Donnerstag, 4. September 2025

Geschlechtsdysphorie zwischen Wissenschaft und Ideologie

In den sozialen Medien polarisieren Beiträge rund um Geschlechtsidentität und die Rolle der Wissenschaft zunehmend. Ein aktuelles, besonders zugespitztes Beispiel ist ein auf X veröffentlichter Post, der Transidentität mit einem wahnhaften Glauben vergleicht, kein Mensch zu sein:
Eine Analogie, die für einige pointiert, für andere zynisch wirkt. Welche wissenschaftliche Evidenz hat dieses Gedankenspiel? Und wo liegen berechtigte Kritikpunkte in einem Diskurs, der oft von Extremen dominiert wird? Im Folgenden ordnen wir diesen Post aus einer nüchternen Perspektive ein, die weder unkritischen Genderismus noch pauschale Anti-Trans-Narrative stützt.

Der Status von Geschlechtsdysphorie in der Wissenschaft

Geschlechtsdysphorie ist zunächst einmal keine Einbildung, sondern eine seit Jahrzehnten gut dokumentierte klinische Realität. Sie ist (bzw. war) in der ICD-10 als eigenständiges Krankheitsbild definiert [1]. Aufgrund des Drucks von Trans-Aktivisten, die eine Pathologisierung der Betroffenen anprangerten, stützte sich die Weltgesundheitsorganisation auf die Erkenntnisse mehrerer internationaler Studien, die zu der Erkenntnis gelangten, dass nicht etwa die Geschlechtsdysphorie als solche pathologisch sei, sondern lediglich die damit verbundenen Komorbiditäten wie soziale Ängste, Depressionen und das daraus resultierende selbstverletzende Verhalten [2]. Daraufhin wurde die sogenannte "Gender incongruence" in der ICD-11 der WHO nicht mehr als psychische Störung, sondern nur noch als Zustand im Bereich sexueller Gesundheit klassifiziert [3].

Die Geschlechtsdysphorie nicht mehr als psychische Erkrankung zu klassifizieren, spiegelt durchaus die Erkenntnisse biowissenschaftlicher, humanmedizinischer sowie psychologischer Forschung wieder. Neurologische Studien deuten auf Anomalien in der Hirnstruktur von Transgendern hin, insbesondere in Bereichen, die mit Geschlechtsidentität und Körperwahrnehmung verknüpft sind. Wobei man hier anmerken muss, dass bei einem plastischen Organ wie dem Gehirn keine einzelne Region als Sitz irgendeiner bestimmen Eigenschaft definiert werden kann. Statistische Häufungen sind zwar signifikant, für eine Transgender-Diagnostik jedoch nicht geeignet – genauso wenig, wie man trotz des Dimorphismus von männlichen und weiblichen Gehirnen mittels Hirnscan das Geschlecht bestimmen kann. Neurologische Auffälligkeiten bei Transgendern sind somit zwar keine absolute biologische Determinierung, begründet aber dennoch eine neurobiologische Basis des Phänomens der intrinsischen Geschlechtsdysphorie. Mehr dazu: Das "Transgender-Gehirn"

Aus unserer Sicht war es dennoch eine Fehlentscheidung der WHO, die Geschlechtsdysphorie gänzlich als eigenständiges Diagnose- und Krankheitsbild abzuschaffen, weil durchaus transaffirmative Behandlungen de facto delegitimiert wurden. Denn die nun nur noch als behandlungsbedürftig anerkannten Komorbiditäten wie Depression oder Angstzustände behandelt man schließlich nicht mit Geschlechtsangleichungen. Die Entpathologisierung Betroffener seitens der WHO stützt demnach ironischerweise eher Anti-Trans-Positionen.

Positive Effekte durch Transition, aber keine Wunder

Die Forschung zeigt, dass affirmative Maßnahmen wie soziale Transition, Hormonbehandlungen oder chirurgische Eingriffe den Leidensdruck von Betroffenen signifikant senken und Suizidgedanken reduzieren können – zumindest kurzfristig und mittelfristig [4][5]. Bereuensraten nach affirmativer geschlechtsangleichender Chirurgie sind insgesamt gering – typischerweise zwischen etwa 0,3 % und 1 %, in seltenen Kohorten bis 4 %. Die meisten Studien zeigen Raten deutlich unter 2 %, oft nahe 1 % [6][7].

Langzeitstudien zeichnen ein komplexeres Bild. Manche Betroffene erleben einen "Honeymoon-Effekt", also zunächst eine deutliche Entlastung, dann aber wieder Rückkehr psychischer Probleme, insbesondere, wenn unrealistische Erwartungen bestehen oder Komorbiditäten unbehandelt bleiben [8][9].

Transaffirmative Behandlungen können demnach hochwirksam sein, sie sind aber kein Allheilmittel.

Jugendliche und die Debatte um ROGD

Besonders kontrovers ist die Situation bei Jugendlichen. Die Rapid-Onset Gender Dysphoria (ROGD) beschreibt eine von uns unterstützte Hypothese, dass sich Jugendliche – oft Mädchen – in einem sozialen Kontext plötzlich als "trans" identifizieren, ohne dass zuvor eine stabile Dysphorie bestanden hat. Die Datenlage ist hier zwar schwach, aber nicht nichtig. Es gibt Hinweise auf Gruppendynamiken und Online-Effekte. Dennoch bleibt die Diagnose umstritten, weil methodische Schwächen und ideologische Instrumentalisierungen die Forschung erschweren.

Es gibt dennoch mutmaßlich eine Untergruppe an Personen, deren Identitätsfindung stark sozial vermittelt ist und keine neurobiologische Ursache hat. Hier sind sorgfältige Diagnostik und psychologische Begleitung essenziell.

Ideologische Verzerrungen in beide Richtungen

Der hier diskutierte X-Post verdeutlicht, dass der Diskurs stark polarisiert ist. Sowohl pro- als auch anti-affirmative Lager neigen zu selektiver Wahrnehmung:

Pro-affirmativ
  • Blendet Unsicherheiten, Komorbiditäten und Regret-Fälle oft aus.
  • Stellt Transition oft als "einzige richtige Lösung" dar.
  • Unterdrückt Debatten zu ROGD aus Angst vor politischer Instrumentalisierung.
Anti-affirmativ
  • Blendet neurobiologische Evidenz, hohe Stabilität bei Kern-Transidentität und positive Behandlungseffekte aus.
  • Stellt Transition oft als reinen Wahn oder Modeerscheinung dar.
  • Nutzt ROGD, um auch stabile Fälle zu delegitimieren.
Ein evidenzbasierter Diskurs muss sich von beiden Ideologie-Fallen befreien. Der X-Post vergleicht Transidentität hingegen pauschal mit einem Fantasieszenario, in dem Menschen glauben, "keine Menschen" zu sein. Dieser Vergleich ist selbst in seiner ironischsten Lesart wissenschaftlich problematisch, weil er stabile, seit Kindheit bestehende Dysphorie-Fälle ignoriert, die Evidenz für die Wirksamkeit von Behandlungen komplett ausblendet und komplexe Identitätsfragen auf eine karikierte Pathologie reduziert.

Der Vergleich mit "Menschen, die glauben, keine Menschen zu sein" ist eine falsche Analogie, wenn man die biologischen Hintergründe vergleicht. Nach etablierter, durch unterschiedliche Einzelevidenzen aus unserer Sicht sehr gut untermauerter Hypothese resultiert die intrinsische Geschlechtsdysphorie aus einer anomalen "Vermännlichung" (Virilisierung) bzw. "Verweiblichung" (Feminisierung) des Gehirns und ist demnach als strukturelle Entwicklungsstörung – mit Funktionsstörungen lediglich als deren als Folge – zu bezeichnen, nicht als ursächlich funktionale Störung in Form einer psychischen Erkrankung. Strukturell bipotent angelegte Embryos des Menschen bilden je nach Entwicklungspfad (männlich oder weiblich) unter Hormoneinfluss charakteristische Geschlechtsmerkmale und auch eine im Durchschnitt charakteristische Hirnstruktur aus. Die Übergänge sind zwar fließend (weshalb ein Hirn-Scan wie bereits erwähnt nicht geeignet ist, um das tatsächliche Geschlecht eines Menschen zu bestimmen), jedoch statistisch derart signifikant, dass man sagen kann: Männer und Frauen "ticken" anders – eine Feststellung, die sich auch im Alltag beobachten lässt und die abgesehen von Queer-Theoretikern wohl kaum jemand ernsthaft leugnen wird.

Männer und Frauen unterscheiden sich also in ihrer Hirnstruktur und in der Folge auch in ihrem Verhalten sowie in ihrer tief verankerten Geschlechtsidentität. Aufgrund der unterschiedlichen Abfolge der vorgeburtlichen Entwicklung (Differenzierung der primären Geschlechtsorgane etwa ab der 6. SSW, Hirndifferenzierung etwa ab der 12. SSW) kann es zu Anomalien kommen, bei denen z. B. ein männliches Individuum mit Hoden und Penis ein partiell "verweiblichtes" Gehirn entwickelt. Gender-Ideologen sprechen hierbei gerne von einer "Frau, die im falschen (männlichen) Körper geboren wurde". Solche Aussagen sind als esoterische Pseudowissenschaft und neoreligiöse Irrlehre zu bezeichnen, da sie eine Art "Seelengeschlecht" implizieren. Dennoch ist das daraus resultierende Phänomen der Geschlechtsinkongruenz ebenso real wie der Leidensdruck. Betroffene entgegen ihres inneren Geschlechterwissens in die gegengeschlechtliche Geschlechterrolle pressen zu wollen, bewerten wir als humanistisch orientierte Interessengemeinschaft als unmenschlich. Wie das enden kann, zeigt exemplarisch der John/Joan-Fall.

Während es also plausible und durch Evidenz gestützte Hypothesen der Geschlechtsinkongruenz gibt, ist dies bei der in dem hier besprochenen X-Posting postulierten "Speziesinkongruenz-Hypothese" nicht der Fall. Es gibt keine empirisch erfasste Menschenpopulation, die ernsthaft glaubt, kein Mensch zu sein, die über lange Zeiträume konsistente Identitätsmuster zeigt, oder bei der medizinische Interventionen nachweislich den Leidensdruck senken. Menschliche Embryos durchlaufen eine Geschlechtsentwicklung schließlich keine "Vermenschlichung". Sie sind von Zeitpunkt der Befruchtung als menschliche – und zwar ausschließlich menschliche – Organismen zu bezeichnen. Wo keine "Vermenschlichung" stattfindet, können auch keine Entwicklungsstörungen zu einer "nichtmenschlichen Identität" führen.

Und doch: In einem Punkt ist der Vergleich nicht völlig abwegig. Die Dynamik von Gruppendruck und Identitätskonstruktionen – insbesondere bei Jugendlichen – weist tatsächlich Parallelen zu anderen sozialen Phänomenen wie Therianthropie auf. Ferner zeigen sich am menschlichen Organismus immer wieder mal sogenannte Atavismen (anatomischer Merkmale stammesgeschichtlicher Vorfahren). Es ist daher durchaus denkbar, dass irgendwann einmal eine Art "Spezies-Inkongruenz" von Soziologen vorgeschlagen, in dieser Disziplin ernsthaft diskutiert und als neuer Nebenschauplatz des identitätspolitischen Kulturkampfes etabliert wird und langfristig womöglich auch die Humanmedizin – allen voran die WHO – dieser Irrlehre folgen wird.

Fazit

Transidentitäten sind ein komplexes, multikausales Phänomen mit biologischen, psychischen und sozialen Dimensionen. Eine wissenschaftlich redliche Haltung erkennt die Realität und Stabilität vieler Fälle von intrinsischer Geschlechtsdysphorie, die positiven Effekte affirmativer Behandlung, die Unsicherheiten in der Langzeitprognose und die Notwendigkeit individueller Begleitung sowie die Existenz sozialer Dynamiken, die insbesondere bei Jugendlichen zu vorschnellen Identifikationen führen können.

Nur ein Diskurs, der diese Komplexität aushält, kann ideologische Verzerrungen überwinden und damit den Betroffenen wirklich gerecht werden.

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Quellen

[1] ICD-10-GM-2025: F65.0 Transsexualismus

[2] Baleige, Antoine; de la Chenelière, Marie; Dassonneville, Cyane; Martin, Marie-Jeanne. Following ICD-11, Rebuilding Mental Health Care for Transgender Persons: Leads from Field Experimentations in Lille, France; Transgender Health 2022 7:1, 1-6. https://doi.org/10.1089/trgh.2020.0143


[4] Kilmer, Lee H. MD; Chou, Jesse MD; Campbell, Christopher A. MD; DeGeorge, Brent R. MD, PhD; Stranix, John T. MD. Gender-Affirming Surgery Improves Mental Health Outcomes and Decreases Antidepressant Use in Patients with Gender Dysphoria. Plastic and Reconstructive Surgery 154(5):p 1142-1149, November 2024. | DOI: 10.1097/PRS.0000000000011325

[5] Bränström, R., & Pachankis, J. E. (2020). Reduction in Mental Health Treatment Utilization Among Transgender Individuals After Gender-Affirming Surgeries: A Total Population Study. American Journal of Psychiatry, 177(8), 727–734. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.2019.19010080

[6] Bruce L, Khouri AN, Bolze A, et al. Long-Term Regret and Satisfaction With Decision Following Gender-Affirming Mastectomy. JAMA Surg. 2023; 158(10):1070–1077.  doi:10.1001/jamasurg.2023.3352

[7] Bustos, Valeria P. MD; Bustos, Samyd S. MD; Mascaro, Andres MD; Del Corral, Gabriel MD, Forte, Antonio J. MD, PhD, MS; Ciudad, Pedro MD, PhD; Kim, Esther A. MD; Langstein, Howard N. MD; Manrique, Oscar J. MD. Regret after Gender-affirmation Surgery: A Systematic Review and Meta-analysis of Prevalence. Plastic and Reconstructive Surgery - Global Open 9(3):p e3477, March 2021. | DOI: 10.1097/GOX.0000000000003477

[8] Park, Rachel H. MDa; Liu, Yi-Ting BAb; Samuel, Ankhita MDa; Gurganus, Margot MDc; Gampper, Thomas J. MDa; Corbett, Sean T. MDd; Shahane, Amit PhDe; Stranix, John T. MDa. Long-term Outcomes After Gender-Affirming Surgery: 40-Year Follow-up Study. Annals of Plastic Surgery 89(4):p 431-436, October 2022. | DOI: 10.1097/SAP.0000000000003233

[9] Dhejne C, Lichtenstein P, Boman M, Johansson ALV, Långström N, et al. (2011) Long-Term Follow-Up of Transsexual Persons Undergoing Sex Reassignment Surgery: Cohort Study in Sweden. PLOS ONE 6(2): e16885. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0016885

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