Homosexualität bei Tieren
Am 30. Juli 2025 veröffentlichte das Magazin Stern einen Beitrag mit dem Titel "Homosexualität bei Tieren – ganz gewöhnlich und ganz schön sinnvoll". Der Artikel bietet einen breiten Überblick über gleichgeschlechtliches Verhalten im Tierreich und versucht, dieses nicht nur als biologisches Faktum, sondern auch als potenziell sinnvolle Anpassung darzustellen. Die Beobachtungen reichen von pinguinväterlicher Fürsorge über Koalitionsbildung mit erotisch konnotierten Handlungen bei Delfinen bis hin zu "Leihmutterschaft" bei Trauerschwänen. So vielgestaltig das Thema, so wichtig ist eine differenzierte Betrachtung, zumal sich der Artikel in einem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und gesellschaftlicher Bedeutung bewegt.
Der Artikel ist auf den ersten Eindruck erfreulich weit entfernt von plakativer Vereinnahmung oder aktivistischer Verkürzung. Er betont mehrfach, dass gleichgeschlechtliches Verhalten bei Tieren nicht automatisch mit menschlicher "Homosexualität" (bzw. Homoerotik) gleichgesetzt werden kann, weil es sich oft um Momentaufnahmen, kontextabhängige Strategien oder sozial motivierte Handlungen handelt. Das ist sachlich korrekt und biologisch wichtig. Die federführende GEO-Autorin Franziska Türk vermeidet damit weitgehend einen der zentralen Denkfehler öffentlicher Debatten – den sogenannten naturalistischen Fehlschluss, also die unangemessene Übertragung tierischer Verhaltensweisen auf menschliche Identitätskonzepte und soziale Normen.
Doch trotz dieser erkenntnistheoretischen Zurückhaltung bleibt der Artikel nicht frei von problematischen Tendenzen. Das beginnt bereits mit der Titelzeile. Wenn gleichgeschlechtliches Verhalten als "ganz gewöhnlich und ganz schön sinnvoll" bezeichnet wird, schwingt eine normative Aufwertung mit. Als müsse das Verhalten erst durch Nützlichkeit oder Häufigkeit gerechtfertigt werden. Doch biologische Phänomene sind nicht "gut", weil sie häufig sind, und auch nicht "richtig", weil sie evolutionär erklärbar sind. Diese subtile Tendenz zur biologischen Legitimierung gesellschaftlicher Vielfalt kann in die Irre führen.
Beispielhaft dafür ist die Erzählung der beiden männlichen Zügelpinguine Roy und Silo, die im New Yorker Central Park Zoo ein Ei ausbrüteten. Die Geschichte wird als "klassische Liebesgeschichte" erzählt – mit Nestbau, Brutpflege, Zuneigung und sogar Geschlechtsverkehr. Emotional aufgeladen und sympathisch geschildert, aber biologisch verkürzt. Wie bereits in unserem quellengestützten Blogbeitrag "Kritische Diskussion: Queerness in der Natur" ausführlich dargestellt, stammen solche Beobachtungen überwiegend aus Situationen, in denen das soziale und sexuelle Verhalten der Tiere stark durch künstliche Bedingungen geprägt ist. Zudem war das Ei, das Roy und Silo ausbrüteten, fremd befruchtet, was erneut zeigt, dass gleichgeschlechtliches Brutverhalten nicht mit Sexualität im biologischen Sinne gleichgesetzt werden kann. Auch wenn der Artikel am Ende darauf hinweist, dass Silo sich später einem Weibchen namens Scrappy zuwandte und demnach von einer exklusiven Homoerotik verglichen mit der des Menschen keine Rede sein kann, bleibt der Ton emotionalisierend, was die nüchterne wissenschaftliche Analyse überlagert.
Eine Stärke des Stern-Artikels liegt darin, dass er verschiedene Funktionen gleichgeschlechtlichen Verhaltens benennt: Stressabbau, soziale Bindung, Koalitionsbildung, Dominanzverhalten. Diese Erklärungen sind plausibel und wissenschaftlich gestützt [1]. Doch gleichzeitig gerät durch die starke Funktionalisierung der Eindruck in Gefahr, als müsse gleichgeschlechtliches Verhalten eine evolutionäre Rechtfertigung liefern, um als "legitim" zu gelten. Auch das ist ein problematischer Denkrahmen. Nicht alles, was evolutionär funktional ist, ist moralisch gut und nicht alles, was keinen offensichtlichen Nutzen hat, ist deshalb bedeutungslos.
Ebenfalls erwähnenswert ist die wiederholte Gleichsetzung von gleichgeschlechtlichem Verhalten mit "Sex", obwohl der Artikel an anderer Stelle die Begriffe vorsichtiger zu differenzieren versucht. Biologisch betrachtet ist Sexualität mehr als nur Verhalten: Sie umfasst Gametenbildung, Reproduktionsfunktionen und oft auch hormonelle Regulation. Wenn etwa zwei männliche Delfine Peniskontakt oder Reibeverhalten zeigen, handelt es sich dabei nicht um Sexualität im Fortpflanzungssinn, sondern um soziale Interaktion mit erotischer Konnotation.
Was bedeutet "Homosexualität" im biologischen Vergleich?
Wenn in populären Darstellungen von "Homosexualität bei Tieren" gesprochen wird, bleibt oft unklar, worauf sich dieser Begriff stützt. Im menschlichen Kontext bezeichnet "Homosexualität" eine exklusive Orientierung auf Partner des eigenen Geschlechts verbunden mit einer dauerhaften psychosexuellen Präferenz, oft auch mit emotionaler und sozialer Bindung (deshalb bezeichnen wir dies als Homoerotik; von Eros = Liebe). Diese Merkmale sind jedoch bei Tieren nur schwer oder gar nicht erfassbar. Um bei tierischen Verhaltensweisen von "Homosexualität" bzw. Homoerotik im menschlichen Sinne zu sprechen, müsste eindeutig belegt werden, dass ein Individuum über längere Zeit ausschließlich gleichgeschlechtlich motiviertes Sexualverhalten zeigt, obwohl gegengeschlechtliche Partner verfügbar wären und zwar nicht nur situations- oder sozialbedingt, sondern als präferierte und beständige Strategie.
Solche Nachweise sind bisher extrem selten. Sie wurden abseits des Menschen nur innerhalb der Ovis-gmelini-Gruppe und dort ausschließlich bei domestizierten Hausschafsböcken beobachtet, nicht jedoch bei wildlebenden Mufflons. Viele der dokumentierten Verhaltensweisen im Tierreich, die als "homosexuell" beschrieben werden, sind hingegen serielle oder kontextgebundene Interaktionen etwa zur Revierverteidigung, Koalitionsbildung, Stressreduktion oder kompensatorischen Brutpflege. Diese lassen sich nicht gleichsetzen mit der menschlichen Homoerotik als innerpsychisch fundierter Orientierung. Zudem fehlt es in vielen Fällen an experimenteller Forschung oder Langzeitbeobachtungen in freier Wildbahn, um tatsächliche exklusive Verhaltensmuster eindeutig zu identifizieren. Solange diese empirische Grundlage nicht gegeben ist, sollte der Begriff "Homosexualität" (unabhängig seiner etymologisch ohnehin falschen Bedeutung) im tierischen Kontext mit Vorsicht verwendet werden.
Im Artikel heißt es:
"Dieses Verhalten als schwul oder lesbisch zu bezeichnen, ist jedoch nur bedingt zutreffend. Schließlich sollte etwas so Komplexes wie die menschliche sexuelle Orientierung nicht einfach auf Tiere übertragen und möglicherweise mit anderen Verhaltensweisen verwechselt werden. Gleichzeitig sind die Beobachtungen im Tierreich nur Momentaufnahmen, die nicht zwangsweise eine grundsätzliche Orientierung widerspiegeln. Forschende sprechen daher von gleichgeschlechtlichem Sexualverhalten."
Diese löbliche Differenzierung wird aber nicht durchgängig konsequent durchgehalten. Stattdessen wird der Leser mit einem reichen Fundus an Anekdoten und Einzelbeispielen versorgt. Von "lesbischen" Schneegänsen über promiskuitive Bonobos bis zu "schwulen" Trauerschwänen, die sich Eier ins Nest legen lassen. Doch bei aller Tierliebe und Neugier für spannende Naturphänomene bleibt dabei offen, was genau wir daraus lernen können. Diese Frage wird nur implizit gestellt und das ist gut so. Denn jede direkte Analogie zwischen tierischem und menschlichem Verhalten führt in ein gedankliches Niemandsland. Der Mensch ist ein eigenständiges biologisches Wesen mit einer eigenen evolutionären und kulturellen Geschichte, dessen Verhaltensweisen im Kontext seiner Sexualbiologie sich nicht auf tierisches Instinktverhalten reduzieren lässt.
Das bedeutet keineswegs, dass man aus der Natur keine Inspiration oder Erklärung ziehen dürfte. Im Gegenteil! Das Wissen über die Vielfalt tierischer Lebensformen kann helfen, den Blick für die Pluralität des Lebendigen zu schärfen und kann aufzeigen, dass Homogenität kein biologisches Gesetz ist. Aber wer versucht, aus Verhaltensbeobachtungen bei Spinnen, Schwänen oder Schildkröten Rückschlüsse auf gesellschaftliche Fragen zu Geschlechternormen oder Familienmodellen zu ziehen, begibt sich auf dünnes Eis – egal in welche Richtung.
Einordnung der Häufigkeit
Im hier diskutieren Artikel wird darauf verwiesen, dass gleichgeschlechtliches Verhalten "bei mindestens 1.500 Tierarten" nachgewiesen sei – eine Zahl, die seit Jahren in vielen populärwissenschaftlichen Texten kursiert. Doch ohne Kontext bleibt diese Angabe wenig aussagekräftig. Derzeit sind weltweit rund 1,5 bis 2 Millionen Tierarten wissenschaftlich beschrieben, wobei die tatsächliche Zahl der existierenden Arten vor allem bei Insekten und anderen wirbellosen Tieren vermutlich ein Vielfaches davon beträgt (Schätzungen reichen bis zu 8 Millionen oder mehr). Selbst wenn man sich auf die beschriebenen Arten beschränkt, machen jene mit dokumentiertem gleichgeschlechtlichem Verhalten nur einen Bruchteil von unter 0,1 % aus.
Zudem ist zu bedenken: Die Zahl von 1.500 Arten umfasst jegliche dokumentierte gleichgeschlechtliche Interaktion, unabhängig von Häufigkeit, Dauer, Kontext oder Exklusivität. Sie reicht von kurzzeitigem Verhalten in Gefangenschaft bis zu einmaligen Beobachtungen im Freiland. Es handelt sich also nicht um 1.500 "homosexuelle Arten", sondern um Tierarten, bei denen irgendeine Form gleichgeschlechtlichen Verhaltens in sehr unterschiedlicher Qualität und unter sehr unterschiedlichen Bedingungen beschrieben wurde. Eine verlässliche Aussage über die systematische Häufigkeit dieses Verhaltens lässt sich daraus nicht ableiten.
Warum Spinnen kein "queeres Vorbild" sind
Nicht alle im Stern-Artikel genannten Beispiele eignen sich gleichermaßen zur Stützung der zentralen Aussage. So wird etwa gleichgeschlechtliches Verhalten bei Insekten und Spinnen genannt. Doch gerade in diesem Fall ist die Aussage wissenschaftlich äußerst fragwürdig.
Spinnen besitzen, wie viele Gliederfüßer, hochgradig spezialisierte Fortpflanzungsorgane, die bei jeder Art in Form und Funktion präzise aufeinander abgestimmt sind. Die männlichen Pedipalpen (umgewandelte Tastbeine, die das Sperma übertragen) passen mechanisch genau in die Genitalöffnung des Weibchens. Dieses Schlüssel-Schloss-Prinzip ist so spezifisch, dass es sogar zur Artbestimmung genutzt wird. Schon minimale morphologische Unterschiede zwischen Arten äußern sich in der Passform der Kopulationsorgane.
Bei Spinnen und Insekten wurden zwar gelegentlich Fälle beobachtet, in denen Männchen versuchten, andere Männchen zu begatten oder ihnen gegenüber zumindest typisches Balzverhalten zeigten [2]. Die Häufigkeit war im Labor jedoch höher als in natürlichen Umgebungen. Besonders begünstigende Bedingungen waren Isolation, hohe Dichte und die Exposition gegenüber weiblichen Pheromonen. Das gleichgeschlechtliches Sexualverhalten (Same‑Sex Sexual Behavior) dauerte meist kürzer als entsprechende heterosexuelle Aktionen. Forscher interpretieren dieses Verhalten deshalb nicht als Ausdruck gleichgeschlechtlicher Sexualpräferenz, sondern als Verwechslung (Mistaken Identity) infolge unzureichender geschlechtsspezifischer Signale z. B. durch chemische Reize, insbesondere unter Bedingungen hoher Paarungskonkurrenz. Dieses Verhalten scheint sich weiterhin zu erhalten, weil die Kosten einer falschen Zurückweisung eines Weibchens insbesondere bei Spinnen größer sind als gelegentliche Fehlpaarungen mit anderen Männchen.
Gleichgeschlechtliches Sexualverhalten bei Gliederfüßern (Arthropoden) ist somit extrem selten, kurzzeitig, nicht reproduktiv und vor allem nicht erotisch motiviert, sondern durch Wahrnehmungsgrenzen erklärbar. Von "Homosexualität" im eigentlichen Sinne kann bei Spinnen & Co. somit nicht die Rede sein. Dass sie dennoch im Stern-Artikel aufgeführt werden, zeigt exemplarisch, wie schnell sich biologische Begriffe dehnen lassen, wenn sie in einen ideologischen oder aktivistischen Rahmen eingefügt werden. Gerade in einem Beitrag, der sich um wissenschaftliche Präzision bemüht, ist dies ein vermeidbarer Fehler.
Zielgerichtete Evolution?
Im Stern-Artikel wird formuliert, gleichgeschlechtliches Verhalten bei Tieren sei auf den ersten Blick ein "darwinistisches Paradoxon", weil es nicht dem "vermeintlich obersten Ziel eines jeden Lebewesens" diene – nämlich "dem Erhalt der Art". Diese Sichtweise ist allerdings aus evolutionsbiologischer Perspektive grundlegend falsch. Die Vorstellung, dass die Evolution ein Ziel verfolgt oder dass Tiere sich fortpflanzen, um "ihre Art zu erhalten", ist ein längst überholtes, teleologisches Missverständnis.
Evolution hat kein Ziel. Sie ist ein nicht-gerichteter Prozess, in dem Merkmale und Verhaltensweisen ausschließlich danach selektiert werden, ob sie zur Weitergabe des eigenen genetischen Materials beitragen. Rückblickend lässt sich auf langen Zeitskalen dadurch zwar eine Richtung im Sinne einer fortlaufenden Veränderung beobachten, jedoch ist diese Richtung ziellos. In jeder Generation entstehen nicht nur optimierte Nachkommen, sondern auch welche, die weniger effizient angepasst sind und deshalb aus dem Genpool ausscheiden. Was sich auf der Ebene des Individuums bewährt (also die Reproduktion des Genotyps), kann somit zwar auf Populationsebene zu Stabilität führen, aber das ist lediglich eine Folge, kein Zweck. Arten "erhalten" sich nicht, weil Individuen dies wollen, sondern weil sich genetisch erfolgreiche Strategien in der jeweiligen Umwelt gegenüber nicht-erfolgreichen Strategien durchsetzen.
Diese Unschärfe schlägt sich auch in der späteren Darstellung nieder, Pinguinpaare wie Roy und Silo würden in freier Wildbahn verwaiste Eier ausbrüten, um dem Tod geweihte Küken zu retten. Implizit wird dabei unterstellt, gleichgeschlechtliche Tiere würden altruistisch handeln – etwa im Sinne eines sozialen Engagements für den Fortbestand ihrer Art oder Gruppe. Doch dafür gibt es keinen belastbaren Beleg. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich das beobachtete Brutpflegeverhalten gleichgeschlechtlicher Paare bei Pinguinen, Schneegänsen etc. nicht aus altruistischer Motivation, sondern als Nebenprodukt anderer Verhaltensmuster ergibt, etwa aus einem stark ausgeprägten Bruttrieb und einer hormonell gesteuerten Reaktion auf Eier oder Küken im Nest und zwar unabhängig davon, ob das Ei selbst gelegt wurde. Insbesondere bei Partnermangel oder in Haltungen in menschlicher Obhut bilden sich solche gleichgeschlechtlichen Pflegegemeinschaften häufiger. Dass sich dieses Verhalten in bestimmten Kontexten als vorteilhaft für die Bestandserhaltung herausstellen kann, ist möglich, doch auch hier gilt: Es ist kein Ziel, sondern eine evolutionäre Folge.
Von wahlloser Paarung zur Zweigeschlechtlichkeit?
Im letzten Abschnitt des Artikels wird eine Hypothese zitiert, der zufolge gleichgeschlechtliches Verhalten ursprünglich der "Normalzustand" gewesen sein könnte. Statt danach zu fragen, warum Tiere gleichgeschlechtliches Verhalten zeigen, stellen manche Forscher die Frage: Warum eigentlich nicht? Ihrer Ansicht nach könnte in frühen Stadien der Evolution ein wahlloses Paarungsverhalten (also sexuelle Interaktionen mit Partnern beider Geschlechter) ohne feste Präferenz geherrscht haben. Gleichgeschlechtliches Verhalten wäre demnach kein Paradoxon, sondern ein evolutionäres Überbleibsel, das nur dort verschwunden sei, wo es besonders kostspielig wurde.
Tatsächlich wirft diese Sichtweise einige grundlegende und berechtigte Fragen zur Evolution von Sexualität und Geschlecht auf. In der Frühgeschichte der Eukaryoten, also noch vor der Herausbildung komplexer Geschlechtsindividuen, war Fortpflanzung häufig noch isogam, d. h. alle Individuen produzierten Geschlechtszellen (Gameten) gleicher Größe und Form. Erst im Laufe der Evolution entwickelte sich daraus die Anisogamie: das Prinzip zweier unterschiedlich spezialisierter Gametentypen (viele Mikrogameten/Spermien und wenige Makrogameten/Eizellen), das heute die Basis der Zweigeschlechtlichkeit in den allermeisten Vielzellern bildet.
In diesem Übergang liegt eine der zentralen Fragen der Evolutionsbiologie. Wie und warum entstanden zwei reproduktiv unterschiedliche Geschlechter? War sexuelle Differenz von Anfang an ein Produkt funktionaler Optimierung? Oder entwickelte sie sich aus einem flexiblen, unspezifischen System, das zunächst wenig zwischen "gleich" und "ungleich" unterschied? Die Vorstellung, dass frühe sexuelle Systeme durch nicht-exklusive Paarungen und experimentelle Reproduktionsversuche (Try and Error) geprägt waren, ist nicht unplausibel. Im Verlauf der Evolution könnten sich dann heterosexuelle Kombinationen, die zur erfolgreichen Verschmelzung komplementärer Gameten führten, als besonders effizient herausgestellt haben. Auf diesem Weg hätte sich die Zweigeschlechtlichkeit als optimierte Fortpflanzungsstrategie durchgesetzt, während gleichgeschlechtliches Verhalten zurücktrat oder allenfalls als Randphänomen mit sozialer oder ritualisierter Funktion bestehen blieb.
Diese Fragen sind Gegenstand aktueller Forschungsdiskussionen in der Evolutions- und Sexualbiologie. Sie sind spannend, weil sie zeigen, das sexuelle Vielfalt in der Natur eine weder lineare noch eindeutige Geschichte hat. Aber auch hier gilt: Solche Hypothesen über frühe Paarungssysteme sind nicht automatisch übertragbar auf heutige Verhaltensweisen des Menschen. Die Ursprünge der Zweigeschlechtlichkeit zu erforschen, heißt nicht, das Konzept menschlicher Homoerotik evolutionär herzuleiten. Vielmehr geht es darum, die Komplexität sexueller Entwicklung über lange Zeiträume zu verstehen – ohne vorschnelle Analogieschlüsse.
Fazit
Der Stern-Artikel ist ein lesenswerter Beitrag, der sich wohltuend von aktivistischen Kurzschlüssen abhebt und an mehreren Stellen zur Zurückhaltung mahnt. Doch auch er verfällt stellenweise einer sanften Form des Biologismus, wenn er den Eindruck erweckt, die "Natürlichkeit" gleichgeschlechtlichen Verhaltens könne oder müsse zur gesellschaftlichen Akzeptanz beitragen. Wer Akzeptanz jedoch biologisch begründen will, läuft immer Gefahr, sich von ihr zu entfernen, sobald die Biologie nicht (mehr) mitspielt. Die Achtung der Menschenwürde, sexuellen Selbstbestimmung und sozialen Vielfalt darf nicht von Tiervergleichen abhängen – weder im Guten noch im Schlechten.
Quellen
[1] Nathan W. Bailey, Marlene Zuk, Same-sex sexual behavior and evolution, Trends in Ecology & Evolution, Volume 24, Issue 8, 2009, Pages 439-446, ISSN 0169-5347, https://doi.org/10.1016/j.tree.2009.03.014.
[2] Scharf, I., Martin, O.Y. Same-sex sexual behavior in insects and arachnids: prevalence, causes, and consequences. Behav Ecol Sociobiol 67, 1719–1730 (2013). https://doi.org/10.1007/s00265-013-1610-x

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