Samstag, 26. Juli 2025

Apotheken Umschau postuliert Geschlechterspektrum

Vor kurzem ist in der Apotheken Umschau ein ausführlicher Beitrag mit dem Titel "Mehr als Frau und Mann? Warum die Biologie vom Geschlecht als Spektrum spricht" erschienen. Der Artikel möchte zeigen, dass die klassische Zweigeschlechtlichkeit nur ein grobes Raster sei und die biologische Realität viel bunter und vielfältiger aussehe. Das klingt auf den ersten Blick modern und inklusiv. Wer sich jedoch mit Evolutionsbiologie im Allgemeinen und Entwicklungs- bzw. Sexualbiologie im Speziellen ein wenig auskennt, wird beim Lesen schnell merken: Der Artikel beginnt zwar mit einem absolut korrekten Grundsatz, entfernt sich dann aber Schritt für Schritt von dem, was die Biologie tatsächlich über „Geschlecht" aussagt.

Der einzige biologische Geschlechtsbegriff: Anisogamie

Gleich zu Beginn zitiert der Artikel die Biologin Nadine Hornig mit einem Satz, der eigentlich nicht besser formuliert werden könnte:

„In der Biologie definiert man das Geschlecht häufig über die Geschlechtszellen, also die Eizellen und Spermien. Menschen mit Eizellen sind demnach als Frauen definiert, Menschen mit Spermien als Männer“, sagt die Biologin Nadine Hornig, Leiterin der Forschungsgruppe für Geschlechtsentwicklung am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein.

Genau das ist die Kern-Definition, auf die sich die gesamte Evolutionsbiologie seit über hundert Jahren einigt – und sie ist bemerkenswert robust [1][2]. Sie beruht auf der Anisogamie. Bei praktisch allen Lebewesen, die sich sexuell fortpflanzen (also von Algen über Insekten bis zum Menschen), gibt es genau zwei Typen von Gameten: nährstoffreiche, meist unbewegliche Makrogameten in Form von Eizellen und kleine, nährstoffarme Mikrogameten in Form von Spermazellen – bei Tieren als bewegliche Spermien (Spermatozoen) ausgebildet. Dazwischen gibt es nichts. Keine dritte Gametenart, kein Kontinuum, kein Spektrum. Wer sagt, "die Biologie" kenne nur zwei Geschlechter, sagt deshalb nichts Ideologisches – er wiederholt lediglich die einzige objektive, operationalisierbare und universell gültige Definition von Geschlecht, die wir haben. Alles andere – Chromosomen, Hormone, äußere oder innere Genitalien, Gehirnstrukturen oder subjektive Identität – sind sekundäre Merkmale, die sich evolutionär entwickelt haben, um die Produktion genau dieser einen oder anderen Gametenart zu ermöglichen oder zu unterstützen.

Dass die Apotheken Umschau diesen Punkt im Ansatz korrekt darstellt, ist deshalb ausdrücklich lobenswert. Leider wird genau diese klare Definition im weiteren Verlauf des Artikels wieder verwässert. Zunächst bleibt festzuhalten: Solange es nur zwei Gametentypen gibt, gibt es aus rein biologischer Sicht genau zwei Geschlechter. Punkt.
 
Mehr zum Thema: Was sind Geschlechter?

Wenn aus einer klaren Definition plötzlich ein "Spektrum" wird

Kaum hat der Artikel die einzig korrekte biologische Definition von Geschlecht genannt, wird sie sofort wieder relativiert. Die Biologin zitierend heißt es:

„Das ist aber eine starke Vereinfachung. Letztendlich ist die Geschlechtsentwicklung genetisch, hormonell und durch Umweltfaktoren beeinflusst“, so Hornig. Dadurch komme es eher zu einem individuellen Geschlecht, das von Person zu Person anders ausgeprägt sein kann. 

Das ist ein klassischer Ebenenwechsel, der in solchen populären Texten immer wieder vorkommt. Ja, die Geschlechtsentwicklung beim Menschen (und bei vielen anderen Arten) ist komplex und kann durch genetische Varianten, Hormonstörungen oder Umwelteinflüsse gestört werden. Das betrifft aber nicht die Kategorie "Geschlecht" selbst, sondern nur die sekundäre Geschlechtsausprägung eines individuellen Organismus. Geschlecht als biologische Kategorie ist keine artspezifische Eigenschaft des Menschen – sie gilt für alle anisogamen, gonochoristischen Arten (also praktisch das gesamte Tierreich und viele Pflanzen). Man kann sie deshalb nicht über die konkrete Ausprägung von Hormonrezeptoren, Genitalmorphologie oder sekundären Geschlechtsmerkmalen beim Homo sapiens definieren. Das wäre, als würde man die Kategorie "Säugetier" über die Frage definieren, ob ein Tier vier oder fünf Zehen hat. Die grundlegende Definition bleibt: große Gameten → weiblich, kleine Gameten → männlich. Alles andere ist nachgeordnet.

Direkt im Anschluss fällt dann der Satz, der dem Artikel seinen Titel gibt:

In der Wissenschaft sprechen wir deshalb oft auch von Geschlecht als Spektrum“, sagt Hornig.

Das ist schlicht falsch. Ein echtes Spektrum würde ein Kontinuum oder zumindest mehrere Zwischenformen der Gameten erfordern. Genau das gibt es nicht. Es gibt weltweit keine dokumentierte dritte Gametenmorphologie und auch keine fließenden Übergänge zwischen Eizelle und Spermium. Selbst bei den extrem seltenen ovotestikulären Störungen der Geschlechtsentwicklung (früher "echter Hermaphroditismus" genannt), bei denen ein Individuum sowohl ovariales als auch testikuläres Gewebe besitzt, werden weiterhin nur die zwei bekannten Gametentypen gebildet – oder gar keine funktionsfähigen. Ein "drittes Geschlecht" oder eine "Zwischen-Gamete" existiert auch hier nicht. Die Kategorie bleibt binär.
 
Mehr zum Thema: Geschlecht ist nicht gleich Geschlechtsausprägung

Das Beispiel Androgenresistenz

Als Beleg für die angebliche Uneindeutigkeit wird dann die komplette Androgeninsensitivität (CAIS) angeführt:

„Menschen mit kompletter Androgenresistenz können XY-Chromosomen haben, also chromosomal männlich sein, aber äußerlich von Geburt an trotzdem dem weiblichen Bild entsprechen. […] Sie haben jedoch keine Eierstöcke, sondern innenliegende Hoden. In solchen Fällen muss man sich schon fragen, was der ausschlaggebende biologische Faktor sein soll, der das Geschlecht eindeutig zuordnet.“, so Hornig.

Die Antwort ist eigentlich einfach und wird in der Fachliteratur seit Jahrzehnten einheitlich gegeben: CAIS ist eine Störung der Geschlechtsentwicklung des männlichen Geschlechts (46,XY DSD). Die Betroffenen entwickeln Hoden (wenn auch oft unvollständig abgestiegen) und produzieren potenziell Spermien-Vorläuferzellen. Sie besitzen keinerlei ovarielles Gewebe. Der Entwicklungspfad ist von Anfang an männlich – nur die androgenabhängige Ausprägung der äußeren und einiger innerer Strukturen bleibt aus. Biologisch gesehen ist das Geschlecht deshalb eindeutig männlich. Dass diese Personen aufgrund ihres weiblichen Erscheinungsbildes zum Zeitpunkt der Geburt meist als Mädchen aufwachsen und sich auch so identifizieren, ist psychologisch und sozial verständlich – ändert aber nichts an der zugrundeliegenden biologischen Kategorie. Die primären Geschlechtsorgane (Gonaden) und das potenzielle Gametenprofil sind männlich, und zwar ausschließlich männlich. Eine "Uneindeutigkeit" gibt es hier nicht – nur eine seltene Entwicklungsstörung innerhalb einer der beiden existierenden Kategorien.

Genau hier wird der entscheidende Fehler vieler populärer Darstellungen sichtbar: Man verwechselt die Ebene der Gameten (die das Geschlecht definiert) mit der Ebene des Phänotyps (der in den allermeisten Fällen, aber eben nicht immer mit dem Geschlecht korreliert). Das ist verständlich, wenn man anthropozentrische Medizin oder Psychologie im Blick hat – aus rein biologisch-naturalistischer Sicht jedoch nicht haltbar.
 
Mehr zum Thema: Olympia: Der Fall Imane Khelif

Gravierende Falschbehauptung über "menschliche Zwitter"

Der Artikel wird an einer Stelle leider mehr als nur ungenau:

Manche Menschen haben sowohl Eierstöcke als auch Hoden, sowohl Eizellen als auch Spermien, wieder andere nichts von beidem.

Das ist so nicht korrekt – und zwar aus einem sehr einfachen Grund: Bis heute ist kein einziger Fall eines erwachsenen Menschen dokumentiert, der gleichzeitig funktionsfähige Eizellen und funktionsfähige Spermien produziert hat. Bei den extrem seltenen ovotestikulären Störungen der Geschlechtsentwicklung (Ovotesticular DSD, früher wie gesagt als "echter Hermaphroditismus" bezeichnet, jedoch kein funktionaler Hermaphroditismus im evolutionsbiologischen Sinne) findet man tatsächlich in ein und derselben Person sowohl ovariales als auch testikuläres Gewebe. Bei der lateralen Variante in der Tat getrennt auf zwei Gonaden (also ein Eierstock und ein Hoden). Das ist soweit richtig. Aber in der überwiegenden Mehrzahl dieser Fälle ist nur eines der beiden Gewebe fertil – meist das ovariale. Simultane Produktion reifer Eizellen und reifer Spermien beim selben Individuum ist beim Menschen nicht bekannt. Selbst in den wenigen publizierten Fällen, in denen beide Gewebe vorhanden waren, lagen meist schwere Keimzell-Schäden vor, sodass zumindest präoperativ keine fertilen Gameten beider Typen gebildet wurden.

Entscheidend ist aber ohnehin etwas anderes: Selbst wenn es einmal einen Menschen gäbe, der tatsächlich beide Gametenarten produzieren könnte (A + B), wäre das immer noch kein drittes Geschlecht C. Es wäre schlicht ein extrem seltener Fall von gleichzeitiger Zugehörigkeit zu beiden existierenden Geschlechtern – also eine besondere Form der Geschlechtsorganisation (simultaner Hermaphroditismus), aber keine neue Kategorie jenseits der beiden Gametentypen resp. Geschlechter.

Das völlige Fehlen funktionsfähiger Gonaden oder Keimzellen (wie etwa bei manchen Formen von Gonadendysgenesie) begründet erst recht kein zusätzliches Geschlecht. Der Entwicklungspfad ist auch dann entweder primär weiblich oder primär männlich – nur eben gestört.
 
Mehr zum Thema: Ovotestikuläre DSD: Grenzen der Schubladen

Transgeschlechtlichkeit und das "Gehirn-Geschlecht"

Der Artikel schwenkt dann auf Transgeschlechtlichkeit:

Trans-Frauen sind Personen, die sich als Frauen identifizieren, denen bei der Geburt aufgrund von äußerlichen Merkmalen aber das männliche Geschlecht zugeordnet wurde. Gehirn und der restliche Körper könnten demnach in ihrer Geschlechtlichkeit voneinander abweichen.

Auch hier wird wieder eine Ebene mit einer anderen vermischt. Selbst wenn man der derzeit populären Hypothese folgt, dass das Empfinden der eigenen Geschlechtsidentität durch eine partiell abweichende pränatale Hirnentwicklung entsteht (z. B. ein "nicht ausreichend maskulinisiertes" Gehirn bei einem ansonsten männlichen Körper), ändert das nichts an der biologischen Definition von Geschlecht. Ein "nicht ausreichend maskulinisiertes" Gehirn ist nämlich genau dasselbe Phänomen wie "nicht ausreichend maskulinisierte" Genitalien bei kompletter Androgeninsensitivität – nur auf einer anderen Organisationsebene. In beiden Fällen bleibt der Organismus biologisch männlich, weil die Gonaden (bzw. das Gonadenpotenzial) und damit der Gametentyp eindeutig männlich sind oder wären. Die Zuordnung "männlich" bei der Geburt erfolgt also nicht nur "aufgrund äußerlicher Merkmale", wie der Artikel suggeriert, sondern weil der gesamte reproduktive Entwicklungsweg – von den Gonaden bis zur Gametenproduktion – männlich ist. Subjektive Identität oder neuronale Muster mögen psychologisch und klinisch hochrelevant sein, für die biologische Kategorie "Geschlecht" sind sie jedoch irrelevant.

Kurz gesagt: Auch wenn das Gehirn in manchen Fällen eine andere "Geschlechtlichkeit" signalisiert als der Körper – die binäre Geschlechtsdefinition bleibt davon unberührt.
 
Mehr zum Thema: Das "Transgender-Gehirn"

"Geschlecht kann sich im Laufe der Zeit verändern" – wirklich?

In dem Artikel wird ein Postulat aufgestellt, das auf den ersten Blick spektakulär klingt:

„Geschlecht kann sich durchaus auch im Laufe der Zeit verändern“, sagt Prof. Dr. Olaf Hiort, Leiter des Hormonzentrums für Kinder- und Jugendliche am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein."

Der Artikel relativiert zwar sofort, dass dies "meist nicht in Bezug auf die grundlegenden Geschlechtsorgane" geschehe, sondern vor allem hormonell und bei sekundären Merkmalen – doch dann folgt trotzdem die Behauptung, die Geschlechtlichkeit ginge "dadurch auch in einen Zwischenraum".

Das ist irreführend formuliert und basiert ebenfalls auf einem Kategorienfehler. Auf der einzigen Ebene, auf der „"Geschlecht" biologisch definiert wird (falls noch nicht erwähnt: Gametenproduktion bzw. dem zugrundeliegenden reproduktiven Entwicklungspfad) gibt es keinen Zwischenraum und bei landlebenden Organismen mit innerer Befruchtung wie Säugetieren (Mammalia) und Reptilien inkl. Vögeln (Sauropsida) keine Veränderung im Lebensverlauf (sequenzieller Hermaphroditismus), weil bei ihnen das gesamte Fortpflanzungssystem, von den Gonaden bis zu den äußeren Geschlechtsmerkmalen stark ausdifferenziert ist. Eine Umstrukturierung würde massive hormonelle und anatomische Veränderungen erfordern, die biologisch extrem aufwendig und riskant wären.

Das Säugetier Mensch, dessen Gonaden sich einmal in Richtung Hoden entwickelt haben, kann daher nie funktionsfähige Eizellen produzieren, und umgekehrt. Weder Hormone, noch sog. "Pubertätsblocker" oder Operationen können diesen Entwicklungspfad nachträglich umkehren. Das primäre biologische Geschlecht (männlich oder weiblich) bleibt von der 6.–8. Schwangerschaftswoche bis zum Tod unveränderlich festgelegt. Was sich verändern kann, sind sekundäre und tertiäre Merkmale wie Brustwachstum, Stimmbruch, Fettverteilung, Muskelmasse, Behaarung usw. Das ist medizinisch hochrelevant – aber es macht aus einem Mann keine Frau und aus einer Frau keinen Mann. Ein "Zwischenraum" entsteht hier ausschließlich auf der anthropozentrischen Ebene der menschlichen Phänotyp-Ausprägung, nicht auf der universellen Ebene des Geschlechts. Diese beiden Ebenen zu vermischen ist der Kern vieler Missverständnisse.
 
Mehr zum Thema: Sex Reversal: Wenn Männchen zu Weibchen werden – und umgekehrt

Medizin braucht Präzision – keine neue Ontologie

Im weiteren Artikelverlauf wird ein wichtiges Argument der Medizin ins Feld geführt:

„Es ist ein Riesenfehler, wenn ich die Behandlung nur grob nach männlich und weiblich einteile. Ich muss genauer hinsehen“, sagt Hiort.

Hier stimmt jedes Wort – nur die Schlussfolgerung des Artikels ist falsch. Natürlich braucht die Medizin ein extrem differenziertes Verständnis von Hormonwirkungen, Rezeptorfunktionen, Metabolisierungswegen und individuellen Variationen innerhalb der beiden Geschlechter. DSD-Patienten, Menschen mit Hormonstörungen oder Geschlechtsdysphorie benötigen maßgeschneiderte Therapien. Aber genau dafür muss man das primäre "biologische" Geschlecht erst recht präzise kennen. Je genauer man die zugrundeliegende Kategorie "männlich" oder "weiblich" auf Basis des Entwicklungspfads in Richtung der Produktion einer von beiden Gameten bestimmt, desto besser kann man Abweichungen und individuelle Besonderheiten behandeln. Ein "breiteres Verständnis von Geschlecht" bedeutet also nicht, die binäre Grundkategorie aufzugeben, sondern sie als unverrückbare Basis zu nutzen, auf der man dann alle weiteren Variationen kartiert.

Die Medizin braucht keine neuen Geschlechter – sie braucht bessere Landkarten der Variationen innerhalb der beiden existierenden.

Anne Fausto-Sterling und die Erfindung neuer Geschlechter

Ein Klassiker darf natürlich nicht fehlen:

Die Biologin Anne Fausto-Sterling schlug im Jahr 1993 drei zusätzliche Geschlechter zu weiblich und männlich vor. Später ergänzte sie, dass auch das wohl noch zu stark vereinfacht sei und ein Spektrum der Realität wohl näherkomme.

Was der Artikel verschweigt: Fausto-Sterlings "Vorschlag" von 1993 ('The Five Sexes' [3]) war von Anfang an ein bewusst provokatives, feministisch-politisches Manifest, kein ernsthafter biologischer Beitrag. Sie erfand die Kategorien "herms", "merms" und "ferms" schlicht, indem sie klinische Syndrome der Geschlechtsentwicklung (DSD) zu eigenständigen "Geschlechtern" hochstilisierte – ein Kategorienfehler erster Güte. Später räumte sie selbst ein, dass der Text satirisch überzeichnet war, wurde aber trotzdem zur meistzitierten Quelle für die Behauptung, die Biologie kenne mehr als zwei Geschlechter. In Wahrheit hat sie nie einen einzigen Fall einer dritten Gametenart oder eines neuen reproduktiven Rollen-Typs beschrieben. Ihr "Spektrum" ist deshalb kein biologisches, sondern ein politisches Konstrukt.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass der Apotheken-Umschau-Artikel die naturwissenschaftlichen Gefilde endgültig verlassen hat und stattdessen in ideologische Narrative abdriftet.
 
Mehr zum Thema: Wie häufig ist "Intersexualität"?

Strohmann: Das binäre Modell schließe Menschen aus

Es folgt der unvermeidliche Appell an die Gefühle:

„Es ist wichtig, weiter daran zu forschen, weil es Menschen gibt, die durch das binäre Modell medizinisch und gesellschaftlich ausgeschlossen werden“, sagt Hornig.

Das ist ein Strohmann-Argument! Das "binäre Modell" der Biologie – also die einfache Tatsache, dass es zwei Gametentypen gibt – schließt niemanden aus. Jeder Mensch, ausnahmslos jeder, gehört diesem Modell an. Entweder sein reproduktiver Entwicklungspfad zielt auf kleine Gameten ab (männlich) oder auf große Gameten (weiblich) – oder er hat eine Störung dieses Pfades, bleibt aber trotzdem in einer der beiden Kategorien oder deckt in extrem seltenen Fällen beide ab (ovotestikuläre DSD) und bestätigen damit die Binarität. Denn "Ausnahmen" (die streng genommen gar keine sind) bestätigen die Regel. Menschen mit DSD sind daher nicht "außerhalb" der Binarität, sie sind seltene Variationen innerhalb der beiden Geschlechtskategorien. Wer behauptet, sie würden durch das binäre Modell "ausgeschlossen", hat entweder die Biologie nicht verstanden oder will sie bewusst politisch delegitimieren.

Was wir brauchen, ist nicht die Abschaffung der Binarität, sondern ihre kluge Anwendung: die volle gesellschaftliche und medizinische Anerkennung eines breiten, vielfältigen Spektrums männlicher und weiblicher Ausprägungen – bei gleichzeitiger Beibehaltung der klaren biologischen Grundkategorie.
 
Mehr zum Thema: Wenn Biologie zur Bedrohung wird

Claire Ainsworth und das erfundene Sex-Spektrum

Zum Schluss wird noch ein oft missbrauchter Nature-Artikel erwähnt:

Immer wieder wird in der Diskussion um die Zahl der Geschlechter ein Aufsatz der Wissenschaftsjournalistin und Biologin Claire Ainsworth herangezogen, der vermeintlich von mehr als zwei biologischen Geschlechtern spricht. Sie stellte später jedoch klar, dass sie von der Existenz nur zweier biologischer Geschlechter ausgehe, „mit einem Kontinuum anatomischer und physiologischer Variationen“. Das kann man auch als Spektrum zwischen den zwei Fixpunkten männlich und weiblich verstehen.

Dass die Apotheken Umschau Ainsworths eigene Klarstellung überhaupt erwähnt, ist erfreulich und selten. Dass dann sofort wieder "zwischen den zwei Fixpunkten" dazu gedichtet wird, ist jedoch irreführend. Ainsworth hat in 'Sex redifined' (2015) nie von einem Kontinuum zwischen männlich und weiblich gesprochen, sondern ausdrücklich von Variationen der beiden Geschlechter [4]. 
 
Die Hintergründe eines "bimodalen Modells" werden von Laien häufig missverstanden. Wenn man in einem Plot beispielsweise Körpergröße, Testosteronspiegel oder Klitoris-/Penislänge aufträgt, erhält man zwei überlappende Normalverteilungen für die beiden, zuvor auf Basis der Anisogamie definierten Geschlechter und kann daraus eine bimodale Verteilungen berechnen – also ein breites Spektrum männlicher und weiblicher Ausprägungen. Ein echtes Kontinuum zwischen den Geschlechtern würde aber bedeuten, dass man mit dem geschlechtsdefinierenden Merkmal (Gametenmorphologie) ebenfalls ein Kontinuum erhält. Doch hierbei gibt es genau zwei diskrete Klassen ohne jeden Übergang. Deshalb ist Geschlecht als biologische Kategorie kein Spektrum. Die "Fixpunkte" selbst sind die einzigen Punkte, die es gibt.
 
Mehr zum Thema: Warum "Geschlecht" kein Spektrum ist

Fazit

Die Biologie spricht nicht vom Spektrum – sie spricht Klartext! Der Apotheken-Umschau-Artikel beginnt mit einer mustergültigen, korrekten Definition von Geschlecht, verlässt sie dann jedoch Schritt für Schritt zugunsten modischer Formulierungen. Variationen in der Geschlechtsentwicklung sind real. Sie sind medizinisch, psychologisch und menschlich bedeutsam. Aber sie schaffen weder ein Spektrum der Geschlechter noch dritte oder zwischengeschlechtliche Kategorien. Solange es nur zwei Gametentypen gibt – und das wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern –, bleibt die biologische Antwort eindeutig: zwei Geschlechter. Alles andere ist Variation innerhalb dieser beiden Kategorien, keine Aufhebung der Kategorien selbst. Wer Inklusion und Präzision wirklich ernst nimmt, sollte deshalb nicht das binäre Fundament verwässern, sondern darauf aufbauen. Das ist die ehrlichste, menschlichste und respektvollste Position gegenüber Natur und Mensch gleichermaßen.

Quellen

[1] D. Speijer, J. Lukeš, & M. Eliáš, Sex is a ubiquitous, ancient, and inherent attribute of eukaryotic life, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 112 (29) 8827-8834, https://doi.org/10.1073/pnas.1501725112 (2015).

[2] Goymann, W., Brumm, H., & Kappeler, P. M. (2023). Biological sex is binary, even though there is a rainbow of sex roles. BioEssays, 45, e2200173. https://doi.org/10.1002/bies.202200173

[3] Fausto-Sterling, A. (1993), THE FIVE SEXES. The Sciences, 33: 20-24. https://doi.org/10.1002/j.2326-1951.1993.tb03081.x

[4] Ainsworth, C. Sex redefined. Nature 518, 288–291 (2015). https://doi.org/10.1038/518288a

Sonntag, 20. Juli 2025

Ist das Geschlecht wirklich ein Münzwurf?

Eine im Fachjournal Science Advances veröffentlichte Studie mit dem Titel "Is sex at birth a biological coin toss?" wirft Zweifel daran auf, ob die Verteilung von männlich und weiblich bei Geburten tatsächlich dem sprichwörtlichen 50:50-Münzwurf entspricht [1]. 

Doch was genau wurde untersucht und wie belastbar sind die Ergebnisse?

Der Kern der Studie

Die Forscher werteten über 146.000 Schwangerschaften von rund 58.000 US-amerikanischen Krankenschwestern im Zeitraum von rund 60 Jahren (1956–2015) aus. Auffällig war dabei, dass in vielen Familien überdurchschnittlich häufig Kinder desselben Geschlechts zur Welt kamen. Dieses Muster wich deutlich von dem ab, was man bei einem reinen Zufallsprozess (wie einem Münzwurf) erwarten würde.

Das Forschungsteam entwickelte daraufhin ein sogenanntes "weighted coin"-Modell: Eine "gewichtete Münze", bei der einige Eltern offenbar eine systematische Tendenz für ein bestimmtes Geschlecht zeigen (58 % Wahrscheinlichkeit für ein weiteres Mädchen nach drei Töchtern bzw. 61 % für einen vierten Jungen nach drei Jungen).

Was könnte dahinterstecken?

Die Studie nennt zwei potenzielle Einflussfaktoren:

Das Alter der Mutter beim ersten Kind: Frauen, die mit über 28 Jahren erstmals gebären, bekommen häufiger Kinder desselben Geschlechts – eine mögliche Folge hormoneller Veränderungen oder altersbedingter physiologischer Prozesse.

Genetische Veranlagung: In einer genomweiten Assoziationsanalyse (GWAS) wurden zwei Genorte identifiziert, die mit einer einseitigen Geschlechtsverteilung assoziiert sein könnten.

So spannend die Hypothese einer "gewichteten Münze" auch klingen mag, die Schlussfolgerungen sind mit Vorsicht zu genießen. Denn obwohl das Geschlecht eines Kindes maßgeblich vom Gonosom (Geschlechtschromosom) des Vaters abhängt (X oder Y), wurden väterliche Informationen in der Studie gar nicht erfasst. Das ist eine erhebliche Lücke, gerade bei genetisch bedingten Effekten.

Die Assoziationen im GWAS sind zwar statistisch interessant, aber weit entfernt von einem Beweis. Ohne funktionelle Studien bleibt unklar, ob die gefundenen Gene tatsächlich eine Rolle spielen oder nur zufällig mitspielen.

Die Kohorte bestand außerdem ausschließlich aus US-amerikanischen Krankenschwestern. Das ist weder sozial noch ethnisch repräsentativ. In großen Stichproben finden sich darüber hinaus fast immer "auffällige" Muster. Ob diese wirklich biologisch bedeutsam sind oder nur ein Artefakt der Datenmenge darstellen, bleibt offen. Die Vorstellung, dass biologische Prozesse wie die Geschlechtsverteilung bei der Geburt mehr als bloß Zufall sind, ist verführerisch. Doch zwischen auffälligen Datenmustern und soliden biologischen Erklärungen liegt ein weiter Weg.

Obwohl die Studie nahelegt, dass es auf individueller oder familiärer Ebene eine Tendenz zu mehr Kindern eines bestimmten Geschlechts geben kann, bedeutet das nicht, dass sich dieses Muster auf die gesamte Bevölkerung überträgt. In einer großen, zufällig durchmischten Population gleichen sich solche individuellen Verschiebungen in der Regel aus: Familien mit einem "Mädchenüberschuss" werden statistisch durch Familien mit einem "Jungenüberschuss" ausgeglichen. So bleibt das durchschnittliche Verhältnis von Geburten weltweit weiterhin erstaunlich stabil bei ungefähr 50:50.

Fazit

Die Studie liefert interessante Hypothesen. Sie wirft wichtige Fragen auf, kann sie jedoch bislang nicht überzeugend beantworten. Die Rolle des väterlichen Beitrags bleibt völlig offen und auch die gefundenen genetischen Hinweise sind vorerst spekulativ. Wer Sexualbiologie ernst nimmt, sollte in dieser Studie keine Revolution, sondern einen spannenden, aber unvollständigen Mosaikstein sehen. Dass der Geburtssexus nicht immer rein zufällig verteilt ist, könnte stimmen, aber wir wissen noch längst nicht, warum.

Quellen

[1] Siwen Wang et al., Is sex at birth a biological coin toss? Insights from a longitudinal and GWAS analysis. Sci. Adv. 11, eadu7402 (2025). DOI: 10.1126/sciadv.adu7402

Samstag, 19. Juli 2025

Sinkende Geburtenrate im Lichte der Evolution

Die Geburtenrate gehört zu den wichtigsten demografischen Indikatoren. Sie reflektiert nicht nur das individuelle Fortpflanzungsverhalten, sondern hat weitreichende Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung, soziale Infrastrukturen sowie langfristige Evolutions- und Populationsdynamiken. Mit einem aktuellen Tiefstand in Deutschland rücken Fragen nach biologisch-evolutionären Mechanismen stärker in den Fokus.

Aktuelle Befunde zur Geburtenziffer in Deutschland

Das Statistische Bundesamt meldet für das Kalenderjahr 2024 eine zusammengefasste Geburtenziffer von 1,35 Kindern je Frau, was einem Rückgang um 2 % im Vergleich zu 2023 entspricht (zuvor 1,38). Insgesamt wurden 677.117 lebendgeborene Kinder registriert. Das sind 15.872 Geburten weniger als im Vorjahr [1].

Es zeigen sich deutliche regionale Unterschiede. Während Niedersachsen mit 1,42 Kindern je Frau die höchste Fertilitätsrate verzeichnet, liefert Berlin mit 1,21 den niedrigsten Wert. Auch nach Staatsangehörigkeit differenziert sich die Analyse. Deutsche Frauen erreichten eine Ziffer von 1,23 (und damit ein Niveau, das zuletzt 1996 gemessen wurde), während Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit bei 1,84 lagen – allerdings ebenfalls mit einem Rückgang gegenüber dem Vorjahr um rund 2 %.

Evolutionstheoretische Deutungen niedriger Geburtenraten

Die Fortpflanzung des Menschen ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels biologischer und sozialer Faktoren. Auf der biologischen Ebene sind die zentralen Determinanten der Fertilität unter anderem das reproduktive Zeitfenster zwischen der Menarche und der Menopause sowie die altersabhängige Abnahme der ovariellen Reserve und der Samenqualität. Diese natürlichen Grenzen der Reproduktionsfähigkeit treffen in modernen Gesellschaften auf Lebensbedingungen, die den Zeitpunkt der Familiengründung zunehmend in spätere Lebensphasen verschieben. Damit steigt nicht nur das Risiko ungewollter Kinderlosigkeit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit einer geringeren Kinderzahl insgesamt.

In der Evolutionsbiologie ist Reproduktion das zentrale Maß evolutionärer Fitness – also des Beitrags eines Organismus zur nächsten Generation. Doch Fitness ist kein abstrakter Zwang zur Fortpflanzung "um jeden Preis", sondern ein anpassungsfähiges Zusammenspiel aus Kosten und Nutzen im Kontext der jeweiligen Umweltbedingungen. Genau hier setzt das Verständnis niedriger Geburtenraten in modernen Gesellschaften an. Sie sind nicht notwendigerweise ein Ausdruck biologischen Versagens, sondern können als Folge veränderter Selektionsdrücke interpretiert werden.

Ein Schlüsselkonzept ist die Unterscheidung zwischen r-Strategien (viele Nachkommen, geringe elterliche Investition) und K-Strategien (wenige Nachkommen, hohe Investition). Homo sapiens ist eindeutig ein K-Stratege. Seine Nachkommen benötigen über viele Jahre hinweg intensive elterliche Betreuung, was ihre Zahl begrenzt. Der Mensch hat sich über Jahrtausende hinweg in einem Umfeld entwickelt, das auf hohe Kindersterblichkeit, begrenzte Ressourcen und kurze Lebensspannen ausgelegt war. In solchen früheren ökologischen Kontexten war eine hohe Fertilitätsrate selektiv vorteilhaft, um die hohe Kindersterblichkeit zu kompensieren. In hochentwickelten Gesellschaften hingegen, in denen Kinderüberleben fast garantiert ist und soziale sowie kulturelle Selektionsfaktoren dominieren, verliert eine hohe Geburtenzahl ihren evolutionären Druckvorteil. Die energetische Investition in wenige, aber hochqualitativ versorgte Nachkommen (Stichwort: K-Strategie) könnte daher als moderne Form der elterlichen Fitnessoptimierung interpretiert werden. Mit der Konsequenz, dass niedrige Fertilitätsraten nicht zwingend ein "biologisches Problem" darstellen, sondern eine adaptive Reaktion auf neue Umweltbedingungen sein könnten.

Hinzu kommt, dass die Fortpflanzung des Menschen kein rein reflexgesteuertes Verhalten ist, sondern kognitiver Kontrolle und kultureller Mediation unterliegt. Entscheidungen über Kinderzahl, Zeitpunkt der Elternschaft oder der Verzicht auf Kinder können daher als Ergebnis eines evolutionären Trade-offs zwischen reproduktiver Fitness und anderen Formen von "Fitnessgewinn" (etwa durch soziale Position, beruflichen Erfolg oder individuelle Selbstverwirklichung) verstanden werden.

Die paradoxe Folge: In einer Umgebung, in der biologisches Überleben gesichert ist, kann der selektive Druck auf aktive Reproduktion schwinden und zwar nicht, weil der biologische Antrieb verschwindet, sondern weil andere Strategien kurzfristig adaptiver erscheinen. Damit treten in gewissem Sinne evolutionäre Zielkonflikte auf, bei denen Populationsfitness und individuelle Strategien auseinanderlaufen.

Der Reproduktionskonflikt moderner Frauen

Biologisch betrachtet ist das Alter von 25 bis etwa 30 Jahren das Zeitfenster mit dem höchsten reproduktiven Potenzial des weiblichen Menschen. Die Fruchtbarkeit ist auf ihrem Höhepunkt, Eizellen sind genetisch stabil und hormonelle Voraussetzungen für eine Schwangerschaft sind optimal. Viele Frauen verspüren in dieser Phase einen deutlichen, oft evolutionär begründeten Kinderwunsch.

Gleichzeitig erleben viele Frauen diesen Lebensabschnitt als entscheidende Phase der beruflichen Selbstverwirklichung oder ökonomischen Konsolidierung. Ziele sind der Abschluss einer Ausbildung, der Start einer Karriere sowie der Aufbau von finanziellen Sicherheiten – nicht zuletzt auch, um einem künftigen Kind ein gutes Zuhause bieten zu können. Diese rationale Verzögerung der Reproduktion führt jedoch dazu, dass oft erst mit 32–35 Jahren das erste Kind kommt (wenn überhaupt). Da die Zeit für ein zweites oder drittes Kind dann biologisch und organisatorisch knapper wird, bleibt es oft bei einem. Das Ergebnis: Der Wunsch nach Familie ist zwar vorhanden, aber die Realisierung bleibt biologisch und sozial begrenzt.

Wie viele Nachkommen braucht es für stabile Populationen?

Die Frage, wie viele Kinder pro Frau nötig sind, um eine Bevölkerung (ohne Migration) stabil zu halten, führt zu zwei zentralen demografischen Kennzahlen: der Gesamtfertilitätsrate (Total Fertility Rate, TFR) und der Nettoreproduktionsrate (Net Reproduction Rate, NRR). 

Die Gesamtfertilitätsrate gibt an, wie viele Nachkommen eine Weibchen im Durchschnitt während seines Lebens produziert. Bei getrenntgeschlechtlichen Lebewesen (Gonochoristen) wie dem Menschen hat ein Paar zwei Reproduzenten, deren "Ersatz" in der nächsten Generation mindestens durch zwei Nachkommen erfolgen müsste, um die Population stabil zu halten. Da jedoch im Kontext der hier diskutierten Biospezies Homo sapiens nicht alle Weibchen Nachkommen bekommen können (oder wollen) und es außerdem eine gewisse Kindersterblichkeit sowie geschlechtsunabhängige Mortalität vor dem Reproduktionsalter gibt, muss die Bestanderhaltungsfertilität etwas höher liegen. In entwickelten Ländern wie Deutschland liegt die "magische Zahl" bei etwa 2,1 Kindern pro Frau (in Entwicklungsländern liegt sie etwa bei 2,3 bis 2,5, da dort die Kinder- und Jugendsterblichkeit höher ist). Diese Zahl berücksichtigt etwa 10 % ungewollte Kinderlosigkeit (oft Infertilität durch medizinische Gründe), einen Teil freiwilliger Kinderlosigkeit, Sterbefälle vor Abschluss der Reproduktion, die geringe Differenz der Geschlechterverteilung (etwa 105 Jungen auf 100 Mädchen) sowie statistische Rundungseffekte.

Die Nettoreproduktionsrate zählt hingegen nur die Töchter, die das reproduktive Alter erreichen, da nur sie zukünftige Generationen hervorbringen. Eine NRR von 1 (eine Tochter pro Frau) entspricht somit einer TFR von 2,1 (ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis vorausgesetzt). Der Unterschied zwischen diesen Raten ist in öffentlichen Debatten entscheidend, da Missverständnisse zu verzerrten Schlussfolgerungen führen können. Zum Beispiel könnten "2 Geburten" als 2 Töchter (also ~4 Kinder) interpretiert werden, was ein starkes Bevölkerungswachstum prognostiziert. Solche Unklarheiten können in Diskussionen über Demografie und Migration falsche Narrative befeuern. Daher ist es essenziell, in öffentlichen Darstellungen eindeutig zu kommunizieren, ob die Gesamtfertilitätsrate (Kinder) oder die Nettoreproduktionsrate (Töchter) gemeint ist, um Transparenz zu schaffen und Missverständnisse zu vermeiden.

Wir rechnen im Folgenden mit der Gesamtfertilitätsrate bezogen auf die Geburten pro Frau, da dies diejenige Rate ist, die das statistische Bundesamt nennt. Eine durchschnittliche Kinderzahl je Frau in Höhe von 1,35 bedeutet, dass die nächste Generation nur noch 67,5 % so groß ist wie die aktuelle. Nach einer Generation schrumpft die Population somit um fast ein Drittel. Nach zwei Generationen sind es dann nur noch etwa 46 % der Ausgangspopulation.

Die gegenwärtige zusammengefasste Geburtenziffer von 1,35 Kindern je Frau in Deutschland reicht somit nicht aus, um die Bevölkerungszahl langfristig stabil zu halten. Zur Veranschaulichung kann eine hypothetische Projektion dienen, bei der wir folgende Parameter annehmen: Die Generationenfolge beträgt durchschnittlich 25 Jahre, es findet keine Immigration statt und die Geburtenrate bleibt konstant bei 1,35. Ausgehend von den aktuell rund 71,6 Millionen Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit (Stand: Ende März 2024) ergibt sich über die kommenden Generationen folgende hypothetische Entwicklung:


Bereits in 50 Jahren hätte sich die Zahl der Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit fast halbiert. Nach 150 Jahren wäre nur noch ein Bruchteil (etwa 10 % der heutigen Bevölkerung) vorhanden.

Diese Zahlen verdeutlichen eindrücklich, dass es sich bei der aktuellen Geburtenrate nicht um eine temporäre statistische Schwankung handelt, sondern um einen demografischen Trend mit tiefgreifenden Auswirkungen. Er betrifft nicht nur die Altersstruktur, das Rentensystem oder die medizinische Versorgung, sondern auch Fragen der kulturellen und evolutionsgeschichtlichen Kontinuität.

Evolutionsbiologische Paradoxien schrumpfender Gesellschaften

Aus evolutionsbiologischer Sicht ist das Ziel jedes Organismus die Weitergabe seines Erbguts an die nächste Generation. Doch gerade in hochentwickelten Gesellschaften beobachten wir ein paradoxes Phänomen. Je höher Bildung, Wohlstand und individuelle Autonomie ausgeprägt sind, desto seltener wird dieses Ziel realisiert. Reproduktion, als biologisches Kernelement natürlicher Selektion, verliert zunehmend an Priorität, obwohl die äußeren Lebensbedingungen für das Überleben von Nachkommen nie günstiger waren als heute.

Dieses Phänomen lässt sich als evolutionärer Zielkonflikt oder sogar als Mismatch deuten. Der Mensch ist evolutionär nicht auf die Reproduktionsbedingungen einer modernen Industriegesellschaft angepasst. Unsere genetischen sowie hormonellen Steuerungsmechanismen haben sich in Kleingruppen mit hoher Kindersterblichkeit und begrenztem Ressourcenangebot herausgebildet, in denen Reproduktion unmittelbar mit Überleben und Status verknüpft war.

In heutigen Gesellschaften hat sich die Umwelt rasant gewandelt, aber unsere biologische Disposition folgt weiterhin ihrem evolutionären Erbe. Der Wunsch nach Absicherung, Statusgewinn, Partnerwahlstrategien oder familiärer Investition ist geblieben. Doch statt sich in hoher Kinderzahl zu äußern, verlagern sich reproduktive Strategien nun auf andere Formen von "Fitnessoptimierung" wie beruflichem Erfolg, Partnerschafsstabilität, Selbstverwirklichung als Ausdruck indirekter Fitness (sogenannter DINK-Lifestyle = "Double Income, No Kids") sowie der Förderung von maximal eines einzelnen Kindes. Damit kommt es zu einer Adaptation an eine Umwelt, die zwar sicher, aber auch komplex und konkurrenzintensiv ist; mit der Konsequenz, dass Reproduktion rational begrenzt wird, um eigene Ressourcen (Zeit, Energie, Aufmerksamkeit) möglichst effizient zu verteilen.

Was daraus entsteht, ist eine neue Form von maladaptiver Anpassung: Auf individueller Ebene erscheint es adaptiv, wenige oder gar keine Kinder zu haben. Auf Populationsebene jedoch führt dies zu einer negativen Reproduktionsbilanz – ein evolutionäres Paradoxon, das ohne äußere Korrekturfaktoren (z. B. Immigration oder politische Reproduktionsanreize) nicht kompensiert werden kann.

Überalterung: Eine begriffliche Klarstellung

In der öffentlichen Debatte wird der demografische Wandel häufig unter dem Schlagwort "Überalterung" verhandelt. Dieser Begriff suggeriert, dass die ältere Bevölkerung (mitunter abfällig als "Boomer" bezeichnet) zu groß oder in anderer Weise problematisch sei. Aus biologischer und demografischer Sicht ist dies jedoch eine irreführende Perspektive. Altern ist ein natürlicher Bestandteil der menschlichen Lebensspanne und Ausdruck des medizinischen Fortschritts.

Tatsächlich handelt es sich beim gegenwärtigen demografischen Ungleichgewicht nicht um eine Überrepräsentation älterer Menschen, sondern um das Ausbleiben nachrückender Generationen. Der präzisere Begriff wäre daher "Unterjüngung". Die junge, reproduktionsfähige Bevölkerungsgruppe schrumpft zahlenmäßig. Nicht, weil die Älteren "zu viele" sind, sondern weil zu wenige Junge nachkommen.

Diese Unterscheidung ist nicht nur sprachlich relevant, sondern auch analytisch. Wer die Ursache des Problems beim Alter sucht, fokussiert auf Versorgungslasten. Wer dagegen die fehlende Verjüngung als Kern erkennt, richtet den Blick auf die Frage, wie die Reproduktion in einer modernen Gesellschaft gefördert werden kann.

Ersatzmigration als demografische Strategie?

Angesichts dauerhaft niedriger Geburtenraten in vielen industrialisierten Ländern haben die Vereinten Nationen (UN) bereits im Jahr 2000 das Konzept der sogenannten "Replacement Migration" (Bestandserhaltungs- bzw. Ersatzmigration) vorgeschlagen [2]. Um die Unterjüngung (insbesondere den Rückgang der Erwerbsbevölkerung) zu kompensieren, soll gezielte Immigration aus Ländern mit höherer Fertilitätsrate erfolgen. In Deutschland, so eine damalige Modellrechnung, wären mehrere hunderttausend Migranten pro Jahr erforderlich, um die demografische Balance aufrechtzuerhalten – eine Zahl, die seit 2015 faktisch erreicht bzw. sogar überschritten wurde.

Diese Migrationsströme betreffen in hohem Maße Herkunftsländer aus der MENAPT-Region (Middle East, North Africa, Pakistan, Turkey), also Regionen mit traditionell höherer Geburtenrate sowie jüngerem Altersdurchschnitt. Allerdings auch mit anderen kulturellen Wertsystemen.

Als IG Sexualbiologie betrachtet wir dieses Konzept mit wissenschaftlich-kritischer Zurückhaltung. Nicht aus prinzipieller Ablehnung gegenüber Migration, sondern aus Gründen, die auf langfristige kulturelle Kompatibilität sowie den Schutz grundlegender Bildungs- und Persönlichkeitsrechte zielen. Drei Aspekte stehen dabei im Zentrum:

Bildungsstandort Deutschland:

Die erfolgreiche Integration junger Migrantengenerationen in ein komplexes, wissensbasiertes Bildungssystem erfordert erhebliche Ressourcen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn große Teile der Zuwandernden aus Ländern mit niedrigem Bildungsstand stammen. Das Risiko besteht, dass die qualitative Bildungs- und Innovationsfähigkeit Deutschlands auf lange Sicht leidet, wenn keine strukturell tragfähige Migrationspolitik inkl. Integrationsstrategien gelingt.

Frauenrechte und Reproduktionsautonomie:

Wir weisen darauf hin, dass viele Herkunftskulturen eine stark traditionelle Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern pflegen. Die Gleichberechtigung von Frauen, ihre körperliche Selbstbestimmung sowie der Zugang zu Verhütung, Bildung und Erwerbstätigkeit sind dort vielfach nicht gesichert. Ein unreflektierter Import solcher Sozialstrukturen steht im Widerspruch zu den emanzipatorischen Zielen der reproduktiven Freiheit und Aufklärung.

Rechte nicht-heteronormaler Minderheiten:

In vielen MENAPT-Staaten gelten nicht-heteronormale Lebensentwürfe als gesellschaftlich tabuisiert oder werden sogar strafrechtlich verfolgt. Der Erhalt eines offenen, toleranten Menschenbilds setzt voraus, dass Menschenrechte nicht nur formal gewahrt, sondern kulturell mitgetragen werden. Eine demografische Strategie darf nicht dazu führen, dass erreichte Standards stillschweigend relativiert werden.


Die demografische Herausforderung bleibt real, doch jede Reaktion darauf muss sich nicht nur an quantitativen Kriterien wie Geburtenrate oder Arbeitskräftebedarf messen lassen. Aus unserer Sicht bedarf es vielmehr einer ganzheitlichen Betrachtung, die biologische und kulturelle Reproduktionsbedingungen im Interesse zukünftiger Generationen sowie insbesondere eines nachhaltigen, pluralitätsoffenen Gesellschaftsmodells gleichermaßen berücksichtigt.

Demografische Verschiebungen durch Migration

Die nachfolgenden Zahlen zeigen eindrücklich, wie stark die Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland über die kommenden Generationen wachsen kann. Geht man von einer durchschnittlichen Geburtenrate der MENAPT-Migranten in Höhe von rund 2,43 Kindern pro Frau sowie einer jährlichen Nettozuwanderung von etwa 430.000 Menschen aus (Stand 2024), könnte sich die Migrantenkohorte innerhalb von 150 Jahren von derzeit 14 Millionen auf über 150 Millionen Menschen mehr als verzehnfachen:


Bereits nach zwei Generationen (50 Jahren) würden Deutsche nach dieser Berechnung nicht mehr die Mehrheit in Deutschland ausmachen. Dieser ernüchternde Befund deckt sich weitestgehend mit detaillierteren Prognosen und Modellen von Forschern aus anderen Ländern. So ergab eine Studie, die sich mit den demografischen Veränderungen in Schweden beschäftigte, dass die einheimische schwedische Bevölkerung voraussichtlich innerhalb der nächsten 45 Jahre zu einer Minderheit im eigenen Land wird, wenn der derzeitige Trend der Zuwanderung und Geburtenraten anhält [3].

Diese prognostizierte Entwicklungen bedeuten nicht nur eine zahlenmäßige Veränderung, sondern auch eine grundlegende Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Die Integration großer Bevölkerungsgruppen aus Regionen mit teils erheblich abweichenden Bildungssystemen, sozialen Normen und reproduktiven Wertvorstellungen erfordert umfassende und vor allem nachhaltige Anstrengungen, die weit über reine Zahlen hinausgehen. Besonders aus Sicht der biologisch fundierten Sexualforschung ist es wichtig, dass grundlegende Frauen- und Reproduktionsrechte sowie körperliche Selbstbestimmung aufrechterhalten werden. Wir warnen davor, demografische Herausforderungen allein durch Migration zu lösen, ohne die damit verbundenen kulturellen Implikationen ausreichend zu berücksichtigen.

Einschränkung zur Populationsprojektion der Migrantenkohorte

Bei aller Modellrechnung muss jedoch betont werden, dass die hier angenommene Geburtenrate von 2,43 Kindern pro Frau in der Migrantenkohorte, insbesondere aus der MENAPT-Region, die in den letzten Jahren maßgeblich zur Nettozuwanderung beigetragen hat, ein theoretischer Mittelwert ist, der sich aus länderspezifischen Herkunftsdaten (z. B. Türkei: 1,88 / Pakistan: 3,41) ergibt. 

Tatsächlich meldet das Statistische Bundesamt für 2024 eine durchschnittliche Geburtenziffer von 1,84 Kindern pro Frau mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland und somit ebenfalls einen Rückgang gegenüber dem Vorjahr. Dies zeigt, dass auch in migrantischen Bevölkerungsgruppen der reproduktive Wandel unserer Lebenswelt wirkt. Diese Differenz zwischen theoretischem Potenzial und realisierter Fertilität unterstreicht, dass auch zugewanderte Bevölkerungsgruppen von den gleichen gesellschaftlichen Dynamiken betroffen sind. Der kulturelle Wandel führt auch hier mittelfristig zu sinkenden Geburtenraten.

Doch damit ist die Entwicklung nicht linear oder beliebig verlängerbar. Es besteht die reale Möglichkeit eines Kipppunkts, an dem die Migrantenkohorte eine solche demografische Größe erreicht, dass nicht mehr sie sich an die Mehrheitsgesellschaft anpasst, sondern umgekehrt die Gesellschaft selbst durch diese Gruppe transformiert wird. In einem solchen Szenario könnten sich erneut kulturelle Muster durchsetzen, die mit höheren Reproduktionsraten, einer stärkeren Orientierung an traditionellen Familienbildern und einer geringeren Erwerbsbeteiligung von Frauen einhergehen. Dies allerdings womöglich auf Kosten individueller Freiheiten, Gleichberechtigung, Bildungsniveau sowie des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands.

Diese Perspektive macht deutlich, dass demografische Entwicklung nicht nur eine Frage der Zahlen ist, sondern immer auch eine der kulturellen Rückkopplung und sozialen Trägheit. Gesellschaften sind keine geschlossenen Systeme. Sie verändern sich durch Reproduktion ebenso wie durch Migration. Welche Werte dabei dominant werden, entscheidet letztlich über den künftigen Charakter einer Gesellschaft.

Fazit

Die demografischen Projektionen zeigen deutlich, dass bei der derzeitigen Geburtenrate von 1,35 Kindern pro Frau die einheimische Bevölkerung Deutschlands dramatisch sinkt, während die Migrantenkohorte mit einer geschätzt höheren Fertilitätsrate und kontinuierlichem Zuzug deutlich wächst. Bereits nach zwei Generationen (also in etwa 50 Jahren) könnte der Anteil der Neubürger an der Gesamtbevölkerung die Mehrheit stellen.

Diese mögliche Entwicklung hat weitreichende Folgen. Sie betrifft nicht nur die reine Bevölkerungszahl, sondern auch kulturelle Strukturen sowie die Zukunft des Bildungsstandorts Deutschland. Ein nachhaltiger Umgang mit dieser Herausforderung erfordert eine ganzheitliche Perspektive, die biologische Reproduktionsbedingungen, gesellschaftliche Integration und die Wahrung von Menschen- und Frauenrechten gleichermaßen berücksichtigt.

Andererseits zeigen die realen Zahlen zur Geburtenrate von Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, dass die Ersatzmigration zumindest kurzweilig den gleichen Reproduktionsgrenzen unterliegt, wie die einheimische Bevölkerung, was die Notwendigkeit umso mehr betont, nicht nur auf Migration, sondern auch auf nachhaltige Reproduktionspolitik und Aufklärung zu setzen.

Wir plädieren dafür, diesen demografischen Wandel nicht allein als Problem der Quantität, sondern vor allem als komplexe Interaktion biologischer und kultureller Faktoren zu begreifen, um zukunftsfähige Lösungen entwickeln zu können. Wir können diese Lösungen zwar auch nicht ad hoc liefern, aber wir können die der aktuellen Populationsentwicklung zugrundeliegenden Mechanismen aufzeigen, um Entscheidungsträger bei der Lösungsfindung zu unterstützen.

Quellen

[1] Statistisches Bundesamt: Geburten von Januar bis April 2025 weiterhin auf niedrigem Niveau (abgerufen am 18.07.2025)

[2] Population Division, Department of Economic and Social Affairs, United Nations Secretariat: Replacement Migration; ESA/P/WP.160, 21 March 2000

[3] Tarvainen, K. (2018). Population projections for Sweden, Norway, Denmark, and Finland, 2015–2065. Bulletin of Geography. Socio-economic  Series,  39(39),  147-160.  DOI: http://doi.org/10.2478/bog-2018-0010.

Samstag, 12. Juli 2025

Evolution der Schwangerschaft: Über den Zell-Dialog zwischen Mutter und Fetus

Die Schwangerschaft ist eine der größten biologischen Innovationen der Evolution der Säugetiere. Doch warum können Säugetiere ihre Nachkommen im Mutterleib tragen, während andere Wirbeltiere Eier legen? Diese scheinbar einfache Frage führt mitten hinein in eines der komplexesten biologischen Systeme überhaupt: die Plazenta. Ein internationales Forschungsteam um Daniel Stadtmauer von der Universität Wien hat nun entschlüsselt, wie neue Zelltypen und ihre Kommunikationsnetzwerke im Laufe der Evolution die Grundlage für die Schwangerschaft bei Säugetieren geschaffen haben [1].

Ein evolutionäres Miteinander von Mutter und Fetus

In ihrer in Nature Ecology & Evolution veröffentlichten Studie verglichen die Forscher die Genaktivität einzelner Zellen aus der Gebärmutter und der Plazenta von sechs Tierarten: Haus-Spitzmausbeutelratte (Monodelphis domestica), Großer Tenrek (Tenrec ecaudatus), Maus (Mus musculus), Meerschweinchen (Cavia porcellus), Makake (Macaca fascicularis) und Mensch (Homo sapiens). Diese Auswahl vom Beuteltier über einen frühen Vertreter der Plazentatiere bis hin zu modernen Plazentatieren deckt zentrale Verzweigungen im Stammbaum der Säugetiere ab und erlaubt es, evolutionäre Neuerungen über Millionen Jahre hinweg nachzuzeichnen. Durch den Vergleich von fast 600.000 einzelnen Zelltranskripten konnten die Forscher nachvollziehen, wie sich bestimmte Zelltypen im Laufe der Evolution verändert und spezialisiert haben. 

Im Mittelpunkt der Forschung steht die sogenannte fetal-maternale Schnittstelle – also jener Bereich, in dem sich Zellen des Fetus und der Mutter begegnen, Signale austauschen und Gewebe ineinandergreifen. Hier entsteht eine temporäre, aber hochdynamische Lebensgemeinschaft, in der Kooperation und Kontrolle gleichermaßen überlebenswichtig sind.

Die Haus-Spitzmausbeutelratte (Monodelphis domestica) – auch Kurzschwanzopossum genannt – ist Gegenstand internationaler Forschung über den Ursprung der Säugetier-Schwangerschaft. 
(Foto: National Human Genome Research Institute/Paul Samollow)


Die Entstehung neuer Zelltypen

Besonders spannend ist die Geschichte der Trophoblasten (embryonale Zellen, die in die Gebärmutter eindringen und die Plazenta bilden). Die Studie zeigt, dass sich eine Familie invasiver Trophoblasten bereits bei frühen Säugetiervorfahren herausbildete. Diese Zellen entwickelten im Laufe der Evolution neue Strategien, um mit dem mütterlichen Gewebe zu interagieren – mal tief eindringend wie bei Primaten, mal eher zurückhaltend wie bei Nagetieren.

Auch auf der mütterlichen Seite gab es tiefgreifende Veränderungen. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die decidualen Stromazellen (Zellen, die die Gebärmutterschleimhaut während der Schwangerschaft umbauen und das Eindringen des Embryos regulieren) ursprünglich aus immunregulierenden Vorläufern hervorgingen. Beim Tenrek, einem frühen Vertreter der Plazentatiere, sind diese Vorläuferformen bis heute erhalten. Seine Linie trägt eine Art "Urzelle", die immunologisch aktiv, aber noch nicht hormonproduzierend ist. Erst bei späteren Säugetieren entwickelten sich daraus die hormonell aktiven Zellen, die das Schwangerschaftshormon Prolaktin freisetzen. Damit lässt sich erstmals rekonstruieren, wie aus einem allgemeinen Bindegewebe ein hormonell aktives, schwangerschaftsspezifisches Organ wurde.

Diese Befunde zeichnen ein Bild der Schwangerschaft als evolutionären Prozess in mehreren Stufen: Zuerst entstand ein Zelltyp, der das Immunsystem der Mutter besänftigte und das Eindringen des Embryos tolerierte. Später kamen hormonproduzierende Zellen hinzu, die den mütterlichen Körper gezielt auf die Bedürfnisse des Embryos bzw. im weiteren Schwangerschaftsverlauf des Fetus einstellten. Damit wurde aus einem konfliktträchtigen Kontakt zweier Organismen ein kooperatives System.

Kommunikation als evolutionäre Triebkraft

Ein weiteres zentrales Ergebnis betrifft die Signalübertragung zwischen Mutter und Fetus. Mithilfe bioinformatischer Netzwerkanalysen rekonstruierte das Team, welche Moleküle und Rezeptoren schon die Urahnen der Säugetiere austauschten. Viele dieser frühen Signale wie etwa Relaxin und Prostaglandine spielten eine Schlüsselrolle bei der Koordination zwischen Fetus und Gebärmutter.

Im Laufe der Evolution kam es zu einer bemerkenswerten "Entmischung" dieser Kommunikationswege: Bestimmte Botenstoffe werden heute ausschließlich von fetalen oder ausschließlich von mütterlichen Zellen produziert. Offenbar war diese Spezialisierung ein Weg, um gegenseitige Beeinflussung zu kontrollieren und damit ein evolutionärer Kompromiss zwischen Kooperation und Interessenkonflikt. Bestimmte Botenstoffe werden heute ausschließlich von der einen oder der anderen Seite produziert. Dadurch entstand ein evolutionärer Schutzmechanismus, um zu verhindern, dass der Fetus über Signale zu stark in die mütterliche Physiologie eingreift.

Durch die Kombination von Einzelzell-Transkriptomik, vergleichender Genomanalyse und computergestützter Stammbaurekonstruktion konnten die Forscher sogar die Zellkommunikation ausgestorbener Vorfahren nachzeichnen. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die komplexe Plazenta der heutigen Säugetiere nicht sprunghaft, sondern durch fortlaufende Anpassungen einzelner Zelltypen und ihrer Signalnetzwerke schrittweise entwickelt hat.

Fazit

Die Studie verdeutlicht eindrucksvoll, dass Evolution kein linearer Prozess ist, sondern ein feines Zusammenspiel von Kooperation und Konflikt. Sie liefert einen tiefen Einblick in die Entstehung eines der zentralen Merkmale der Säugetiere: der lebendgebärenden Fortpflanzung. Die Schwangerschaft – einst eine riskante Anpassung – erwies sich als evolutionäres Erfolgsmodell, getragen von Zellen, die buchstäblich "gelernt" haben, miteinander zu "sprechen". Für die Sexualbiologie eröffnet dies neue Perspektiven, denn es offenbart, wie sich Fortpflanzung nicht nur auf genetischer, sondern auch auf zellulärer Ebene weiterentwickelt. Die Schwangerschaft ist nicht nur ein physiologischer Zustand, sondern ein evolutionäres Gemeinschaftsprojekt zweier Organismen, die sich im Laufe der Zeit zu einer einzigartigen biologischen Allianz entwickelt haben.

Quellen

[1] Stadtmauer, D.J., Basanta, S., Maziarz, J.D. et al. Cell type and cell signalling innovations underlying mammalian pregnancy. Nat Ecol Evol 9, 1469–1486 (2025). https://doi.org/10.1038/s41559-025-02748-x

Mittwoch, 9. Juli 2025

Stellungnahme zur Debatte um Abtreibung und Menschenwürde

Anlässlich der anstehenden Wahl von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht sehen wir uns als Interessengemeinschaft Sexualbiologie veranlasst, zur öffentlichen Debatte über Abtreibung, Menschenwürde und Lebensschutz Stellung zu nehmen. Die Auseinandersetzung um die juristischen Positionen der Kandidatin zeigt, wie stark weltanschauliche Fragen unsere politische Kultur weiterhin prägen und wie wichtig es ist, dass biologische, nicht religiöse Fakten Grundlage dieser Diskussionen bleiben. Der öffentliche Diskurs rund um die juristischen Positionen der Kandidatin macht deutlich: Es braucht eine sachlich-naturwissenschaftlich fundierte Position, die weder ideologisch noch theologisch motiviert ist, sondern auf einem materialistisch-naturalistischen Menschenbild beruht.

Menschliches Leben beginnt mit der Zygote

Biologisch ist es eindeutig: Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung von Eizelle und Spermium (Syngamie) – also mit der Entstehung der Zygote. Ab diesem Zeitpunkt der Befruchtung (Konzeption) handelt es sich um ein lebendes System der Spezies Homo sapiens, das die gängigen biologischen Kriterien für Leben erfüllt:
  • Stoffwechsel: Die Zygote nimmt Energie auf und verarbeitet diese (zunächst über die mütterliche Umgebung).
  • Wachstum und Entwicklung: Sie beginnt sofort mit der Zellteilung.
  • Reizbarkeit: Sie reagiert auf molekulare Umwelteinflüsse.
  • Reproduktion: Zwar nicht als Individuum, aber sie ist selbst das Resultat einer Reproduktion.
  • Organisation: Sie ist hochgradig organisiert (komplexer Zellaufbau).
  • Homöostase: Sie reguliert ihr inneres Milieu.
  • Evolutionäre Adaptierbarkeit: Sie trägt die genetische Grundlage dafür.
Sie gehört zweifelsfrei zur Spezies Homo sapiens, denn der biologische Artbegriff beruht auf der Fähigkeit zur Fortpflanzung innerhalb der Art und dem typischen Genom dieser Art. Die Zygote trägt das vollständige menschliche Erbgut und ist das erste Stadium eines Menschen.

Besonders bemerkenswert: Rund 50 % aller Zygoten sterben in der ersten Woche nach der Befruchtung ab, meist durch genetisch bedingte natürliche Selektion [1][2]. Der weibliche Körper erkennt nicht lebensfähige oder defekte Embryonen und scheidet sie aus, oft bevor eine Schwangerschaft überhaupt festgestellt wird. Gerade weil dieser Prozess so verlustreich ist, ist jede erhaltene Zygote umso schützenswerter.

Aus einer naturalistischen Perspektive, die sich nicht auf religiöse Dogmen stützt, sondern auf biologisch-materielle Tatsachen, ergibt sich: Was menschlich lebt, verdient Achtung und Schutz. In Anlehnung an Artikel 1 GG ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") sprechen wir uns dafür aus, dass dieser Schutz grundsätzlich ab der Einnistung (Nidation) des frühes Entwicklungsstadiums eines Embryos (Blastozyste) in der Uterusschleimhaut (Endometrium) gelten muss. Diese beginnt am 6. Tag nach der Befruchtung. Dies steht im Einklang mit dem Gedanken, dass Menschenwürde nicht erworben, sondern inherent ist.


Von der Zygote zur Blastozyste – Individuum und Menschenrechte

Ein biologisches Detail, das oft übersehen wird: Eine einzelne Zygote kann sich vor und in seltenen Fällen auch noch während des Blastozystenstadiums aufspalten und so die Grundlage für eineiige (monozygotische) Mehrlinge bilden. Das bedeutet, dass aus einem genetischen Ursprung mehrere individuelle Menschen hervorgehen können. Für uns als IG Sexualbiologie ist das kein Widerspruch bei der Frage nach individuellen Menschenrechten. Menschenrechte knüpfen nicht an ein bestimmtes Entwicklungsstadium oder an die Einmaligkeit des Ursprungs an, sondern an die Tatsache, dass es sich um menschliches Leben handelt. Jeder entstandene Embryo – ob als Einzelwesen oder z. B. als Teil eines Zwillingspaares – ist ein menschliches Individuum und besitzt denselben Anspruch auf Schutz und Würde.
 

Schmerzempfinden und Lebensfähigkeit

Die große Mehrheit medizinischer Fachgesellschaften (etwa das American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG)) kommt zu dem Schluss, dass ein Fetus erst ab etwa der 24. Schwangerschaftswoche physiologisch in der Lage ist, Schmerz wahrzunehmen. Ab diesem Zeitpunkt bildet sich die thalamokortikale Verbindung aus, welche für bewusste Schmerzverarbeitung benötigt wird. Vorher fehlen zentrale Strukturen wie funktionale Verbindungen zwischen Thalamus und Kortex [3].

Allerdings legen neuere Studien nahe, dass bereits ab etwa 12 Wochen Teile der thalamischen Projektionen im kortikalen Subplate vorhanden sind – eine primitive Struktur, die sensorische Signale verarbeiten kann. Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2020 argumentiert daher, dass ein "rohes, primitiveres Schmerzempfinden" möglich sei, noch bevor das Großhirn vollständig entwickelt ist [4]. Die IG Sexualbiologie spricht sich deshalb für eine medizinisch-ethische Verpflichtung zur Betäubung im Falle der medizinischen Indikation eines Schwangerschaftsabbruchs nach der 12. Schwangerschaftswoche aus.

Ein weiteres medizinisch relevantes Kriterium ist die sogenannte "extrauterine Lebensfähigkeit", also die Fähigkeit eines Fetus, außerhalb des Mutterleibs zu überleben. Diese liegt in der Regel zwischen der 24. und 26. Woche, ist aber stark von Technik und Einzelfall abhängig. Auch wenn sie ein medizinisch praktikabler Schwellenwert ist, ist sie kein moralisches Absolutum, sondern ein praktisches Orientierungskriterium im Rahmen eines komplexen ethischen Abwägungsprozesses. Manche Stimmen sprechen früheren Entwicklungsstadien sogar den Status des "Lebendigseins" an sich ab, solange sie keinen von der Mutter losgelösten, eigenständigen Stoffwechsel besitzen. Aus biologischer Sicht ist diese Argumentation jedoch unhaltbar. Abhängigkeit von einer spezifischen Umgebung bedeutet nicht "Unlebendigkeit". Darmbakterien brauchen etwa ein anaerobes Milieu, Parasiten einen Wirt und selbst erwachsene Menschen benötigen Sauerstoff und Nahrung von außen – ohne ihre spezifische Umgebung sind sie auch nicht lebensfähig. Dennoch bestreitet niemand ernsthaft ihre Lebendigkeit.

Die Zygote führt davon abgesehen sehr wohl eigene Stoffwechselprozesse durch. Sie steuert Zellteilungen, liest Gene ab, produziert Proteine und organisiert ihre Entwicklung. Das unterscheidet sie grundlegend von toter Materie. Dass sie dabei auf die mütterliche Umgebung angewiesen ist, ist kein Gegenargument zu ihrer Lebendigkeit, sondern entspricht dem Grundprinzip allen Lebens. Denn jedes Lebewesen existiert nur in Interaktion mit seiner Umwelt.

Aus unserer Sicht sind daher weder Schmerzfähigkeit noch die Überlebensfähigkeit in einer für den Organismus untypischen Umwelt geeignete Kriterien, um die grundsätzliche Schutzwürdigkeit eines Menschenlebens zu definieren. Denn sie setzen auf entwicklungsbiologische Willkürschwellen. Die Menschenwürde ist jedoch nicht an Fähigkeiten geknüpft. Wir erkennen an, dass die biologische Kontinuität des Lebens ein objektives Kriterium darstellt – unabhängig von Bewusstsein, Schmerzempfinden oder gesellschaftlicher Nützlichkeit. Die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens beginnt nicht erst mit bestimmten kognitiven Fähigkeiten oder einem entwickelten Nervensystem, sondern mit dem biologischen Anfang des Menschseins.

Religion ist keine Basis für säkulares Recht

Die historische und moralische Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs hat ihre Wurzeln fast ausschließlich im jüdisch-christlich geprägten Menschenbild, insbesondere im Konzept einer "unverfügbaren Seele". Als atheistisch-humanistische Organisation teilen wir diesen theologischen Zugang nicht. Unser ethisches Fundament basiert auf autonomer Selbstbestimmung, Leidvermeidung und wissenschaftlicher Rationalität. Das deutsche Strafrecht (insbesondere § 218 StGB) enthält bis heute Spuren dieses religiösen Ursprungs, obwohl sich unsere Gesellschaft längst pluralisiert hat.

Wir lehnen es ab, die Diskussion um Schwangerschaftsabbruch durch religiös motivierte Moralisierung zu dominieren. Das Konzept einer "Seele" oder "göttlich gestifteten Würde" ist nicht Grundlage unseres Denkens.

Wenn Menschenwürde zur Disposition steht

In einem Beitrag auf gesundheitsrecht.blog diskutiert Brosius-Gersdorf die Möglichkeit, nicht gegen COVID-19 "geimpfte" Personen wegen ihres "krankheitsursächlichen Vorverhaltens" an den Behandlungskosten zu beteiligen, um so einen finanziellen Anreiz für die Impfentscheidung zu schaffen [5]. Diese Argumentation wirft aus unserer Sicht ernsthafte grundethische Fragen nicht nur in Bezug auf das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch hinsichtlich der relativen Bewertung menschlichen Lebens durch ökonomische und leistungsbezogene Raster auf.

Was, wenn man diese Argumentation konsequent weiterdenkt? Entsteht daraus nicht auch die Möglichkeit, werdenden Eltern, die sich bewusst für die Geburt eines Kindes mit diagnostizierter Behinderung entscheiden, künftig die damit verbundenen Gesundheits- und Förderkosten unter dem Argument aufzuerlegen, dass ihre Entscheidung "belastend" für die Solidargemeinschaft sei?

Wir lehnen eine solche Vorstellung natürlich entschieden ab! Unser Anliegen ist es gerade, die absolute Geltung der Menschenwürde unabhängig von biologischer Disposition, kognitiver Leistungsfähigkeit oder Kosten-Nutzen-Kalkülen zu verteidigen. Unser Gedankenexperiment zeigt jedoch, wohin eine Denkweise führen kann, die Menschenwürde relativiert und sie mit vermeintlich rationalen Anreizen oder gesellschaftlichen Zumutbarkeiten verrechnet.

Wir möchten damit keine polemische Gleichsetzung vornehmen, sondern aufzeigen: Wer einmal beginnt, die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens an Bedingungen zu knüpfen, öffnet gefährlichen ethischen Grauzonen Tür und Tor. Insbesondere für eine Kandidatin für das höchste Richteramt zum Schutze der Grundrechte ist eine solche Positionierung – und sei sie nur implizit – aus unserer Sicht untragbar.

Aktuelle Regelung: Ein tragfähiger Kompromiss

Die aktuelle Rechtslage (§ 218a StGB i.V.m. Beratungsregelung) stellt einen politischen Kompromiss zwischen Selbstbestimmungsrecht der Frau und Lebensschutz dar. Aus unserer Sicht ist dieser Kompromiss rechtlich nachvollziehbar. Wenn menschliches Leben mit der Zygote beginnt, dann darf sein Schutz zwar nicht an sozialen, psychischen oder biologischen Entwicklungskriterien relativiert werden. Die derzeitige Regelung stellt aus unserer Sicht dennoch einen klugen, ethisch tragfähigen Kompromiss dar. Sie verpflichtet zur Beratung, erkennt die Konfliktsituation der Schwangeren an und bietet gleichzeitig Schutz für spätere Schwangerschaftsstadien. Diese Regelung reflektiert sowohl die Bedenken von sogenannten Lebensschützern als auch das Recht der Frau auf körperliche Autonomie. Sie ist weder radikal noch beliebig sondern das Resultat einer jahrzehntelangen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

Forschung an Embryonen

Ein Spannungsfeld, das wir als IG Sexualbiologie ausdrücklich anerkennen, betrifft die Nutzung von Embryonen in der biomedizinischen Forschung etwa im Rahmen der Stammzellforschung oder der reproduktionsbiologischen Grundlagenforschung. Anders als im Bereich der Reproduktionsmedizin sehen wir diese Forschung nicht per se als ethisch problematisch, obwohl sie die Verwendung und in vielen Fällen die Zerstörung von menschlichen Embryonen einschließt. Wie lässt sich das mit unserer grundsätzlichen Haltung vereinbaren, dass menschliches Leben (auch im frühesten Stadium) prinzipiell schützenswert ist? 

Wir möchten diesen Zielkonflikt nicht verschweigen. Es handelt sich um einen klassischen ethischen Dilemma-Fall, in dem zwei wichtige Werte in Spannung stehen: Der Schutz des frühen Lebens gegenüber des medizinischen Fortschritts zum Wohle vieler Menschen, etwa bei der Behandlung genetischer Erkrankungen.

Wenn Forschung an Embryonen unter strengen rechtlichen, wissenschaftlichen und ethischen Auflagen erfolgt, transparent und zweckgebunden ist und nicht beliebig oder kommerziell instrumentalisiert wird, kann sie trotz des bestehenden Lebensschutzes vertretbar sein. Ähnlich wie bei Organspenden nach dem Tod ist hier ein bewusster Eingriff in die Integrität eines Menschenlebens nur unter besonderen Bedingungen ethisch legitimierbar.

Wir sehen diesen Bereich nicht als Freibrief für die Verzwecklichung embryonalen Lebens, sondern als sorgsam abzuwägendes Sonderfeld. Es besteht ein Unterschied zwischen der gezielten Erzeugung und Verwerfung menschlichen Lebens zur Vermeidung von Verantwortung (z. B. in einem laxer werdenden Abtreibungsrecht) und der verantwortungsvoll begründeten Nutzung bereits nicht entwicklungsfähiger oder überzähliger Embryonen zu heilungsorientierten Forschungszwecken.

Fazit

Die IG Sexualbiologie plädiert für einen nicht-religiösen, aber lebensfreundlichen Ethikbegriff. Menschliches Leben beginnt biologisch mit der Syngamie. Dies ist der objektive Anfang der menschlichen Existenz und verdient darum Schutz, unabhängig von Bewusstsein oder Schmerzfähigkeit. Aus dieser naturalistisch-materialistischen Sichtweise ergibt sich, dass der Schutz jedes einzelnen menschlichen Lebens selbst im frühesten Stadium ab der Nidation mit der gleichen Ernsthaftigkeit betrachtet werden muss wie in späteren Entwicklungsphasen. Nur so kann die Forderung von Artikel 1 GG in letzter Konsequenz eingelöst werden.
 
Wir erkennen jedoch die gesellschaftliche Realität von Schwangerschaftskonflikten genauso an, wie den Wert embryonalen Lebens in der Forschung, und befürworten daher eine Beibehaltung der aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen nach § 218 und § 218a StGB.
 

Quellen

[1] Allen J Wilcox, Quaker Harmon, Kevin Doody, Don P Wolf, Eli Y Adashi, Preimplantation loss of fertilized human ova: estimating the unobservable, Human Reproduction, Volume 35, Issue 4, April 2020, Pages 743–750, https://doi.org/10.1093/humrep/deaa048
 
[2] Benagiano G, Farris M, Grudzinskas G. Fate of fertilized human oocytes. Reprod Biomed Online. 2010 Dec;21(6):732-41. doi:10.1016/j.rbmo.2010.08.011
 
[3] Lee SJ, Ralston HJP, Drey EA, Partridge JC, Rosen MA. Fetal Pain: A Systematic Multidisciplinary Review of the Evidence. JAMA. 2005;294(8):947–954. doi:10.1001/jama.294.8.947
 
[4] Derbyshire SW, Bockmann JC. Reconsidering fetal pain. Journal of Medical Ethics 2020;46:3-6. doi:: 10.1136/medethics-2019-105701

[5] Brosius-Gersdorf/Friedlein, Gesundheitsrecht.blog Nr. 9, 2023, S.

Sonntag, 6. Juli 2025

"Natürliche Normen" – Zwei Seiten derselben Medaille

Die Debatte um vermeintliche "Queerness" im Tierreich und ihre Bedeutung für den Menschen ist von Fehlschlüssen geprägt, die in erstaunlicher Symmetrie auftreten. In unserem Beitrag "Kritische Diskussion: Queerness in der Natur" haben wir uns bereits kritisch mit der Instrumentalisierung des gleichgeschlechtlichen Verhaltens von Tieren beschäftigt. Hier soll nun ein spezielles Argumentationsmuster näher betrachtet werden, das aus unserer unpolitischen Perspektive auf den Kulturkampf einer gewissen Ironie nicht entbehrt.

Der klassische Fehlschluss

Kurz zusammengefasst basiert der klassische, naturalistische Fehlschluss, der vor allem in vergangenen Zeiten von konservativen Stimmen vorgebracht wurde, auf folgendem Szenario: Historische Forscher beobachteten bei einer Tierart wie beispielsweise Pinguinen typischerweise gegengeschlechtliches Sexualverhalten (von der Balz über den Nestbau bis hin zur Jungenaufzucht). Diese Beobachtung wurde kurzerhand verallgemeinert: "Wenn die beobachteten Pinguine heterosexuelles Verhalten zeigen, dann gilt das für alle Vertreter der Spezies." Damit sei die Heterosexualität die "natürliche" Norm, weil sie in der Natur beobachtet wurde. Auf dieser Basis folgerte man schließlich für den Menschen: "Wenn getrenntgeschlechtliches Sexualverhalten in der Natur die Norm darstellt, sind Abweichungen davon unnatürlich." Hier wird aus einer singulären Beobachtung eine universale Norm für die Gesellschaft destilliert – ein klassischer Fehlschluss.

Der moderne Fehlschluss

Heute begegnet uns häufig das spiegelverkehrte Argument. Moderne Forscher beobachten (bzw. publizieren) mehr und mehr gleichgeschlechtliches Verhalten bei verschiedenen Tierarten – etwa wiederum bei Pinguinen, die mit Partnern desselben Geschlechts Balz- oder Brutpflegeverhalten zeigen. Auch hier wird verallgemeinert: "Wenn diese Pinguine gleichgeschlechtliches Verhalten zeigen, dann gilt das im Prinzip für alle Pinguine." Damit sei dieses Verhalten "natürlich", weil es in der Natur vorkommt. Und daraus wird erneut eine Brücke zum Menschen geschlagen, dass Abweichungen von der Heteronormalität damit nicht nur möglich, sondern ebenso "natürlich" seien. Doch auch hier wird aus einer Einzelbeobachtung eine Norm abgeleitet, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.

Fazit

Ob "Homo-/Bi-" oder "Hetero-Norm" – in beiden Fällen wird derselbe argumentative Kurzschluss begangen. Von beobachtetem Verhalten im Tierreich wird direkt auf menschliche Gesellschaftsnormen geschlossen. Einmal galt das als Beleg für die "Unnatürlichkeit" gleichgeschlechtlicher Liebe, was zurecht kritisiert wurde. Heute soll es jedoch als Legitimation ihrer Natürlichkeit dienen, was ebenso fragwürdig ist. Wer sich in der Argumentation auf vermeintlich "queere" Tiere stützt, bewegt sich damit auf demselben logischen Niveau wie die Gegner von Queerness. Wirklich überzeugend ist weder das eine noch das andere. Entscheidend ist nicht, was Tiere tun, sondern wie wir Menschen uns in Freiheit und Verantwortung zueinander verhalten wollen.

Dienstag, 1. Juli 2025

Wie der ÖRR mal wieder die Zweigeschlechtlichkeit relativiert

In jüngerer Zeit mehren sich Berichte, Beiträge und Formulierungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR), die die biologische Realität der Zweigeschlechtlichkeit relativieren. Dabei wird zunehmend suggeriert, dass es sich bei der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen – also der Tatsache, dass es in der Biologie zwei klar unterscheidbare Geschlechter gibt: männlich und weiblich – lediglich um eine "These", einen "Glauben" oder eine "gesellschaftlich konstruierte Vorstellung" handele.

In einer Instagram-Bildserie über angebliche Emoji-Geheimcodes stellt Funk, das junge Content-Netzwerk von ARD und ZDF, die Kiwi-Frucht als Symbol des "Glaubens" an die binäre Geschlechterordnung dar:


Die Kiwi (Actinidia deliciosa) als zweihäusige (diözische) und damit getrenntgeschlechtliche Pflanze wird hier nicht als Beispiel für biologische Realität, sondern als Ausdruck einer weltanschaulichen Haltung gedeutet. Zwar nennt Funk eine Quelle [1], die diese biologische Realität ideologiefrei widerspiegelt, dies ändert jedoch nichts an der Art der Präsentation.

Ähnlich auch bei ZDFinfo in einem Instagram-Beitrag über Emojis der "rechten Szene", in welchem die Kiwi als "angeblicher" Beweis für die "These" dargestellt wird, es "gäbe" nur zwei Geschlechter:


Solche Formulierungen werfen aus wissenschaftlicher Sicht grundlegende Fragen auf. Denn die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist keine Hypothese, sondern ein empirisch gesichertes Merkmal fast aller höher entwickelten Lebewesen. Das Vorhandensein von zwei Geschlechtszelltypen (Eizellen und Spermien) ist die Grundlage sexueller Fortpflanzung. Daraus ergeben sich die Kategorien "weiblich" und "männlich". Störungen der Geschlechtsentwicklung (DSD) und das Transgender-Phänomen sind reale, aber seltene medizinische Anomalien. Sie bestätigen die Regel, statt sie infrage zu stellen.

Ausschließlich in diesem biologischen Kontext hat das Konzept "Geschlecht" als objektiv beobachtbare Realität Relevanz. Persönliche (und damit subjektive) Identitäten in Bezug auf das Geschlecht sind davon abgekoppelt. 

Wissenschaft vs. Weltanschauung

Kritikwürdig ist dabei nicht, dass auch soziale, psychologische oder kulturelle Aspekte von Geschlecht thematisiert werden. Problematisch ist die Darstellung wissenschaftlich fundierter biologischer Tatsachen als bloße Meinungen, Glaubenssätze oder "Narrative". So entsteht ein schiefes Bild, in dem naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf eine Stufe mit individuellen Identitätsmodellen gestellt werden.

Wenn öffentlich-rechtliche Medien von "angeblichen" biologischen Tatsachen sprechen, stellt sich die Frage nach der Verantwortung. Der ÖRR hat einen Bildungsauftrag, der insbesondere auch die Vermittlung gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse umfasst. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der Wissenschaft zunehmend unter Druck steht – nicht nur in Bezug auf Biologie, sondern auch in Debatten rund um Klima, Medizin oder Technologie.

Mehr zum Thema:


Quellen

[1] Gießmann et al. (2013): Männliche oder weibliche Kiwi-Pflanzen? Die Unterschiede sind deutlich!; Gartenbaukompetenzzentrum Obstbau in Mecklenburg-Vorpommern (pdf-Download)

Beliebte Posts