aber entscheidend. Politik darf Fakten übergehen, aber sie darf sie nicht verfälschen. Wissenschaft darf sich nicht in normative Debatten drängen, sie muss jedoch eingreifen, wenn ihre eigenen Grundlagen instrumentalisiert oder verzerrt werden. Nur so kann sie ihre Glaubwürdigkeit und ihre Rolle als verlässliche Quelle von Wissen wahren. Natürlich dürfen sich auch Wissenschaftler in ihrer Rolle als Bürger zu gesellschaftlichen Themen wertend äußern. Die wissenschaftliche Redlichkeit mahnt jedoch, Meinungen als solche zu kennzeichnen.

Mit Blick auf diese Unterscheidung haben sich die Gründungsmitglieder der IG Sexualbiologie die Frage gestellt, ob sie bei diesem Kulturkampf überhaupt mitwirken sollten. Die Antwort ist klar: Wer den Kulturkampf scheut, hat ihn bereits verloren! Um Desinformation über biologische Fakten keinen Raum zu lassen, ist es notwendig, dass Biowissenschaftler Stellung beziehen – insbesondere gegen pseudowissenschaftliche Gender-Theorien, die biologische Wahrheit untergraben. Wir sind uns aber als selbstkritische Skeptiker durchaus bewusst, dass wir uns damit in eine gewisse Grauzone begeben und wir uns die Kernfrage dieses Artikels immer wieder aufs Neue stellen müssen.

Fazit

Wissenschaft ist deskriptiv, nicht normativ. Ihre Aufgabe besteht darin, Wissen zu schaffen – nicht darin, Politik oder Gesellschaft bestimmte Richtungen vorzuschreiben. Sie darf sich deshalb nicht als moralischer Kompass missverstehen. Gleichzeitig hat sie die Pflicht, ihre eigenen Grundlagen zu verteidigen, wenn Fakten verzerrt oder missbraucht werden. Gerade hochqualifizierte Forscher tragen durch ihr akademisches Selbstverständnis eine besondere Verantwortung, sich gegen Pseudowissenschaft und Fehlzitationen zu positionieren.

Das zeigt sich exemplarisch in der Geschlechterdebatte: Politik darf Fakten ignorieren, aber sie darf sie nicht verfälschen. Sobald biologische Forschung falsch interpretiert oder aus dem Zusammenhang gerissen wird, muss "die Wissenschaft" widersprechen. Wer schweigt, riskiert, dass ideologische Narrative die Oberhand gewinnen.

Wie schnell dies geschieht und wie konkret wissenschaftliche Arbeiten wie etwa ein vielzitierter Nature-Artikel fehlinterpretiert werden, haben wir in einem eigenen Blogpost analysiert. Wer tiefer verstehen möchte, wie wissenschaftliche Fakten im Kulturkampf umgedeutet werden, findet hier unseren Beitrag dazu: Warum die Biologie nicht "mehr als zwei Geschlechter" kennt

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