Sexualität ist kein rein menschliches Phänomen – sie durchzieht das gesamte Reich der eukaryotischen Lebewesen, von einzelligen Algen bis zu komplexen Blütenpflanzen [1]. Doch während wir bei Tieren oft an bewegte Partnerwahl denken, spielt sich bei Pflanzen vieles unsichtbar in den Blütenanlagen ab. Die meisten Pflanzen tragen männliche und weibliche Blüten an einem Individuum oder vereinen beide Geschlechtsorgane sogar in einer Zwitterblüte (Monözie oder Einhäusigkeit). Etwa 5 bis 6 % der Blütenpflanzen trennen die Geschlechter jedoch konsequent auf unterschiedliche Individuen (Diözie oder Zweihäusigkeit) [2]. Genau in diese zweite Kategorie fällt die Kiwi (Actinidia deliciosa). Es gibt bei ihr männliche Pflanzen, die Pollen produzieren, und weibliche Pflanzen, die Früchte tragen. Beide sind aufeinander angewiesen, um sich fortzupflanzen.
Für Evolutionsbiologen und auch in der Landwirtschaft ist es hochinteressant zu verstehen, wie zweihäusige Pflanzen ihr Geschlecht festlegen. Welche Gene entscheiden, ob eine Knospe Staubblätter oder Fruchtblätter bildet? Und wie entstehen solche Mechanismen im Lauf der Evolution? Ein internationales Forschungsteam hat diese Fragen am Beispiel der Kiwi untersucht. Ihre Ergebnisse erzählen nicht nur etwas über die Biologie dieser beliebten Frucht, sondern auch über die Wege, auf denen Evolution Geschlechtertrennung hervorbringt.
Nur zwei Geschlechter
Wie viele andere zweihäusige Pflanzenarten produziert Actinidia deliciosa – anders als z. B. die verwandte Kiwibeere (A. arguta) und andere zwittrige Vertreter aus der Gattung der Strahlengriffel – im Normalfall entweder rein männliche oder rein weibliche Blüten (selbstbefruchtende Zuchtformen wie die Sorte 'Jenny' bestätigen die Regel). Das Geschlecht wird bei ihr genetisch gesteuert, mit XY-Männchen und XX-Weibchen. Das Y-Chromosom bei Pflanzen wie der Kiwi ist evolutionsgeschichtlich noch relativ jung und unterscheidet sich in seiner Struktur deutlich von den Y-Chromosomen bei Tieren. Es zeigt beispielsweise keine ausgeprägte Heteromorphie, das heißt, es lässt sich im Karyotyp meist kaum vom X-Chromosom unterscheiden. Dennoch verhindert diese genetisch klare Geschlechtertrennung, dass sich eine einzelne Pflanze selbst bestäubt.
Doch wie "entscheidet" die Pflanze eigentlich, ob sie als "Er" oder "Sie" durchs Leben geht? Genau dieser Frage widmete sich 2018 ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Takashi Akagi [3]. Die Forscher fanden auf dem Y-Chromosom der Kiwi einen "Weiblichkeits-Blocker" mit dem charmanten Namen "Shy Girl" (SyGI), der die Ausbildung weiblicher Blütenorgane unterdrückt. SyGI ist ein Vertreter der sogenannten Cytokinin Response Regulatoren. Das sind Proteine, die eine wichtige Rolle im Signalweg von Pflanzen spielen. Sie wirken normalerweise wie Schaltzentralen für das Pflanzenhormon Cytokinin, das an zahllosen Entwicklungsprozessen beteiligt ist. Im Fall von SyGI hat die Natur jedoch einen Spezialauftrag erteilt. Es schaltet gezielt jene genetischen Programme ab, die zur Entwicklung des weiblichen Fruchtblatts nötig sind. Aus einer potenziell zwittrigen Blüte wird dadurch eine rein männliche.
Die Entstehungsgeschichte dieses "Weiblichkeits-Stopps" ist ein Paradebeispiel für evolutionäre Anpassung. Vor rund 20 Millionen Jahren ereignete sich im Vorfahren der Kiwi eine Genduplikation. Eine Kopie eines ganz normalen Cytokinin-Regulators entstand und durfte fortan frei "experimentieren". Über Millionen Jahre veränderten sich Funktion und Aktivitätsmuster, bis aus dem harmlosen Doppelgänger ein gezielter Unterdrücker weiblicher Merkmale wurde. Dieses neue SyGI landete auf dem Y-Chromosom, wo seine Karriere als Schlüsselfigur der Kiwi-Geschlechtsbestimmung begann. SyGI arbeitet dabei nicht allein. Weitere Studien zeigten, dass die Kiwi zwei Y-Chromosom-Gene besitzt, die Hand in Hand arbeiten – eines, das die weibliche Funktion unterdrückt (SyGI), und ein weiteres, das die männliche Funktion aktiv fördert: "Friendly Boy" (FrBy) [4]. Dieses genetische Duo sorgt dafür, dass aus einer männlichen Kiwi auch wirklich ein Pollenproduzent wird, während weibliche Pflanzen, denen SyGI fehlt, ungehindert Fruchtanlagen bilden können.
Die Forschungen von Akagi und Kollegen liefert damit nicht nur einen faszinierenden Einblick in die genetische Mechanik der Kiwi-Sexualität, sondern auch ein wichtiges Beispiel dafür, wie neue biologische Funktionen entstehen. Genduplikationen gelten als eine der wichtigsten Triebfedern der Evolution. Sie schaffen überzählige Kopien, die im Lauf der Zeit neue Aufgaben übernehmen können – in diesem Fall die Geschlechtertrennung einer ganzen Pflanzenlinie. Abseits der reinen Neugier birgt dieses Wissen auch praktische Chancen. Wer versteht, wie Kiwi-Geschlechter genetisch gesteuert werden, könnte in der Züchtung gezielter beeinflussen, ob eine Pflanze männlich oder weiblich wird, was von hoher wirtschaftlicher Bedeutung ist, da nur weibliche Pflanzen Früchte tragen.
Wissenschaftskommunikation im Spannungsfeld der Identitätspolitik
Leider kommt auch dieser spannende Forschungsbericht nicht ohne Querverweis auf den Kulturkampf aus. Plantae, die internationale Online-Plattform der American Society of Plant Biologists (ASPB), widmet sich der Pflanzenwissenschaft in all ihren Facetten. Sie bietet Wissenschaftlern und interessierten Laien u. a. Zugang zu Fachartikeln und populärwissenschaftlichen Zusammenfassungen. Neben wissenschaftlich begutachteten Inhalten erscheinen dort also auch Artikel, die aktuelle Publikationen kurz und verständlich vorstellen.
So auch die hier besprochene Arbeit zur Geschlechtsbestimmung bei der Kiwi. Die Überschrift der Plantae-Zusammenfassung lautet: "Gender Identity in Kiwifruit". Zu Deutsch also "Geschlechtsidentität der Kiwifrucht". Diesen Titel darf man mit einem Augenzwinkern lesen. Im Alltagsgebrauch meint "Geschlechtsidentität" bekanntlich das innere Geschlechtsempfinden eines Menschen und damit ein Konzept, das bei Pflanzen schlicht nicht existiert. Die Geschlechtertrennung bei Kiwis ist kein Akt eines Bewusstseins, sondern das Ergebnis genetischer und entwicklungsbiologischer Prozesse. Hier beschreibt "Identität" eher den identifizierbaren Geschlechtszustand – also im weitesten Sinne die physische Geschlechterrolle, nicht die psychische.
In der Biologie, insbesondere in der Botanik, wird der Begriff "Gender" ganz a-sozial verwendet, um nüchtern die Ausbildung von Geschlechtsindividueen zu bezeichnen. Er findet sich zum Beispiel in der sogenannten "Gender Ratio" – also dem Verhältnis männlicher zu weiblicher Fortpflanzungsakteure in einer Population (mehr dazu: Was bedeutet "Gender" aus biologischer Sicht?). Der Plantae-Titel nutzt diese Doppeldeutigkeit spielerisch, um Neugier zu wecken und den Einstieg in ein ansonsten sehr molekularbiologisches Thema zu erleichtern. Im Originalpaper von Akagi et al. (2018) ist dagegen von einer "Geschlechtsidentität" keine Rede. Dort steht präzise die genetische Grundlage der Geschlechtsdetermination im Mittelpunkt.
Diese molekularbiologischen Erkenntnisse rund um die Kiwi wurden im Sommer 2022 jedoch Teil des Kulturkampfes: Ein Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin erregte hitziger Debatten um Geschlecht, Wissenschaftsfreiheit und Aktivismus. Vollbrecht griff in ihrem allgemeinverständlichen Vortrag den Plantae-Artikel auf, um zu erklären, dass biologische Geschlechtsbestimmung bei Pflanzen – ebenso wie bei Tieren – auf klar definierten Mechanismen beruht: "Die Kiwi hat keine Gender-Identität, sie hat ein Sex." Aus diesem wissenschaftlichen Fakt wurde im öffentlichen Diskurs jedoch schnell ein Politikum. Aktivisten warfen Vollbrecht Transfeindlichkeit vor, Unterstützer feierten sie als Stimme des gesunden Menschenverstands. Der eigentliche wissenschaftliche Inhalt – die spannende Entdeckung von SyGI und FrBy als genetische Schalter des Kiwi-Geschlechts – geriet dabei vollständig in den Hintergrund.
Für die Biologie bleibt festzuhalten: Kiwis sind keine politischen Symbole, sondern lebendige Beispiele dafür, auf welche vielfältige Weise die Evolution Geschlechter organisiert.
Quellen
[1] D. Speijer, J. Lukeš, & M. Eliáš, Sex is a ubiquitous, ancient, and inherent attribute of eukaryotic life, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 112 (29) 8827-8834, https://doi.org/10.1073/pnas.1501725112 (2015).
[2] Renner, S.S. (2014), The relative and absolute frequencies of angiosperm sexual systems: Dioecy, monoecy, gynodioecy, and an updated online database†. American Journal of Botany, 101: 1588-1596. https://doi.org/10.3732/ajb.1400196
[3] Takashi Akagi, Isabelle M. Henry, Haruka Ohtani, Takuya Morimoto, Kenji Beppu, Ikuo Kataoka, Ryutaro Tao, A Y-Encoded Suppressor of Feminization Arose via Lineage-Specific Duplication of a Cytokinin Response Regulator in Kiwifruit, The Plant Cell, Volume 30, Issue 4, April 2018, Pages 780–795, https://doi.org/10.1105/tpc.17.00787
[4] Akagi, T., Pilkington, S.M., Varkonyi-Gasic, E. et al. Two Y-chromosome-encoded genes determine sex in kiwifruit. Nat. Plants 5, 801–809 (2019). https://doi.org/10.1038/s41477-019-0489-6
