Diese Frage stellte eine Schulleiterin in einem kürzlich in der Freien Presse erschienenen Artikel: „Wir sind der Einäugige unter den Blinden“ – Marienberger Schulleiterin hinterfragt Bildungsmonitor
Sie kritisiert darin, dass aktuelle Lehrpläne zu viele überholte oder als unwichtig angesehene Themen wie eben die Fortpflanzung von Fischen behandeln, anstatt Kindern beispielsweise beizubringen, wie man mit anderen Menschen umgeht. Laut der zitierten Schulleiterin sei ein solcher Unterricht angesichts von Themen wie Vereinsamung, Verrohung und Polarisierung dringender erforderlich, um Kindern soziale Kompetenzen zu vermitteln.
Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht teilte das Bild dieser rhetorischen Frage auf X und kommentiert trocken: "Damit sie wissen, warum es nur 2 davon gibt." Vollbrecht meint damit die Anzahl der Geschlechter. Es geht ihr offenbar um einen Schulunterricht, der naturwissenschaftliche Grundlagen statt Ideologie vermittelt. Doch dann kommt Falk Thore Gebhardt (FDP), repostet Vollbrechts Beitrag und schreibt: "Fische sind ein gutes Beispiel dafür, dass es nicht nur zwei fixe Geschlechter gibt." und verweist auf das Phänomen der Proterandrie:
Fische sind ein gutes Beispiel dafür, dass es nicht nur zwei fixe Geschlechter gibt.
— FalkTG 9k 🦅🇪🇺🇺🇦 (@FalkTG) October 22, 2025
So wechseln z.B. Clownsfische oder Kugelfische ihr Geschlecht nach sozialer Rangordnung (Proterandrie). https://t.co/bMsRrxbc53
Ein harmloses, biologisch weitestgehend korrektes Statement. Kein Wort über Menschen. Kein Wort über Transgender. Kein Wort über Identitätspolitik. Und doch: Innerhalb kurzer Zeit hagelt es kritische Kommentare. "Seit wann sind Menschen Fische?"; "In welches dritte Geschlecht wechseln die denn?" Was hier passiert, ist kein wissenschaftlicher Diskurs. Es ist ein Lehrstück in kognitiver Verzerrung.
Was ist Proterandrie?
Clown- bzw. Anemonenfische (Amphiprion-Arten) leben in kleinen, hierarchisch organisierten Gruppen in Seeanemonen. Die Fortpflanzung ist streng geregelt und hochflexibel: Alle Jungfische schlüpfen als Männchen. Das größte, dominante Tier der Gruppe wird zum Weibchen. Stirbt das Weibchen, rückt das ranghöchste Männchen nach und wird innerhalb weniger Wochen zum funktionsfähigen Weibchen.
Dieser sequenzielle Hermaphroditismus ist eine evolutionäre Anpassung. In einer Umwelt mit begrenzten Partnern maximiert er die Fortpflanzungschancen. Allerdings gibt es auch hier weiterhin nur zwei Geschlechter – männlich und weiblich. Der Wechsel erfolgt zwischen diesen beiden. Es entsteht kein drittes, kein non-binäres und auch kein "Intersex"-Geschlecht.
Dieser sequenzielle Hermaphroditismus ist eine evolutionäre Anpassung. In einer Umwelt mit begrenzten Partnern maximiert er die Fortpflanzungschancen. Allerdings gibt es auch hier weiterhin nur zwei Geschlechter – männlich und weiblich. Der Wechsel erfolgt zwischen diesen beiden. Es entsteht kein drittes, kein non-binäres und auch kein "Intersex"-Geschlecht.
Gebhardt hat allerdings nur bei Clownfischen recht. Bei Kugelfischen (Familie Tetraodontidae) hingegen ist das völlig anders. Alle bekannten Arten sind getrenntgeschlechtlich (gonochoristisch). Sie bleiben also ihr Leben lang entweder Männchen oder Weibchen. Weder Proterandrie noch Proterogynie wurde bei ihnen jemals dokumentiert. Manche Arten zeigen zwar komplexe Geschlechtsbestimmungssysteme oder seltene Fälle von gemischtem Gonadengewebe, doch das sind keine funktionalen Geschlechtswechsel. Der Irrtum, Kugelfische seien zuerst männlich und würden später zu Weibchen, beruht auf einer in der deutschsprachigen Wikipedia verbreiteten Fehlinterpretation eines Artikels der Japan-Times aus dem Jahr 2013: Fugu reveals its simple gender switch. Im Wikipedia-Eintrag über Kugelfische wir behauptet: "Geschlechtsreife Tiere sind oftmals zuerst männlich, können ihr Geschlecht jedoch im Laufe des Lebenszyklus wechseln und zu weiblichen Tieren werden" Die zugrundeliegende Studie von Kamiya et al. (2012) beschreibt allerdings gar keine Proterandrie, sondern identifiziert eine einzelne Nukleotid-Variation (SNP 7271 C/G) im Gen Amhr2 (anti-Müller’scher Hormonrezeptor Typ II), das bei Takifugu rubripes das Geschlecht genetisch festlegt [1]. Weibchen sind dabei homozygot, Männchen heterozygot. Es handelt sich also um ein System, bei dem das Geschlecht bereits während der Embryonalentwicklung festgelegt ist. Spannend ist hierbei, dass der betreffende SNP (Single Nucleotide Polymorphism) trans-spezifisch ist – d. h. auch in anderen Takifugu-Arten konserviert ist, was eine starke genetische Fixierung der Zweigeschlechtlichkeit unterstreicht.
Der "gender switch" im Artikel-Titel bezieht sich somit auf die molekulare Geschlechtsbestimmung (sozusagen den "Schalter", der das Geschlecht binär festlegt), nicht auf einen tatsächlichen Geschlechts"wechsel" (sex change) im Lebenszyklus. Bereits dieses, von der deutschen Wikipedia aufgrund einer fehlerhaften Übersetzung / Interpretation auf irreführende Weise verbreitete Beispiel zeigt, wie wichtig eine saubere Wissenschaftskommunikation über "die Fortpflanzung der Fische" ist – insbesondere, wenn es um schulische Bildungseinrichtungen geht.
Die Biologin Vollbrecht sagt sinngemäß: Es gibt nur zwei Geschlechter, das kann man aus Fisch-Fortpflanzung lernen. Der FDPler Gebhardt sagt sinngemäß: Bei Fischen wechseln Geschlechter, also sind sie nicht immer fix. Beide haben recht; beide widersprechen sich nicht. Denn selbst beim Geschlechtswechsel bleibt es bei genau zwei Geschlechtern. Die Proterandrie bestätigt Vollbrechts Punkt, sie widerlegt ihn nicht. Und dass selbst der Japan-Times-Artikel mit der Frage "Why are there two sexes?" ("Warum gibt es zwei Geschlechter?") einsteigt und damit ganz selbstverständlich von einer binären Geschlechterordnung ausgeht, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Was sagt das über Menschen?
Gar nichts. Gebhardt erwähnt Menschen aber auch mit keinem Wort. Er macht eine rein zoologische Feststellung. Und doch wird sein Posting sofort als versteckter Angriff auf die menschliche Geschlechterbinarität gelesen. Das ist ein klassischer Strohmann: Man konstruiert eine Position ("Falk sagt, Menschen hätten mehr als zwei Geschlechter"), die der andere nie wirklich eingenommen hat, und bekämpft sie dann mit Inbrunst. Im Mai 2024 postete der junge Liberale zwar ein Statement, warum in Deutschland das "Dritte Geschlecht" rechtlich eingeführt wurde, bezog sich dabei jedoch eindeutig auf die juristische Definition im Sinne einer dritten Option für Menschen mit uneindeutiger Geschlechtsausprägung, nicht auf weitere Geschlechter im eigentlichen (reproduktionsbiologischen) Sinn:
Nochmal zur Einordnung warum wir in Deutschland das Dritte Geschlecht anerkannt haben:
— FalkTG 9k 🦅🇪🇺🇺🇦 (@FalkTG) May 13, 2024
❌ Weil alle Politiker Woke sind 😡
❌ Weil Ampel 😡
✅ Weil das BVerfG 2019 (unter CDU Kanzlerin) festgestellt hat, dass es angesichts des medizinisch gesicherten Wissenstands…
Sicherlich verdient die Verwechslung bzw. Gleichsetzung von "Geschlechtsausprägung" mit "Geschlecht" fachlich fundierten Widerspruch. Man sollte außerdem anmerken, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Beschluss (Az. 1 BvR 2019/16) für die Geschlechtsoption "divers" ein dauerhaftes Bestehen der uneindeutigen Geschlechtszuordnung voraussetzte, welches streng genommen ausschließlich bei Menschen mit einer ovotestikulären Störung der Geschlechtsentwicklung der Fall ist. Das BVerfG legte diese Dauerhaftigkeit allerdings sehr großzügig aus und inkludierte das subjektive Identitätsempfinden von DSD-Personen, die sich ironischerweise aber in der Regel selber binär einordnen [2].
Dennoch ist es bemerkenswert, dass wir offenbar in einer Zeit leben, in der jede Erwähnung biologischer Varianz sofort als identitätspolitisches Statement und damit als Angriff auf das Gesetz der Zweigeschlechtlichkeit interpretiert wird. Das ist Projektion in Reinform. Jemand sagt etwas über Fische, Kiwis oder Schleimpilze und schon kommt bei Leuten an: "Aha! Das muss ein versteckter Kommentar zur Gender-Debatte sein!" Es folgen Empörung, Spott und Whataboutism. Das ist nicht rational, sondern reflexhaft und lässt sich auf beiden Seiten der Debatte beobachten. Wenn jemand bloß feststellt, dass einige Fische zwischen männlich und weiblich wechseln können, hören manche, man wolle damit sagen, dass Menschen beliebig zwischen 72 Geschlechtern wechseln könnten.
Das ist, als würde man auf die biologisch korrekte Aussage "Manche Vögel sind flugunfähig" mit "Wieso beleidigst du Piloten?" antworten. Viele Kommentatoren aus der radikalen Anti-Woke-Bewegung fürchten offenbar, wenn man zugibt, dass die Natur in einem binären Rahmen durchaus Flexibilität zeigt, dies die Tür für beliebige Interpretationen beim Menschen öffnet.
Fazit
Bei aller berechtigter Kritik an identitätspolitischer Verzerrung biologischer Tatsachen: Hören wir doch endlich wieder zu, statt zu projizieren. Wenn jemand etwas Wahres zur Sexualbiologie von Tieren ohne Menschenbezug äußert, gibt es keinen Grund, woke Gespenster zu sehen sehen, wo gar keine sind. Bevor man sich aufregt, einfach zweimal lesen und sich fragen: Hat der andere wirklich gesagt, was ich gerade bekämpfe? Meistens lautet die Antwort: Nein.
Quellen
[1] Kamiya T, Kai W, Tasumi S, Oka A, Matsunaga T, et al. (2012) A Trans-Species Missense SNP in Amhr2 Is Associated with Sex Determination in the Tiger Pufferfish, Takifugu rubripes (Fugu). PLOS Genetics 8(7): e1002798. https://doi.org/10.1371/journal.pgen.1002798
[2] Baudewijntje P.C. Kreukels, Birgit Köhler, Anna Nordenström, Robert Roehle, Ute Thyen, Claire Bouvattier, Annelou L.C. de Vries, Peggy T. Cohen-Kettenis, on behalf of the dsd-LIFE group, Gender Dysphoria and Gender Change in Disorders of Sex Development/Intersex Conditions: Results From the dsd-LIFE Study, The Journal of Sexual Medicine, Volume 15, Issue 5, May 2018, Pages 777–785, https://doi.org/10.1016/j.jsxm.2018.02.021
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