Sonntag, 19. Oktober 2025

Neue Leitlinie zur Behandlung von Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie

Eine im März 2025 überarbeitete S2k-Leitlinie zur Behandlung von Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie [1] sorgt in Fachkreisen für hitzige Diskussionen. Das Wissenschaftsmagazin Spektrum.de berichtete jüngst über die Kontroversen zwischen den Autoren der Leitlinie und einer Gruppe von Kinder- und Jugendpsychiatern, die die Empfehlungen als zu weitreichend kritisieren: Wie sollte Geschlechtsdysphorie bei Minderjährigen behandelt werden?

Während die Leitlinie Betroffenen laut Befürwortern ein hohes Maß an Selbstbestimmung zuschreibe, mahnen Kritiker zur Zurückhaltung. Sie verweisen auf die dünne Evidenzlage und die Gefahr, Minderjährige mit irreversiblen Eingriffen zu konfrontieren, bevor ihre Geschlechtsidentität stabil ist.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Laut Spektrum-Artikel sollen die Wünsche der Jugendlichen bei der leitlinienkonformen Behandlung stärker berücksichtigt werden. Sogenannte "Pubertätsblocker" und gegengeschlechtliche Hormone seien nur im Einzelfall nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung und psychiatrisch-psychotherapeutischer Abklärung vorgesehen. Die Leitlinienautoren betonen, dass der medizinische Prozess in der Praxis langwierig sei und keine vorschnellen Entscheidungen getroffen würden. Die Leitlinie orientiere sich an den internationalen "Standards of Care" der World Professional Association for Transgender Health (WPATH). Doch Kritiker bemängeln, dass trotz dieser Einschränkungen viele Empfehlungen über den Stand solider wissenschaftlicher Evidenz hinausgingen. Sie betonen, dass die medizinischen Standards affirmativ geprägt und zu wenig empirisch gesichert seien, da randomisierte kontrollierte Studien zu Wirksamkeit und Langzeitfolgen bis heute fehlen. 

Ein zentraler Punkt der Kritik: Es gibt bislang keine objektiven Marker, die anzeigen könnten, bei wem die Geschlechtsinkongruenz dauerhaft bestehen bleibt und bei wem sie sich mit der Zeit legt. Die Leitlinie räumt dies zwar durchaus ein, betont aber die Bedeutung klinischer Erfahrung. Aus Sicht der Kritiker ist das unbefriedigend. Ohne belastbare Prädiktoren bleibt das Risiko hoch, dass vorübergehende Identitätskonflikte als stabile Transidentität fehlgedeutet werden – mit potenziell lebenslangen Konsequenzen.

Mehrere im Spektrum-Artikel zitierte Fachleute betonen, dass sich eine bleibende Geschlechtsinkongruenz meist erst nach Beginn der Pubertät zeigt. Diese Entwicklungsphase hat also eine Filterfunktion. Hormonell verursachte körperliche und psychische Reifungsprozesse tragen dazu bei, dass sich Identität festigt oder verändert. Ein zu frühes Unterbrechen dieser Prozesse durch die im Spektrum-Artikel eher unkritisch präsentierten GnRH-Agonisten ("Pubertätsblocker") kann daher nicht nur biologische Reifung verhindern, sondern auch psychische Entwicklung beeinflussen und dadurch Transidentitäten persistieren, die bei normal durchlaufener Pubertät womöglich ohne affirmative Behandlung keinen Bestand gehabt hätten.

Die wissenschaftliche Evidenz deutet stark darauf hin, dass sich präpubertäre Geschlechtsinkongruenz bei einem signifikanten Teil der Jugendlichen im Laufe der Pubertät wieder legt – ein Phänomen, das als Desistenz bezeichnet wird. Der Hinweis von Kritikern, dass ein erheblicher Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in der frühen Adoleszenz mit Geschlechtsdysphorie vorstellig werden, nach Abschluss der Pubertät kein dauerhaftes Trans-Erleben zeigt, ist daher nicht von der Hand zu weisen. 

Anstelle frühzeitiger affirmativer Eingriffe ließen sich durchaus alternative Wege diskutieren. Biologisch orientierte Behandlungsansätze, die im Einklang mit dem tatsächlichen Geschlecht stehen – etwa die Stabilisierung der geschlechtstypischen Hormone bei Jugendlichen – werden in dem Spektrum-Artikel mehr oder weniger unterschwellig mit einem Vergleich zur pseudowissenschaftlichen Behandlung/"Heilung" von Homoerotikern als "Konversionstherapien" präsentiert. Dabei läge es medizinethisch näher, beispielsweise einen Jungen, der sich nicht wie ein Junge fühlt, mit Testosteron zu behandeln, statt mit "Pubertätsblockern" und Östrogen wortwörtliche eine Konversion durchzuführen. Ob dies letzten Endes tatsächlich die richtige Therapieform ist, kann zum aktuellen Zeitpunkt zwar nicht gesagt werden, da es keine Vergleichsstudien gibt, die deren Langzeitwirkung gegenüber einer transaffirmativen Behandlung zeigen. Dennoch sollten solche Ansätze nicht vorschnell aus dem Diskurs verbannt werden.

Wie Spektrum ferner berichtet, ist die Zahl der minderjährigen Patienten mit diagnostizierter Geschlechtsdysphorie in Deutschland in den vergangenen Jahren stark gestiegen: laut Daten der AOK von 219 im Jahr 2014 auf rund 1.630 im Jahr 2023 – ein Anstieg um den Faktor sieben. Auffällig ist, dass vor allem Jugendliche, bei denen bei Geburt das weibliche Geschlecht festgestellt wurde, überproportional betroffen sind. Ein deutlicher Hinweis auf die ROGD-Hypothese. Experten betonen zwar, dass dieser Zuwachs nicht zwangsläufig einen realen Anstieg der Transidentität widerspiegelt, sondern vielmehr verbesserte Versorgung, höhere gesellschaftliche Akzeptanz und stärkere Sensibilisierung zu mehr Diagnosestellungen geführt haben könnten. Einen Einfluss darauf wird andererseits aber auch das Konversionstherapieverbot haben, welches Ärzte unabhängig aller Leitlinien dazu zwingt, Patienten in ihrer selbstempfundenen geschlechtlichen Identität zu bestärken. Das veränderte Patientenprofil unterstreicht daher die Notwendigkeit einer sorgfältigen, individuell abgestimmten Diagnostik, um stabile von vorübergehenden Identitätskonflikten zu unterscheiden.

Die Spektrum-Autorin fasst schließlich zusammen: Beide Seiten wollen das Beste für betroffene Jugendliche, doch sie gewichten Selbstbestimmung und wissenschaftliche Vorsicht unterschiedlich.

Fazit

Die neue Leitlinie zeigt, dass Medizin und Gesellschaft darum ringen, jungen Menschen gerecht zu werden, die unter Geschlechtsdysphorie leiden. Doch wo wissenschaftliche Unsicherheit herrscht, sollte Vorsicht Vorrang haben. Wir plädieren für eine entwicklungsbiologisch fundierte Begleitung, die weder affirmativ noch subversiv, sondern ergebnisoffen und differenzierend ist, sowie die natürliche Reifung berücksichtigt. Auf irreversible medizinische Eingriffe vor Abschluss der Pubertät sollte generell verzichtet werden. Stattdessen bedarf es Forschung zu alternativen, biologisch fundierten Behandlungsoptionen, die den Leidensdruck lindern, ohne die natürliche Entwicklung zu unterdrücken. Denn die Pubertät ist keine zu vermeidende Krise, sondern ein notwendiger biologischer Prüfstein der Identitätsbildung. Affirmative Behandlung von volljährigen Patienten nach informierter Einwilligung ist damit nicht ausgeschlossen. Doch bevor irreversibel mit hormonellen oder chirurgischen Maßnahmen in das Leben junger Menschen eingegriffen wird, braucht es solide Daten und den Mut, das Ungewisse auszuhalten. 

Quellen

[1] AWMF Online: S2k-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung, Version 6.2 (Stand: 30.09.2024, Langfassung nach redaktionellen Änderungen: 10.03.2025)

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