Am 24. Oktober 2025 veröffentlichte die Chemieprofessorin Anna I. Krylov (University of Southern California) auf Substack 'Heterodox STEM' einen offenen Brief an den Senior Editor von Springer Nature, Deutschland mit dem Titel "Why I no longer engage with Nature publishing group". Darin erklärt sie, dass sie künftig nicht mehr mit Zeitschriften der Nature-Gruppe zusammenarbeiten wird – weder als Gutachterin noch als Autorin. Sie sieht nämlich die wissenschaftliche Integrität des Verlages gefährdet.
Krylovs Schreiben ist kein kurzer Affekt, sondern ein sorgfältig begründeter Protest gegen das, was sie als zunehmende Ideologisierung wissenschaftlicher Publikationspraxis beschreibt. Ihre Argumentation verdient Aufmerksamkeit – nicht nur, weil sie von einer anerkannten Naturwissenschaftlerin stammt, sondern auch, weil ähnliche Spannungsfelder heute in vielen Disziplinen zu beobachten sind, darunter besonders in der Sexualbiologie.
Wahrheitssuche statt Weltverbesserung
Krylov erinnert zunächst an eine Grundidee der Aufklärung: Wissenschaft dient der Erkenntnis der Wirklichkeit, nicht der moralischen oder politischen Umerziehung. Sie bezieht sich auf Jonathan Rauch, der in 'The Constitution of Knowledge' (2021) die Wissenschaft als "epistemischen Filter" beschreibt – ein System, das Wahrheitsansprüche prüft und nur jene bestehen lässt, die der methodischen Überprüfung standhalten. Diese Funktion, so Krylov, werde inzwischen von Nature und verwandten Publikationsorganen unterlaufen. An die Stelle von methodischer Strenge und Objektivität träten zunehmend soziale Zielsetzungen. Solche Ziele mögen in Gesellschaft und Politik legitim sein, jedoch nicht als Kriterien wissenschaftlicher Qualität.
Ihr erstes Beispiel betrifft die "Diversity Commitment" von Springer Nature. Die Verlagsgruppe verpflichtet sich darin, mehr Diversität in Redaktionen, Gutachterkreisen und Autorenschaft zu fördern. Krylov kritisiert das nicht, weil sie Diversität ablehnt, sondern weil sie den methodischen Maßstab verschiebt. Wissenschaftliche Bewertung sollte allein von Kompetenz und Argumentationskraft abhängen, nicht von Geschlecht, Herkunft oder Identität. Sie formuliert es zugespitzt: Wenn die Einladung zur Begutachtung eines Artikels nicht mehr eindeutig aufgrund fachlicher Expertise erfolgt, sondern auch aufgrund von demografischen Merkmalen, dann wird das Vertrauen in die Neutralität des Peer-Review-Prozesses beschädigt. Krylov sieht darin eine Form institutionalisierter sozialer Steuerung, die die wissenschaftliche Meritokratie aushöhlt.
Als zweites Beispiel nennt Krylov die von 'Nature Reviews Psychology' eingeführte Praxis der sogenannten "Citation Justice". Autoren werden dort ermutigt, in ihren Literaturverzeichnissen die Arbeiten unterrepräsentierter Gruppen stärker zu berücksichtigen. Krylov sieht darin eine Ideologisierung wissenschaftlicher Kommunikation. Das Literaturverzeichnis sei kein Ort für Repräsentationspolitik, sondern ein Werkzeug, um relevante Erkenntnisse nachzuweisen. Wenn Zitate nicht mehr nach Relevanz oder Qualität, sondern nach Identität vergeben werden, werde das wissenschaftliche Netzwerk der Bezüge verzerrt und letztlich die Nachvollziehbarkeit von Forschungsergebnissen geschwächt.
Zensur im Namen des Guten
Noch schärfer fällt ihre Kritik an 'Nature Human Behavior' aus. Diese Zeitschrift erklärte 2022, sie wolle Arbeiten ablehnen oder überarbeiten, deren Ergebnisse "potenziell schädlich" für bestimmte gesellschaftliche Gruppen sein könnten. Krylov hält das für eine Zensurmaßnahme, die mit wissenschaftlicher Verantwortung nichts zu tun habe. Es sei nicht Aufgabe von Herausgebern, die möglichen sozialen Konsequenzen von Forschung vorab moralisch zu bewerten – zumal dies oft auf subjektiven Einschätzungen beruhe. Damit, so Krylov, stelle sich Nature selbst über das Prinzip wissenschaftlicher Offenheit. Erkenntnis dürfe unbequem sein, sonst verliere sie ihre Glaubwürdigkeit.
Ein Plädoyer für die Integrität von Wissenschaft
Krylovs Fazit ist kompromisslos: Die Nature-Gruppe habe ihre Rolle als neutrale Hüterin wissenschaftlicher Standards verloren. Die Orientierung an Diversität, Gleichstellung und sozialer Verträglichkeit habe sich von einem gesellschaftlichen Anliegen zu einem epistemischen Filter entwickelt. Für sie kann Wissenschaft aber nur dann verlässlich bleiben, wenn sie wertfrei im methodischen Sinne operiert. Sie fordert in ihrem offenen Brief deshalb eine Rückkehr zu wissenschaftlicher Exzellenz mit einer Prüfung von Hypothesen allein nach ihrer Evidenz, nicht nach sozialer Erwünschtheit.
Die Reaktionen auf Krylovs offenen Brief fallen überwiegend zustimmend aus. In den Kommentaren ihres Substack-Beitrags finden sich fast ausschließlich Lob, Solidarität und ähnliche Kritik an der ideologischen Ausrichtung großer Wissenschaftsverlage. Viele Kommentare begrüßen ihren Schritt als überfälliges Zeichen gegen "Wokeness" und fordern, andere Forscher sollten ihr folgen. Nur vereinzelt wird über die strategische Wirksamkeit eines Boykotts diskutiert, inhaltlicher Widerspruch zu Krylovs Argumenten ist aber praktisch nicht vorhanden.
Was das für die Sexualbiologie bedeutet
Gerade in der Sexualbiologie wird Krylovs Kritik greifbar. Hier überschneiden sich empirische Forschung und gesellschaftspolitische Diskussion besonders stark – etwa in Fragen von Geschlecht, Identität, Sexualdifferenz oder Trans-Themen. In diesem Feld sind Wissenschaftler heute häufig mit Erwartungen konfrontiert, ihre Ergebnisse nicht nur korrekt, sondern auch "sensibel" zu formulieren.
Natürlich ist Sensibilität im Umgang mit Menschen geboten. Doch wenn daraus ein impliziter Druck zur ideologischen Konformität wird oder wenn bestimmte Daten, Begriffe oder Fragestellungen als "unzulässig" gelten, dann gerät ergebnisoffene Forschung in eine Schieflage. Gerade die Sexualbiologie braucht eine freie, erkenntnisorientierte Diskussion, die Unterschiede und Widersprüche aushalten kann, ohne sofort moralisch bewertet zu werden.
Krylovs Brief erinnert uns daran, dass die methodische Offenheit sowie die Bereitschaft, Daten sprechen zu lassen, auch wenn sie nicht ins gesellschaftliche Narrativ passen, das Fundament jeder ernstzunehmenden Wissenschaft und ihrer Kommunikation ist.
Fazit
Anna Krylovs Kritik ist unbequem, aber notwendig. Sie ruft dazu auf, die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Integrität und gesellschaftlicher Agenda klar zu halten. In der Sexualbiologie – wie in allen empirischen Disziplinen – darf der Maßstab wissenschaftlicher Wahrheit nicht durch politische Zielvorgaben ersetzt werden. Denn wer Forschung moralisch filtert, bevor sie überhaupt stattfinden kann, riskiert, dass Wissenschaft immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert.


