Samstag, 30. August 2025

Geschlechtsspezifische Gene steuern das Gehör der Malariamücke

Die Partnersuche ist bei vielen Tierarten ein komplexes Zusammenspiel aus Sinneswahrnehmung, Verhalten und genetischer Steuerung. Eine neue Studie von Su et al. (2025) wirft einen faszinierenden Blick auf die Sexualbiologie der Malariamücke Anopheles gambiae [1]. Sie zeigt, wie ein einzelnes Gen, das sogenannte "doublesex" (dsx), nicht nur die Fortpflanzungsorgane, sondern auch das Gehör formt und so beeinflusst, wie Männchen ihre Partnerinnen finden.

Anopheles gambiae (Foto: CDC/James Gathany)

Geschlechtsdimorphismus im Gehör

Bei Malariamücken sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern besonders auffällig im Gehörorgan, dem sogenannten Johnston-Organ in den Antennen. Männchen besitzen eine deutlich größere Zahl an Nervenzellen und ein feineres Netzwerk an Nervenverbindungen als Weibchen. Diese hochsensible Ausstattung erlaubt es ihnen, den charakteristischen Flügelschlag der Weibchen selbst in großen Schwärmen zu orten. Dies stellt eine Überlebensstrategie in einem Umfeld dar, in dem die Partnerfindung oft ein Wettrennen gegen andere Männchen ist. Weibchen dagegen hören zwar ebenfalls, ihre Hörorgane sind aber einfacher aufgebaut und zeigen weniger komplexe neuronale Verbindungen. Warum das so ist, bleibt ein spannendes Rätsel der Sexualbiologie, das nun durch die genetischen Analysen von dsx ein Stück weit gelöst wird.

Die genetische Schaltzentrale

Das doublesex-Gen ist ein zentraler Akteur in der Geschlechtsentwicklung von Insekten. Es produziert zwei Isoformen: dsxM für Männchen und dsxF für Weibchen. Diese Varianten steuern nicht nur die Bildung der Fortpflanzungsorgane, sondern auch sekundäre Geschlechtsmerkmale wie die Anatomie des Gehörs. Die Studie von Su und Kollegen zeigt eindrucksvoll, dass dsx wie ein Schalter wirkt, der eine ganze Kaskade von Entwicklungsprozessen anstößt. Es verbindet so primäre Funktionen wie die Spermienbildung mit sekundären (aber für die Fortpflanzung ebenso wichtigen) Eigenschaften wie der akustischen Partnererkennung. Dieser Mechanismus illustriert, wie eng Physiologie und Anatomie mit dem Sexualverhalten verknüpft sind.

Wenn Weibchen "männlich hören"

Indem die Forscher die weibliche Isoform dsxF gezielt ausschalteten, konnten sie erstmals nachvollziehen, wie tief dieses Gen in die Entwicklung des Gehörs eingreift. Die veränderten Weibchen entwickelten Ohren, die teilweise männliche Merkmale aufwiesen. Sie waren größer, enthielten mehr Nervenzellen und reagierten empfindlicher auf die höheren Frequenzen, die für den männlichen Partnerfindungsprozess entscheidend sind. Dennoch war die Vermännlichung nicht vollständig. Ein Schlüsselmerkmal männlicher Mückenohren, die sogenannten selbstangeregten Schwingungen (Self-Sustained Oscillations; SSOs), trat bei diesen Weibchen nicht auf. SSOs sind winzige, aktive Schwingungen des Gehörorgans, die es Männchen ermöglichen, die Fluggeräusche der Weibchen besonders stark zu verstärken. Diese Ergebnisse belegen, dass dsxF zwar eine entscheidende Rolle spielt, aber für ein vollständiges männliches Hörprofil weitere genetische Faktoren notwendig sind.

Molekulare Verbindung zwischen Hören und Fortpflanzung

Eines der faszinierendsten Ergebnisse dieser Arbeit ist der Nachweis, dass die genetische Grundlage des Hörens und der Spermienbeweglichkeit teilweise identisch ist. Sowohl die Sinneszellen im Gehörorgan als auch die Spermien nutzen sogenannte Zilien (bewegliche Fortsätze auf den Zellen), um Schwingungen zu erzeugen oder Bewegungen auszuführen. Die Forscher identifizierten zahlreiche Gene, die in beiden Geweben aktiv sind und unter anderem den Aufbau und die Beweglichkeit dieser Zilien steuern. Dieses Ergebnis zeigt eindrucksvoll, wie evolutionär effizient genetische Systeme genutzt werden. Ein und dieselbe molekulare Maschinerie wird sowohl für die akustische Partnererkennung als auch für den Fortpflanzungserfolg eingesetzt. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie eng die verschiedenen Ebenen der Sexualbiologie miteinander verflochten sind.

Perspektiven für die Mückenkontrolle

Die Erkenntnisse dieser Studie sind nicht nur für die sexualbiologische Grundlagenforschung bedeutsam, sondern auch für die Entwicklung neuer Strategien zur Bekämpfung der Malariamücke. Da Männchen ihr Gehör zwingend benötigen, um Weibchen zu finden und sich fortzupflanzen, könnten gezielte Eingriffe in die dsx-abhängigen Gene gleich zwei Effekte haben: Sie würden sowohl die Fortpflanzungsfähigkeit durch unbewegliche Spermien als auch die akustische Partnerfindung der Männchen stören. So ließen sich Populationen in betroffenen Regionen gezielt dezimieren, um die Ausbreitung der Malaria einzudämmen. Die Arbeit von Su und Kollegen liefert damit nicht nur einen tiefen Einblick in die faszinierende Welt der Sexualbiologie, sondern auch einen wertvollen Ansatzpunkt für den praktischen Einsatz moderner Gentechnik im Kampf gegen eine der gefährlichsten Krankheiten der Welt.

Quellen

[1] Matthew P. Su, Marcos Georgiades, Marta Andrés, Jason Somers, Judit Bagi, YuMin M. Loh, Yifeng Y.J. Xu, Kyros Kyrou, Andrea Crisanti, Joerg T. Albert, Using a female-specific isoform of doublesex to explore male-specific hearing in mosquitoes, iScience, 2025, 113330, ISSN 2589-0042, https://doi.org/10.1016/j.isci.2025.113330.


Femme fatale mit Duftnote: Wie die Springbok-Mantis Männchen in die Falle lockt

In der Tierwelt sind Sexuallockstoffe (Pheromone) meist ehrliche Signale. Ein Individuum teilt mit, dass es paarungsbereit und von guter Qualität ist. Doch manchmal kippt das Gleichgewicht der Interessen zwischen den Geschlechtern. Dann wird aus Verführung Manipulation. Knapwerth & Burke (2025) haben nun bei der Springbok-Mantis (Miomantis caffra) gezeigt, dass hungrige Weibchen ihre Lockstoffe gezielt einsetzen, um Männchen anzulocken und anschließend zu fressen [1]. Damit betreiben sie eine Form der "sexuellen Täuschung", die bislang kaum so klar belegt war.
 

Zwischen Verführung und trügerischem Duft

Miomantis caffra 
(Foto: Richard001, Public domain,
via Wikimedia Commons)
Die Forscher hielten die Fangschrecken (Mantodea) unter kontrollierten Bedingungen  im Labor. Einige Weibchen wurden dabei reichlich gefüttert ("gute Kondition"), andere bekamen deutlich weniger Nahrung ("schlechte Kondition"). Anschließend durften Männchen in einer T-förmigen Versuchsanordnung entscheiden, welchem Duft sie folgen wollten. Überraschenderweise wählten zweimal so viele Männchen wählten die Duftspur der schlecht genährten Weibchen, obwohl diese biologisch die schlechtere Wahl waren. Ihre Eierpakete (Ootheken) waren im Schnitt nur halb so schwer wie die der gut genährten Weibchen.

Was die Männchen nicht wussten: Der verführerische Duft war eine Falle. In weiteren Experimenten griffen Weibchen in schlechter Kondition dreimal häufiger an und verspeisten viermal so oft ihre Verehrer wie ihre wohlgenährten Artgenossinnen. Für die Weibchen lohnte sich diese Strategie. Wenn sie ein Männchen fraßen, wurden ihre Ootheken im Schnitt über 50 % schwerer – also ein direkter Gewinn evolutionärer Fitness aufgrund einer potenziell höheren Zahl an Nachkommen. Der männliche Körper diente schlichtweg als energiereiches "Paarungsmahl". Weibchen in schlechter Kondition profitieren enorm davon, ein Männchen zu erbeuten. Pheromone sind günstig zu produzieren, ein Männchen dagegen ist eine wertvolle Proteinquelle. 

So entsteht ein sexuell antagonischer Konflikt zwischen den Geschlechtern. Während Männchen lernen müssten, Täuschung zu erkennen, bleibt ihnen oft keine Chance. Der Instinkt, möglichst früh ein Weibchen zu finden, überwiegt bei Fangschrecken seit jeher das Risiko, gefressen zu werden.
 

Fazit

Die in der Studie untersuchten Strategien verdeutlichen, wie vielfältig Sexualität im Tierreich ist und dass Täuschung, Konflikt und Kannibalismus ebenso Teil der Evolution sexuellen Verhaltens sind wie Kooperation und Partnerwahl. In der Welt der Fangschrecken kann "sexy" hierbei schlicht bedeuten: "lecker".

Quellen

[1] Knapwerth, L., & Burke, N. W. (2025). Luring cannibal: Dishonest sexual signalling in the springbok mantis. Functional Ecology, 39, 2849–2859. https://doi.org/10.1111/1365-2435.70115

Dienstag, 19. August 2025

Der Fall Liebich: Ein Offenbarungseid für das SBGG

Die IG Sexualbiologie begrüßt die aktuelle Entscheidung des Landgerichts Berlin, mit der ein Antrag auf einstweilige Verfügung von Marla Svenja Liebich gegen Julian Reichelt abgewiesen wurde (Beschluss vom 18. August 2025, Az. 2 O 357/25 eV). NIUS berichtet: Sieg für die Meinungsfreiheit! Reichelt darf sagen, dass Neonazi Liebich keine Frau, sondern ein Mann ist!

Reichelt hatte öffentlich geäußert, dass es sich bei Liebich nicht um eine Frau, sondern um einen Mann handele. Das Gericht wertete diese Äußerung als zulässige Meinungsäußerung im Rahmen des Grundrechts auf freie Rede nach Artikel 5 Grundgesetz.

Für unsere Initiative steht fest: Die Meinungsfreiheit ist das höchste Gut in einer funktionierenden Demokratie. Ohne sie sind alle anderen Grundrechte nicht einklagbar, da sie das Fundament des offenen Diskurses bildet. Eine Gesellschaft, die diese Freiheit auf dem Altar subjektiver Befindlichkeiten opfert, begibt sich auf den Weg des Autoritarismus. Aus naturwissenschaftlicher Sicht möchten wir aber deutlich betonen, dass das Aussprechen der biologischen Wahrheit – nämlich, dass ein erwachsener, potenzieller Spermienproduzent und damit männlicher Vertreter der Spezies Homo sapiens definitionsgemäß ein Mann ist – keine "Meinungsäußerung" darstellt, sondern schlicht das Benennen eines Faktums. Wenn Gerichte diesen Umstand als "Meinungsfreiheit" diskutieren, verdeutlicht dies bereits die Schieflage der aktuellen Debatte. Aus unserer Sicht wäre eher die gegenteilige Aussage, dass ein männlicher (potenziell Spermien produzierender) Mensch eine Frau sei, eine unwahre Tatsachenbehauptung und daher unserer Einschätzung nach nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt. Urteile in dieser Richtung sucht man jedoch überraschenderweise vergeblich.

Der Fall Liebich und insbesondere die mediale Berichterstattung sind ein Offenbarungseid für das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG). Wenn man das Prinzip der Selbstidentifikation (Self-ID) einführt, dann muss es aus Gründen der Fairness für alle Personen gleichermaßen gelten – auch für Kunstschaffende wie Marla Svenja Liebich.

Zur Erinnerung, § 1 Absatz 1 SBGG definiert klar das Ziel des Gesetzes:

"(1) Ziel dieses Gesetzes ist es,
1. die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung und die Vornamenswahl von der Einschätzung dritter Personen zu lösen und die Selbstbestimmung der betroffenen Person zu stärken,
2. das Recht jeder Person auf Achtung und respektvolle Behandlung in Bezug auf die Geschlechtsidentität zu verwirklichen."

Ein "Missbrauch" des Gesetzes – wie manche Medien und Portale wie Queer.de (Das Problem ist nicht die Selbstauskunft, sondern die absichtliche Falschaussage) behaupten – liegt somit im Fall Liebich eindeutig nicht vor. Das SBGG kann im Wortlaut gar nicht missbraucht werden, sondern wird schlicht im Rahmen seiner Möglichkeiten angewandt. Und diese Möglichkeiten stehen (entgegen anderslautender Behauptungen, das SBGG sei nur auf genau definierte Gruppen beschränkt) nun mal jeder Person offen, deren Geschlechtsidentität von ihrem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abweicht. Ob dies der Fall ist, obliegt eben gerade aufgrund des SBGG ausschließlich der Selbstauskunft. Entweder man fordert die Self-ID als oberstes Prinzip des Transgender-Aktivismus und respektiert in der Konsequenz die gewählte Geschlechtsidentität einer jeden Person unabhängig der ihr unterstellten Motivation oder man kehrt zurück zu einer Validierung von Geschlechtsidentitäten durch Dritte, wie es das Transsexuellengesetz (TSG) vorsah. Einen Mittelweg ohne Doppelstandard gibt es schlicht und ergreifend nicht. 

Dass sich Gerichte nun in Einzelfällen mit der Abwägung von Meinungsfreiheit gegenüber Selbstbestimmungsrecht befassen müssen, zeigt, wie problematisch das SBGG tatsächlich ist. Die einst biologisch begründbaren Gender-Begriffe "Mann" und "Frau" wurden durch das Gesetz von der biologischen Realität rechtlich abgekoppelt und dadurch entwertet. Die Legislative hat mit dieser formalen Abschaffung der Kategorie "Geschlecht" eine Entscheidung getroffen, die nun auf die Judikative abgewälzt wird. Dies öffnet einen Raum für Willkür, was letztlich den gesellschaftlichen Frieden gefährdet. Denn ob die Justiz zukünftig bei anderen prominenten Fällen ebenfalls zugunsten der "Meinungsfreiheit" (bzw. biologischen Realität) urteilen würde, erscheint uns fraglich. Urteile aus der Vergangenheit zeigen, dass solche Prozesse nämlich auch anders ausgehen können: Nach Misgender-Attacke: Niederlage für Julian Reichelt. Es wird also offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen.

Für uns als IG Sexualbiologie bleibt für den Moment festzuhalten: Wir begrüßen die Stärkung der Meinungsfreiheit durch das Landgericht Berlin, warnen aber zugleich weiterhin vor den Konsequenzen einer willkürlich auslegbaren Gesetzgebung, die die personenstandsrechtliche Kategorie "Geschlecht" de facto abgeschafft hat. Wer die Biologie aus dem Recht verdrängt, produziert Widersprüche und lädt die Gerichte ein, sie nach Gutdünken zu lösen.

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Sonntag, 17. August 2025

Freundinnen fürs Leben: Wie Gorillaweibchen "feministisch netzwerken"

Bild von R N auf Pixabay
Bei vielen Tierarten ist der Gruppenwechsel ein zentraler Bestandteil des Lebenslaufs. Individuen verlassen ihre Geburtsgruppe, um Inzucht zu vermeiden, genetische Vielfalt zu fördern oder neue soziale Chancen zu nutzen. Bei Berggorillas (Gorilla beringei beringei), einer der am besten erforschten Menschenaffenarten, ist dieses Verhalten besonders spannend. Sowohl Männchen als auch Weibchen wechseln im Lauf ihres Lebens mehrfach ihre Gruppe. Etwa 50 Prozent beider Geschlechter wandern ab, wobei Weibchen oft mehrmals abwandern. Doch wie entscheiden die Weibchen, wohin sie gehen?

Ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Universität Zürich und des Dian Fossey Gorilla Fund hat nun gezeigt, dass diese Entscheidungen nicht zufällig getroffen werden, sondern auf sozialen Beziehungen beruhen, die über Jahre hinweg gepflegt werden [1].

Ein Hauch von "feministischer" Evolution

Über zwei Jahrzehnte hinweg verfolgten die Forscher 152 dokumentierte Gruppenwechsel von 56 Gorillaweibchen. Die Weibchen mieden dabei Gruppen, in denen Männchen aus ihrer Geburtsgruppe lebten. Da die Vaterschaft bei Gorillas oft unklar ist, dient dieses Verhalten vermutlich zur Vermeidung von Inzucht. Gleichzeitig zeigten die Tiere eine deutliche Präferenz für Gruppen, in denen sich bekannte Weibchen aufhielten – insbesondere solche, mit denen sie bereits in ihrer Jugend zusammengelebt hatten. Diese vertrauten Beziehungen erleichtern offenbar den Einstieg in eine neue Gemeinschaft, reduzieren soziale Konflikte und schaffen Rückhalt in einer fremden Umgebung.

Die Studie von Martignac et al. (2025) zeigt eindrucksvoll, dass weibliche Strategien im Tierreich weit über Fortpflanzung hinausgehen. Soziale Verbundenheit wird zu einem evolutionären Werkzeug, das schützt und neue Möglichkeiten eröffnet. Der Eintritt in eine neue Gruppe kann riskant sein, doch eine vertraute Gefährtin kann die Integration erheblich erleichtern. So entstehen überlappende Beziehungsnetze, die nicht nur das Überleben der Einzelnen fördern, sondern auch das Fundament größerer, kooperativer Gesellschaften bilden – ein Muster, das sich in der menschlichen Evolution wiederfindet. 

Diese Form weiblicher Kooperation erinnert frappierend an menschliche Netzwerke, in denen Frauen soziale Bindungen nutzen, um Sicherheit, Unterstützung und Einfluss zu gewinnen. Auch menschliche Gesellschaften beruhen auf der Fähigkeit, Bindungen über Gruppen hinweg zu pflegen. Gorillaweibchen erinnern uns daran, dass selbst in der Wildnis soziale Intelligenz – und vielleicht ein gutes Netzwerk – überlebenswichtig sein können.

Fazit

Die Ergebnisse der Studie werfen ein neues Licht auf die sozialen Grundlagen der Sexualbiologie: Nicht nur Konkurrenz oder Dominanz, sondern auch Vertrauen und Kooperation können entscheidende Treiber evolutionären Erfolgs sein.

Quellen

[1] Martignac Victoire, Eckardt Winnie, Mucyo Jean Pierre S., Ndagijimana Felix, Stoinski Tara S., Vecellio Veronica and Morrison Robin E. 2025 Dispersed female networks: female gorillas’ inter-group relationships influence dispersal decisions. Proc. R. Soc. B.29220250223. http://doi.org/10.1098/rspb.2025.0223

Samstag, 16. August 2025

Überraschende Häufigkeit von Sex Reversal bei Wildvögeln

Bild von Manfred Richter auf Pixabay
Dass Konsekutivzwitter ihr Geschlecht im Laufe des Lebens verändern können, ist bekannt. Bei Vögeln wurde ein solcher Wechsel des funktionalen Geschlechts noch nie dokumentiert. Bei ihnen tritt jedoch ein Phänomen der sogenannten "Geschlechtsumkehr" (Sex Reversal) auf, bei welchem die genetisch vorgezeichnete Geschlechtsentwicklung in Richtung des jeweils anderen Geschlechts umgedreht wird. Dieses Phänomen wurde bereits in den "Goldenen Zwanzigern" experimentell an Haushühnern erforscht. Bei wildlebenden Vögeln wurde es hingegen bislang äußerst selten beobachtet.

Doch nun sorgt eine neue Studie in Biology Letters für Aufsehen [1]. Erstmals wurde in großem Umfang dokumentiert, dass freilebende Vögel deutlich häufiger von Sex-Reversal-Prozessen betroffen sein können, als bislang angenommen.

Ca. 5 % der untersuchten Vögel zeigten Sex Reversal

Clancy A. Hall und Kollegen untersuchten fast 500 australische Wildvögel nach ihrem Ableben in Wildtier-Kliniken und stießen dabei auf erstaunliche Ergebnisse, die nicht nur für die Biologie, sondern auch für den Natur- und Artenschutz weitreichende Konsequenzen haben. Die Analyse umfasste u. a. Jägerlieste (Dacelo), Regenbogenloris (Trichoglossus moluccanus) und Flötenkrähenstare (Gymnorhina tibicen). Bei etwa 3-6 % der untersuchten Individuen passten die gonadalen und morphologischen Merkmale des Geschlechts nicht mit der Chromosomenstruktur überein.

Besonders auffällig: 92 % der Fälle betrafen ZW-Individuen (also diejenigen mit einer typisch weiblichen Chromosomenstruktur), die männliche Fortpflanzungsorgane ausgebildet hatten. Ein spektakulärer Einzelfall war ein Jägerliest (engl. Kookaburra) mit einer typisch männlichen Chromosomenstruktur (ZZ-Chromosomen), der einen funktionsfähigen weiblichen Eileiter besaß – ein Hinweis darauf, dass das Tier kürzlich ein Ei gelegt haben könnte.

Umweltfaktoren im Verdacht

Warum es zu diesen Veränderungen kommt, ist bislang ungeklärt. Von den Forschern in Betracht gezogen werden hormonaktive Umweltchemikalien, die den Hormonhaushalt der Vögel beeinflussen können, Stress sowie die Ernährung in peri-urbanen und landwirtschaftlich geprägten Lebensräumen. Auch natürliche Mechanismen wie Temperatureinflüsse während der Embryonalentwicklung werden von ihnen diskutiert.

Dass solche Prozesse bei wildlebenden Vögeln bislang kaum dokumentiert waren, macht die Befunde umso brisanter und eröffnet ein neues Forschungsfeld. Die Geschlechterverhältnisse in Populationen könnten anders sein, als bisher durch Feldstudien angenommen. Bislang übliche Methoden der Geschlechtsbestimmung (z. B. Federfärbung, Verhalten oder genetische Tests) müssen kritisch hinterfragt werden, da sie fehlerhaft sein könnten. Die neuen Erkenntnisse deutet ferner darauf hin, dass der Fortpflanzungserfolg der Vögel beeinflusst werden könnte, was Folgen für den Bestand einzelner Arten impliziert. Wenn Populationen kleiner oder bedroht sind, könnte eine verschobene Geschlechterbalance den Erhalt zusätzlich erschweren.

Zwischen Biologie und gesellschaftlicher Debatte

Die Berichterstattung über diese Studie zeigt, wie schnell wissenschaftliche Ergebnisse in der Öffentlichkeit verzerrt werden können. So titelte etwa der Spiegel: "Vögel wechseln ihr Geschlecht wohl häufiger als angenommen". Diese Formulierung ist aus naturwissenschaftlicher Sicht irreführend. "Wechseln" suggeriert einen aktiven Prozess, wie man ihn etwa bei bestimmten Fischen kennt. In Wirklichkeit handelt es sich beim Sex Reversal von Vögeln um Entwicklungsabweichungen. Die Vögel "wechseln" ihr Geschlecht also nicht von einem zum anderen, sondern entwickeln dieses von Anfang an anders, als es die Chromosomen erwarten lassen.

"Häufiger als angenommen" klingt außerdem nach einer grundsätzlich erwarteten Regelmäßigkeit. Tatsächlich lag die Häufigkeit in dieser Untersuchung nur bei rund 5 % der Individuen. Das ist biologisch bemerkenswert, aber keineswegs die Norm. Gerade bei sensiblen Themen wie Sexualbiologie ist eine sachlich exakte Kommunikation entscheidend. Unsaubere Formulierungen tragen sonst dazu bei, dass wissenschaftliche Befunde für ideologische Deutungen instrumentalisiert werden.

Fazit

Dass Sex Reversal bei Vögeln in freier Wildbahn vorkommt, zwingt Forscher dazu, vertraute Annahmen zu überdenken und neue Fragen zu stellen: Welche Umweltfaktoren sind beteiligt? Welche Arten sind besonders anfällig? Und welche Rolle spielt der Mensch dabei? Für die Sexualbiologie eröffnet sich damit ein spannendes neues Kapitel.

Quellen

[1] Hall Clancy A., Conroy Gabriel, Jelocnik Martina, Kasimov Vasilli, Gillet Amber, Portas Timothy, Hill Andrew and Potvin Dominique A. 2025Prevalence and implications of sex reversal in free-living birdsBiol. Lett.2120250182. http://doi.org/10.1098/rsbl.2025.0182

Wörterbücher im Geschlechterdilemma

Das Merriam-Webster Dictionary gilt als eines der renommiertesten englischsprachigen Wörterbücher und wird in den USA seit dem 19. Jahrhundert als Referenzwerk für Sprachgebrauch, Rechtschreibung und Bedeutungsbestimmungen herangezogen. Seine Einträge gelten vielen als maßgebliche Quelle – sowohl für die Alltagssprache als auch für die fachliche Terminologie. Umso wichtiger ist es, dass dortige Definitionen wissenschaftlich präzise bleiben, gerade wenn es um biologische Grundbegriffe geht.

Betrachtet man die Einträge zu "female" (weiblich) und "male" (männlich), so fällt zunächst auf, dass die Definitionen durchaus Elemente enthalten, die aus biologischer Sicht korrekt sind:



Richtig ist, dass "female" als das Geschlecht beschrieben wird, das typischerweise die Fähigkeit hat, Eier zu produzieren oder Nachkommen zu gebären, während "male" auf die Produktion von kleinen, meist beweglichen Gameten (Spermien) verwiesen wird. Auch die botanischen Definitionen, wonach weibliche Pflanzen nur Fruchtblätter und männliche nur Staubblätter bilden, sind zutreffend und entsprechen den etablierten Erkenntnissen der Sexualbiologie. Diese Beschreibungen sind materialistisch fundiert. Sie beruhen auf reproduktiven Funktionen und morphologischen Merkmalen, die objektiv messbar und unabhängig von individueller Wahrnehmung sind.

Problematisch wird es jedoch im zweiten Teil beider Einträge, in dem "weiblich" und "männlich" zusätzlich über eine "Gender Identity" (Geschlechtsidentität) definiert werden. Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist dies ein Kategorienfehler. Geschlecht ist ein biologisches Merkmal, das Taxon übergreifend auf der jeweiligen, potenziellen Gametenproduktion beruht. Subjektive Empfindungen oder soziale Rollenbilder mögen für die Humanmedizin und die Soziologie relevant sein, sie verändern jedoch nicht die biologische Realität. Die Vermischung dieser Ebenen in einer Definition biologischer Begriffe schwächt deren wissenschaftliche Aussagekraft und schafft unnötige Verwirrung, besonders in einem Referenzwerk, das Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt.

Hinzu kommt ein logischer Mangel: Beide Einträge stützen sich auf den jeweils anderen: "Weiblich" als Gegenteil von "männlich" und "männlich" als Gegenteil von "weiblich". Ohne eine unabhängige, eigenständige Definition verheddert sich diese Formulierung in einem Zirkelschluss. Würde man die biologischen Kernbeschreibungen entfernen, bliebe nur ein tautologisches "A ist nicht B und B ist nicht A" – eine inhaltsleere Feststellung, die keine Erkenntnis liefert. Für präzise Wissenschaftssprache sind jedoch klare Definitionen erforderlich, die nicht auf gegenseitigen Abgrenzungen allein beruhen, sondern auf objektiven Merkmalen und Funktionen.

Ein Einzelfall?

Wie sieht die Situation in anderen Wörterbüchern aus? Das Cambridge Dictionary gehört zu den bekanntesten britischen Wörterbüchern und wird international häufig als Referenzwerk für englische Begriffe genutzt. Anders als Merriam-Webster bleiben seine Definitionen bei biologischen Grundbegriffen weitgehend auf der Ebene reproduktiver Funktionen. "Female" bezeichnet hier klar das Geschlecht, das Kinder gebärt oder Eier produziert, während "male" das Geschlecht meint, das Hoden oder ein Organ mit ähnlicher Funktion besitzt und nicht jenes ist, das den Nachwuchs bis zur Geburt trägt: "not (of) the sex which carries the young until birth"

Letztere Negativformulierung orientiert sich an einer typischen Rollenverteilung in der Fortpflanzung, also daran, wer den Nachwuchs austrägt. Das ist jedoch ebenfalls keine verlässliche Definitionsgrundlage, denn diese Rolle kann zwischen Arten erheblich variieren. Seepferdchen und andere Fischarten sind prominente Gegenbeispiele. Hier tragen die Männchen den Nachwuchs bis zur Geburt, obwohl sie biologisch eindeutig männlich sind (weil sie kleine, bewegliche Gameten produzieren).

Damit begeht auch diese Formulierung ebenfalls einen Kategorienfehler. Sie ersetzt ein objektives, auf Gametentypen basierendes Kriterium durch eine biologische Funktion, die nicht universell gilt. Eine Definition, die sich auf reproduktive Aufgabenverteilung stützt, kann daher in die Irre führen, weil sie nicht das Geschlecht an sich, sondern ein artspezifisches Fortpflanzungsverhalten beschreibt. Das Cambridge Dictionary bleibt zwar insgesamt materialistisch orientiert, rutscht hier aber in eine anthropozentrische Vereinfachung ab, die wissenschaftlich nicht tragfähig ist.

Positiv anzumerken ist aber, dass das Cambridge Dictionary die biologische Definition nicht mit Aspekten subjektiver Geschlechtsidentität vermischt. Die Begriffe werden über funktionale, anatomische und reproduktive Kriterien bestimmt, die unabhängig von persönlichen Empfindungen sind. Dadurch entsteht eine klare, überprüfbare Grundlage, die sich mit den Grundprinzipien der Sexualbiologie deckt. Diese Präzision schützt vor den logischen Zirkelschlüssen und definitorischen Unschärfen, wie sie in den Merriam-Webster-Einträgen sichtbar werden, und erhält die Verständlichkeit der Begriffe im internationalen wissenschaftlichen Diskurs.

In Deutschland zeigt ein Blick in den Duden, dass die Situation noch klarer bleibt. Die Definitionen von "weiblich" und "männlich" sind hier vollständig im Einklang mit der Sexualbiologie gefasst: "Weiblich" bezeichnet das Geschlecht, das Eizellen bildet, aus denen sich nach Befruchtung Nachwuchs entwickeln kann, während "männlich" das Geschlecht meint, das bewegliche Gameten produziert und Eizellen befruchten kann. Die zugrundeliegende Definition von "Geschlecht (1a)" verweist präzise auf die Gesamtheit der reproduktiven (nicht subjektiv empfundenen) Merkmale, die ein Lebewesen meist eindeutig als biologisch männlich oder weiblich bestimmen. 


Auffällig ist, dass diese Einträge auf die materialistische Basis fokussieren und sich nicht in sozialwissenschaftliche oder identitätspolitische Erweiterungen verstricken. Damit bleibt der Duden derzeit noch auf der Ebene naturwissenschaftlich überprüfbarer Tatsachen, ohne die klare biologische Unterscheidung durch subjektive Selbsteinschätzung zu relativieren. Dies sorgt für begriffliche Stabilität und verhindert die logischen Unschärfen, die vor allem in den US-amerikanischen Merriam-Webster-Definitionen erkennbar werden.

Fazit

Gerade in einer Zeit, in der biologische Grundbegriffe politisiert und umgedeutet werden, ist es umso wichtiger, dass Wörterbücher nicht den Eindruck erwecken, wissenschaftlich gesicherte Definitionen seien verhandelbar. Sprache formt Denken und wenn die Sprache die Trennlinie zwischen objektiven Tatsachen und subjektiven Empfindungen verwischt, dann leidet am Ende die Klarheit, auf die Wissenschaft angewiesen ist.

Samstag, 2. August 2025

STERN zwischen Tierverhalten und Menschenbild

Homosexualität bei Tieren

Am 30. Juli 2025 veröffentlichte das Magazin Stern einen Beitrag mit dem Titel "Homosexualität bei Tieren – ganz gewöhnlich und ganz schön sinnvoll". Der Artikel bietet einen breiten Überblick über gleichgeschlechtliches Verhalten im Tierreich und versucht, dieses nicht nur als biologisches Faktum, sondern auch als potenziell sinnvolle Anpassung darzustellen. Die Beobachtungen reichen von pinguinväterlicher Fürsorge über Koalitionsbildung mit erotisch konnotierten Handlungen bei Delfinen bis hin zu "Leihmutterschaft" bei Trauerschwänen. So vielgestaltig das Thema, so wichtig ist eine differenzierte Betrachtung, zumal sich der Artikel in einem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und gesellschaftlicher Bedeutung bewegt.


Der Artikel ist auf den ersten Eindruck erfreulich weit entfernt von plakativer Vereinnahmung oder aktivistischer Verkürzung. Er betont mehrfach, dass gleichgeschlechtliches Verhalten bei Tieren nicht automatisch mit menschlicher "Homosexualität" (bzw. Homoerotik) gleichgesetzt werden kann, weil es sich oft um Momentaufnahmen, kontextabhängige Strategien oder sozial motivierte Handlungen handelt. Das ist sachlich korrekt und biologisch wichtig. Die federführende GEO-Autorin Franziska Türk vermeidet damit weitgehend einen der zentralen Denkfehler öffentlicher Debatten – den sogenannten naturalistischen Fehlschluss, also die unangemessene Übertragung tierischer Verhaltensweisen auf menschliche Identitätskonzepte und soziale Normen.

Doch trotz dieser erkenntnistheoretischen Zurückhaltung bleibt der Artikel nicht frei von problematischen Tendenzen. Das beginnt bereits mit der Titelzeile. Wenn gleichgeschlechtliches Verhalten als "ganz gewöhnlich und ganz schön sinnvoll" bezeichnet wird, schwingt eine normative Aufwertung mit. Als müsse das Verhalten erst durch Nützlichkeit oder Häufigkeit gerechtfertigt werden. Doch biologische Phänomene sind nicht "gut", weil sie häufig sind, und auch nicht "richtig", weil sie evolutionär erklärbar sind. Diese subtile Tendenz zur biologischen Legitimierung gesellschaftlicher Vielfalt kann in die Irre führen.

Beispielhaft dafür ist die Erzählung der beiden männlichen Zügelpinguine Roy und Silo, die im New Yorker Central Park Zoo ein Ei ausbrüteten. Die Geschichte wird als "klassische Liebesgeschichte" erzählt – mit Nestbau, Brutpflege, Zuneigung und sogar Geschlechtsverkehr. Emotional aufgeladen und sympathisch geschildert, aber biologisch verkürzt. Wie bereits in unserem quellengestützten Blogbeitrag "Kritische Diskussion: Queerness in der Natur" ausführlich dargestellt, stammen solche Beobachtungen überwiegend aus Situationen, in denen das soziale und sexuelle Verhalten der Tiere stark durch künstliche Bedingungen geprägt ist. Zudem war das Ei, das Roy und Silo ausbrüteten, fremd befruchtet, was erneut zeigt, dass gleichgeschlechtliches Brutverhalten nicht mit Sexualität im biologischen Sinne gleichgesetzt werden kann. Auch wenn der Artikel am Ende darauf hinweist, dass Silo sich später einem Weibchen namens Scrappy zuwandte und demnach von einer exklusiven Homoerotik verglichen mit der des Menschen keine Rede sein kann, bleibt der Ton emotionalisierend, was die nüchterne wissenschaftliche Analyse überlagert.

Eine Stärke des Stern-Artikels liegt darin, dass er verschiedene Funktionen gleichgeschlechtlichen Verhaltens benennt: Stressabbau, soziale Bindung, Koalitionsbildung, Dominanzverhalten. Diese Erklärungen sind plausibel und wissenschaftlich gestützt [1]. Doch gleichzeitig gerät durch die starke Funktionalisierung der Eindruck in Gefahr, als müsse gleichgeschlechtliches Verhalten eine evolutionäre Rechtfertigung liefern, um als "legitim" zu gelten. Auch das ist ein problematischer Denkrahmen. Nicht alles, was evolutionär funktional ist, ist moralisch gut und nicht alles, was keinen offensichtlichen Nutzen hat, ist deshalb bedeutungslos.

Ebenfalls erwähnenswert ist die wiederholte Gleichsetzung von gleichgeschlechtlichem Verhalten mit "Sex", obwohl der Artikel an anderer Stelle die Begriffe vorsichtiger zu differenzieren versucht. Biologisch betrachtet ist Sexualität mehr als nur Verhalten: Sie umfasst Gametenbildung, Reproduktionsfunktionen und oft auch hormonelle Regulation. Wenn etwa zwei männliche Delfine Peniskontakt oder Reibeverhalten zeigen, handelt es sich dabei nicht um Sexualität im Fortpflanzungssinn, sondern um soziale Interaktion mit erotischer Konnotation.

Was bedeutet "Homosexualität" im biologischen Vergleich?

Wenn in populären Darstellungen von "Homosexualität bei Tieren" gesprochen wird, bleibt oft unklar, worauf sich dieser Begriff stützt. Im menschlichen Kontext bezeichnet "Homosexualität" eine exklusive Orientierung auf Partner des eigenen Geschlechts verbunden mit einer dauerhaften psychosexuellen Präferenz, oft auch mit emotionaler und sozialer Bindung (deshalb bezeichnen wir dies als Homoerotik; von Eros = Liebe). Diese Merkmale sind jedoch bei Tieren nur schwer oder gar nicht erfassbar. Um bei tierischen Verhaltensweisen von "Homosexualität" bzw. Homoerotik im menschlichen Sinne zu sprechen, müsste eindeutig belegt werden, dass ein Individuum über längere Zeit ausschließlich gleichgeschlechtlich motiviertes Sexualverhalten zeigt, obwohl gegengeschlechtliche Partner verfügbar wären und zwar nicht nur situations- oder sozialbedingt, sondern als präferierte und beständige Strategie.

Solche Nachweise sind bisher extrem selten. Sie wurden abseits des Menschen nur innerhalb der Ovis-gmelini-Gruppe und dort ausschließlich bei domestizierten Hausschafsböcken beobachtet, nicht jedoch bei wildlebenden Mufflons. Viele der dokumentierten Verhaltensweisen im Tierreich, die als "homosexuell" beschrieben werden, sind hingegen serielle oder kontextgebundene Interaktionen etwa zur Revierverteidigung, Koalitionsbildung, Stressreduktion oder kompensatorischen Brutpflege. Diese lassen sich nicht gleichsetzen mit der menschlichen Homoerotik als innerpsychisch fundierter Orientierung. Zudem fehlt es in vielen Fällen an experimenteller Forschung oder Langzeitbeobachtungen in freier Wildbahn, um tatsächliche exklusive Verhaltensmuster eindeutig zu identifizieren. Solange diese empirische Grundlage nicht gegeben ist, sollte der Begriff "Homosexualität" (unabhängig seiner etymologisch ohnehin falschen Bedeutung) im tierischen Kontext mit Vorsicht verwendet werden.

Im Artikel heißt es:

"Dieses Verhalten als schwul oder lesbisch zu bezeichnen, ist jedoch nur bedingt zutreffend. Schließlich sollte etwas so Komplexes wie die menschliche sexuelle Orientierung nicht einfach auf Tiere übertragen und möglicherweise mit anderen Verhaltensweisen verwechselt werden. Gleichzeitig sind die Beobachtungen im Tierreich nur Momentaufnahmen, die nicht zwangsweise eine grundsätzliche Orientierung widerspiegeln. Forschende sprechen daher von gleichgeschlechtlichem Sexualverhalten."

Diese löbliche Differenzierung wird aber nicht durchgängig konsequent durchgehalten. Stattdessen wird der Leser mit einem reichen Fundus an Anekdoten und Einzelbeispielen versorgt. Von "lesbischen" Schneegänsen über promiskuitive Bonobos bis zu "schwulen" Trauerschwänen, die sich Eier ins Nest legen lassen. Doch bei aller Tierliebe und Neugier für spannende Naturphänomene bleibt dabei offen, was genau wir daraus lernen können. Diese Frage wird nur implizit gestellt und das ist gut so. Denn jede direkte Analogie zwischen tierischem und menschlichem Verhalten führt in ein gedankliches Niemandsland. Der Mensch ist ein eigenständiges biologisches Wesen mit einer eigenen evolutionären und kulturellen Geschichte, dessen Verhaltensweisen im Kontext seiner Sexualbiologie sich nicht auf tierisches Instinktverhalten reduzieren lässt.

Das bedeutet keineswegs, dass man aus der Natur keine Inspiration oder Erklärung ziehen dürfte. Im Gegenteil! Das Wissen über die Vielfalt tierischer Lebensformen kann helfen, den Blick für die Pluralität des Lebendigen zu schärfen und kann aufzeigen, dass Homogenität kein biologisches Gesetz ist. Aber wer versucht, aus Verhaltensbeobachtungen bei Spinnen, Schwänen oder Schildkröten Rückschlüsse auf gesellschaftliche Fragen zu Geschlechternormen oder Familienmodellen zu ziehen, begibt sich auf dünnes Eis – egal in welche Richtung.

Einordnung der Häufigkeit

Im hier diskutieren Artikel wird darauf verwiesen, dass gleichgeschlechtliches Verhalten "bei mindestens 1.500 Tierarten" nachgewiesen sei – eine Zahl, die seit Jahren in vielen populärwissenschaftlichen Texten kursiert. Doch ohne Kontext bleibt diese Angabe wenig aussagekräftig. Derzeit sind weltweit rund 1,5 bis 2 Millionen Tierarten wissenschaftlich beschrieben, wobei die tatsächliche Zahl der existierenden Arten vor allem bei Insekten und anderen wirbellosen Tieren vermutlich ein Vielfaches davon beträgt (Schätzungen reichen bis zu 8 Millionen oder mehr). Selbst wenn man sich auf die beschriebenen Arten beschränkt, machen jene mit dokumentiertem gleichgeschlechtlichem Verhalten nur einen Bruchteil von unter 0,1 % aus.

Zudem ist zu bedenken: Die Zahl von 1.500 Arten umfasst jegliche dokumentierte gleichgeschlechtliche Interaktion, unabhängig von Häufigkeit, Dauer, Kontext oder Exklusivität. Sie reicht von kurzzeitigem Verhalten in Gefangenschaft bis zu einmaligen Beobachtungen im Freiland. Es handelt sich also nicht um 1.500 "homosexuelle Arten", sondern um Tierarten, bei denen irgendeine Form gleichgeschlechtlichen Verhaltens in sehr unterschiedlicher Qualität und unter sehr unterschiedlichen Bedingungen beschrieben wurde. Eine verlässliche Aussage über die systematische Häufigkeit dieses Verhaltens lässt sich daraus nicht ableiten.

Warum Spinnen kein "queeres Vorbild" sind

Nicht alle im Stern-Artikel genannten Beispiele eignen sich gleichermaßen zur Stützung der zentralen Aussage. So wird etwa gleichgeschlechtliches Verhalten bei Insekten und Spinnen genannt. Doch gerade in diesem Fall ist die Aussage wissenschaftlich äußerst fragwürdig.

Spinnen besitzen, wie viele Gliederfüßer, hochgradig spezialisierte Fortpflanzungsorgane, die bei jeder Art in Form und Funktion präzise aufeinander abgestimmt sind. Die männlichen Pedipalpen (umgewandelte Tastbeine, die das Sperma übertragen) passen mechanisch genau in die Genitalöffnung des Weibchens. Dieses Schlüssel-Schloss-Prinzip ist so spezifisch, dass es sogar zur Artbestimmung genutzt wird. Schon minimale morphologische Unterschiede zwischen Arten äußern sich in der Passform der Kopulationsorgane.

Bei Spinnen und Insekten wurden zwar gelegentlich Fälle beobachtet, in denen Männchen versuchten, andere Männchen zu begatten oder ihnen gegenüber zumindest typisches Balzverhalten zeigten [2]. Die Häufigkeit war im Labor jedoch höher als in natürlichen Umgebungen. Besonders begünstigende Bedingungen waren Isolation, hohe Dichte und die Exposition gegenüber weiblichen Pheromonen. Das gleichgeschlechtliches Sexualverhalten (Same‑Sex Sexual Behavior) dauerte meist kürzer als entsprechende heterosexuelle Aktionen. Forscher interpretieren dieses Verhalten deshalb nicht als Ausdruck gleichgeschlechtlicher Sexualpräferenz, sondern als Verwechslung (Mistaken Identity) infolge unzureichender geschlechtsspezifischer Signale z. B. durch chemische Reize, insbesondere unter Bedingungen hoher Paarungskonkurrenz. Dieses Verhalten scheint sich weiterhin zu erhalten, weil die Kosten einer falschen Zurückweisung eines Weibchens insbesondere bei Spinnen größer sind als gelegentliche Fehlpaarungen mit anderen Männchen.

Gleichgeschlechtliches Sexualverhalten bei Gliederfüßern (Arthropoden) ist somit extrem selten, kurzzeitig, nicht reproduktiv und vor allem nicht erotisch motiviert, sondern durch Wahrnehmungsgrenzen erklärbar. Von "Homosexualität" im eigentlichen Sinne kann bei Spinnen & Co. somit nicht die Rede sein. Dass sie dennoch im Stern-Artikel aufgeführt werden, zeigt exemplarisch, wie schnell sich biologische Begriffe dehnen lassen, wenn sie in einen ideologischen oder aktivistischen Rahmen eingefügt werden. Gerade in einem Beitrag, der sich um wissenschaftliche Präzision bemüht, ist dies ein vermeidbarer Fehler.

Zielgerichtete Evolution?

Im Stern-Artikel wird formuliert, gleichgeschlechtliches Verhalten bei Tieren sei auf den ersten Blick ein "darwinistisches Paradoxon", weil es nicht dem "vermeintlich obersten Ziel eines jeden Lebewesens" diene – nämlich "dem Erhalt der Art". Diese Sichtweise ist allerdings aus evolutionsbiologischer Perspektive grundlegend falsch. Die Vorstellung, dass die Evolution ein Ziel verfolgt oder dass Tiere sich fortpflanzen, um "ihre Art zu erhalten", ist ein längst überholtes, teleologisches Missverständnis.

Evolution hat kein Ziel. Sie ist ein nicht-gerichteter Prozess, in dem Merkmale und Verhaltensweisen ausschließlich danach selektiert werden, ob sie zur Weitergabe des eigenen genetischen Materials beitragen. Rückblickend lässt sich auf langen Zeitskalen dadurch zwar eine Richtung im Sinne einer fortlaufenden Veränderung beobachten, jedoch ist diese Richtung ziellos. In jeder Generation entstehen nicht nur optimierte Nachkommen, sondern auch welche, die weniger effizient angepasst sind und deshalb aus dem Genpool ausscheiden. Was sich auf der Ebene des Individuums bewährt (also die Reproduktion des Genotyps), kann somit zwar auf Populationsebene zu Stabilität führen, aber das ist lediglich eine Folge, kein Zweck. Arten "erhalten" sich nicht, weil Individuen dies wollen, sondern weil sich genetisch erfolgreiche Strategien in der jeweiligen Umwelt gegenüber nicht-erfolgreichen Strategien durchsetzen.

Diese Unschärfe schlägt sich auch in der späteren Darstellung nieder, Pinguinpaare wie Roy und Silo würden in freier Wildbahn verwaiste Eier ausbrüten, um dem Tod geweihte Küken zu retten. Implizit wird dabei unterstellt, gleichgeschlechtliche Tiere würden altruistisch handeln – etwa im Sinne eines sozialen Engagements für den Fortbestand ihrer Art oder Gruppe. Doch dafür gibt es keinen belastbaren Beleg. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich das beobachtete Brutpflegeverhalten gleichgeschlechtlicher Paare bei Pinguinen, Schneegänsen etc. nicht aus altruistischer Motivation, sondern als Nebenprodukt anderer Verhaltensmuster ergibt, etwa aus einem stark ausgeprägten Bruttrieb und einer hormonell gesteuerten Reaktion auf Eier oder Küken im Nest und zwar unabhängig davon, ob das Ei selbst gelegt wurde. Insbesondere bei Partnermangel oder in Haltungen in menschlicher Obhut bilden sich solche gleichgeschlechtlichen Pflegegemeinschaften häufiger. Dass sich dieses Verhalten in bestimmten Kontexten als vorteilhaft für die Bestandserhaltung herausstellen kann, ist möglich, doch auch hier gilt: Es ist kein Ziel, sondern eine evolutionäre Folge.

Von wahlloser Paarung zur Zweigeschlechtlichkeit?

Im letzten Abschnitt des Artikels wird eine Hypothese zitiert, der zufolge gleichgeschlechtliches Verhalten ursprünglich der "Normalzustand" gewesen sein könnte. Statt danach zu fragen, warum Tiere gleichgeschlechtliches Verhalten zeigen, stellen manche Forscher die Frage: Warum eigentlich nicht? Ihrer Ansicht nach könnte in frühen Stadien der Evolution ein wahlloses Paarungsverhalten (also sexuelle Interaktionen mit Partnern beider Geschlechter) ohne feste Präferenz geherrscht haben. Gleichgeschlechtliches Verhalten wäre demnach kein Paradoxon, sondern ein evolutionäres Überbleibsel, das nur dort verschwunden sei, wo es besonders kostspielig wurde.

Tatsächlich wirft diese Sichtweise einige grundlegende und berechtigte Fragen zur Evolution von Sexualität und Geschlecht auf. In der Frühgeschichte der Eukaryoten, also noch vor der Herausbildung komplexer Geschlechtsindividuen, war Fortpflanzung häufig noch isogam, d. h. alle Individuen produzierten Geschlechtszellen (Gameten) gleicher Größe und Form. Erst im Laufe der Evolution entwickelte sich daraus die Anisogamie: das Prinzip zweier unterschiedlich spezialisierter Gametentypen (viele Mikrogameten/Spermien und wenige Makrogameten/Eizellen), das heute die Basis der Zweigeschlechtlichkeit in den allermeisten Vielzellern bildet.

In diesem Übergang liegt eine der zentralen Fragen der Evolutionsbiologie. Wie und warum entstanden zwei reproduktiv unterschiedliche Geschlechter? War sexuelle Differenz von Anfang an ein Produkt funktionaler Optimierung? Oder entwickelte sie sich aus einem flexiblen, unspezifischen System, das zunächst wenig zwischen "gleich" und "ungleich" unterschied? Die Vorstellung, dass frühe sexuelle Systeme durch nicht-exklusive Paarungen und experimentelle Reproduktionsversuche (Try and Error) geprägt waren, ist nicht unplausibel. Im Verlauf der Evolution könnten sich dann heterosexuelle Kombinationen, die zur erfolgreichen Verschmelzung komplementärer Gameten führten, als besonders effizient herausgestellt haben. Auf diesem Weg hätte sich die Zweigeschlechtlichkeit als optimierte Fortpflanzungsstrategie durchgesetzt, während gleichgeschlechtliches Verhalten zurücktrat oder allenfalls als Randphänomen mit sozialer oder ritualisierter Funktion bestehen blieb.

Diese Fragen sind Gegenstand aktueller Forschungsdiskussionen in der Evolutions- und Sexualbiologie. Sie sind spannend, weil sie zeigen, das sexuelle Vielfalt in der Natur eine weder lineare noch eindeutige Geschichte hat. Aber auch hier gilt: Solche Hypothesen über frühe Paarungssysteme sind nicht automatisch übertragbar auf heutige Verhaltensweisen des Menschen. Die Ursprünge der Zweigeschlechtlichkeit zu erforschen, heißt nicht, das Konzept menschlicher Homoerotik evolutionär herzuleiten. Vielmehr geht es darum, die Komplexität sexueller Entwicklung über lange Zeiträume zu verstehen – ohne vorschnelle Analogieschlüsse.

Fazit

Der Stern-Artikel ist ein lesenswerter Beitrag, der sich wohltuend von aktivistischen Kurzschlüssen abhebt und an mehreren Stellen zur Zurückhaltung mahnt. Doch auch er verfällt stellenweise einer sanften Form des Biologismus, wenn er den Eindruck erweckt, die "Natürlichkeit" gleichgeschlechtlichen Verhaltens könne oder müsse zur gesellschaftlichen Akzeptanz beitragen. Wer Akzeptanz jedoch biologisch begründen will, läuft immer Gefahr, sich von ihr zu entfernen, sobald die Biologie nicht (mehr) mitspielt. Die Achtung der Menschenwürde, sexuellen Selbstbestimmung und sozialen Vielfalt darf nicht von Tiervergleichen abhängen – weder im Guten noch im Schlechten.

Quellen

[1] Nathan W. Bailey, Marlene Zuk, Same-sex sexual behavior and evolution, Trends in Ecology & Evolution, Volume 24, Issue 8, 2009, Pages 439-446, ISSN 0169-5347, https://doi.org/10.1016/j.tree.2009.03.014.

[2] Scharf, I., Martin, O.Y. Same-sex sexual behavior in insects and arachnids: prevalence, causes, and consequences. Behav Ecol Sociobiol 67, 1719–1730 (2013). https://doi.org/10.1007/s00265-013-1610-x

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